Alle biographischen Bücher über William Shakespeare haben mit einer großen Schwierigkeit zu kämpfen: Wir wissen so gut wie nichts über den Mann. Das ist für Menschen der Elizabethanischen Epoche durchaus nichts ungewöhnliches; auch über viele andere Autoren, Künstler, Wissenschaftler etc. der Zeit wissen wir vergleichsweise wenig. Da unsere Zeit aber dem Aberglauben an die Ausnahmepersönlichkeit huldigt, verlangt sie nach Biographien. Shakespeares Biographen helfen sich aus dieser Notlage normalerweise mit einem (oder mehreren) der folgenden Tricks heraus: Entweder sie spekulieren sich ein Leben Shakespeares einfach zusammen (bzw. sie schreiben die Spekulationen anderer ab) oder sie schreiben stattdessen über England, seine allgemeine Kultur oder spezieller über das Theaterwesen der Epoche. Oder sie schreiben die Biographie eines ganz anderen Menschen und behaupten, dieser habe Shakespeares Theaterstücke geschrieben.
James Shapiros Bestseller (dem er mit “1606” inzwischen auch noch ein weiteres Jahresbuch hat folgen lassen) geht grundsätzlich den zweiten Weg: Es konzentriert sich auf die historischen Ereignisse des Jahres 1599, das Shapiro als ein Wendejahr in der Entwicklung Shakespeares begreifen möchte. In diesem Jahr wurde das Globe-Theater errichtet, und Shapiro argumentiert dafür, dass Shakespeare in diesem Jahr einen wesentlichen Schritt in der Entwicklung zum Ausnahmeschriftsteller seiner Zeit getan habe. Shapiro betont außerdem, dass eine angemessene Rezeption Shakespeares ohne die Kenntnis der Kultur und Geschichte seiner Zeit nicht möglich ist, ein Grundsatz, der in dieser Allgemeinheit natürlich einerseits eine Banalität darstellt, dem andererseits aber bis heute in der Phrase von der Zeitlosigkeit Shakespeares eine weitere Banalität entgegensteht.
Der Leser sollte von Shapiros Buch nun nicht alle jene Einsichten in das Leben Shakespeares erwarten, die er aus anderen Biographen über den Schwan vom Avon nicht hat erhalten können. Shapiro erzählt die tagespolitischen und kulturellen Ereignisse des Jahres 1599 nach, soweit wir sie noch kennen: den Feldzug Essex’ gegen Irland und den Anfang vom Ende dieses Machtpolitikers, die gegenstandslose Armada-Hysterie des Jahres 1599, die Gründung der East India Company, den Tod und die Beisetzung Edmund Spensers, den Neubau des Globe, den Weggang des Clowns William Kemp von den Chamberlain’s Men und einige Kleinigkeiten mehr. Außerdem setzt er sich mit vier von Shakespeares Stücken auseinander, deren Entstehung wahrscheinlich in das Jahr 1599 fällt: „König Heinrich V.“, „Julius Cäsar“, „Wie es Euch gefällt“ und „Hamlet“. Shapiro gelingt dabei keine sehr enge Verbindung zwischen den geschilderten Ereignissen und den Theaterstücken. Einsichten wie die folgende sind das äußerste, was man erwarten darf:
Born into a world in which the old religion had been replaced by the new, and like everybody else, living in nervous anticipation of the imminent end of Elizabeth’s reign and the Tudor dynasty, Shakespeare’s sensitivity to moments of epochal change was both extraordinary and understandable. In Hamlet he perfectly captures such a moment, conveying what it means to live in the bewildering space between familiar past and murky future. [S. 279]
Es ließe sich hier nun zu Recht einwenden, dass beinahe jeder Schriftsteller zu jeder Zeit “in the bewildering space between familiar past and murky future” gelebt habe oder sich wenigstens einbilden durfte, das zu tun, dass aber kein anderer einen „Hamlet“ daraus zustande gebracht hat. Doch Shapiro würde sich gegen diesen Einwand kaum zur Wehr setzen. Es geht ihm überhaupt nicht darum, Shakespeare Stücke konsequent aus ihrer Zeit heraus zu entwickeln, sondern er glaubt nur, dass sich beliebte Missverständnisse vermeiden lassen, wenn man sie aus ihrer Zeit heraus zu verstehen versucht.
Hat man die im Großen und Ganzen eher lockere Parallelität zwischen Epochenerzählung und Interpretation der Stücke akzeptiert, ist Shapiros Buch eine anregende und sehr informative Lektüre. Es ist daher kein Wunder, dass das Buch auch nach mehr als 10 Jahren noch nicht auf Deutsch vorliegt.
James Shapiro: A Year in the Life of William Shakespeare: 1599. New York, London u.a.: HarperCollins, 62010. Broschur, 410 Seiten. Ca. 13,– €.