Iwan Turgenjew: Aufzeichnungen eines Jägers

Und wir gingen auf die Jagd.

Das russische Subgenre der Aufzeichnungen umfasst eine erhebliche Breite erzählerischer Formen, die im Wesentlichen nur dadurch miteinander verbunden sind, dass es sich um autobiographische oder wenigstens pseudo-autobiographische Texte handelt. Turgenews Aufzeichnungen eines Jägers umfassen 25 Erzählungen, die nahezu alle zuvor in Zeitschriften abgedruckt wurden und nur sehr locker über eine gemeinsame Erzählerfigur miteinander verbunden sind. Die Sammlung erschien erstmals 1852, wobei sie nur knapp der Zensur entging – Turgenew spekulierte zu Recht darauf, dass der damalige Moskauer Zensor seine Arbeit eher schlampig erledigte –, allerdings politisch so wirksam war, dass man Turgenew bei nächster publizistischer Gelegenheit in Haft nahm und später auf sein Gut in der Provinz verbannte. Die Aufzeichnungen machten ihren Autor jedenfalls auf einen Schlag berühmt.

Die nur nebenbei mitgeteilte Rahmenhandlung der Aufzeichnungen ist die eines Adeligen, der in der engeren und weiteren Umgebung seines Gutes auf die Vogeljagd geht. Zahlreiche Erzählungen liefern dabei Portraits wunderlicher Personen aus den unterschiedlichsten Schichten der russischen Gesellschaft: Ein verrückter Adeliger kommt ebenso vor wie ein moralischer Förster, eine jahrelang von einer Krankheit ans Bett gefesselte Bediente, arme Leibeigene ebenso wie wohlhabende, handfeste Bauern, ein korrupter und menschenschindender Verwalter ebenso wie sein eitler, selbstgefälliger Gutsherr. Allein die Fülle an vorgeführten Figuren ist erstaunlich; hinzu kommen abenteuerliche Anekdoten, romantische Naturschilderungen, ein Räsonnement über den Stoizismus der Russen angesichts des Todes, unglückliche Lie­bes­ge­schich­ten, die Schilderung bäuerlichen Elends – immer mit exakt so viel Distanz gezeichnet, dass sich die Kritik des Erzählers nur zeigt, aber nirgends ausdrücklich ausgesprochen wird – und was der Dinge mehr sind. All das kommt gänzlich frisch und originell daher und ist doch für den, der die europäische Erzähl-Tradition kennt, von einer beeindruckenden literarischen Breite und Tiefe. Formal findet sich alles, was gut und wichtig ist: Neben den schon genannten Figuren-Portraits und den im­pres­sio­nis­ti­schen Naturschilderungen findet man Satire, die moralische Novelle, echte Jagd-Anekdoten, eine Sammlung von Geistergeschichten, Parodien (so etwa auf die romantischen Meistersinger), reine Erinnerungsprosa und Stücke von echtem gesellschaftskritischem Pathos. Die Sammlung zeigt Turgenew als vollständig ausgebildeten, souveränen Erzähler, der nicht nur aufgrund seiner politischen Position, sondern auch wegen seiner literarischen Qualität seinen plötzlichen Ruhm voll und ganz verdient.

Es überrascht daher nicht, dass die Aufzeichnungen eines Jägers das am häufigsten übersetzte Buch Turgenews ist. Vera Bischitzky zählt in ihrem Nachwort allein zwölf Vorläufer-Übersetzungen, von denen mir immerhin drei vorliegen. Die von Hermann Wotte (Berlin u. Weimar: Aufbau, 1968) ist deutlich gealtert und besteht den Vergleich mit den beiden neuesten Übersetzungen von Peter Urban (Zürich: Manesse, 2004) und Vera Bischitzky (München: Hanser, 2018) nicht gut. Urban und Bischitzky stehen in lebendiger Konkurrenz und haben wohl beide ihre Verdienste.

Urban und Bischitzky lassen zahlreiche russische Wörter, für die sie keine ausreichend genaue Entsprechung im Deutschen zu finden meinen, transkribiert in der Ursprache stehen: Beide übersetzen zum Beispiel den Titel und die Anrede „Barin“ nicht mit Gutsherr oder Gnädiger Herr. Urban geht dabei deutlich weiter als Bischitzky: Den „Burmistr“ des Originals (offensichtlich ein korrumpierter deutscher Bürgermeister) lässt Urban stehen, wo ihn Bischitzky durch den Dorfschulzen ersetzt. Für Bischitzkys Himbeerquell bleibt bei Urban der russische Eigenname „Malinovaja voda“ erhalten. Zudem wählt Urban bei Eigennamen eine Transkription, die stärker der wissenschaftlichen angenähert ist als die eher traditionellen deutschen Lesegewohnheiten entgegenkommende Bischitzkys.

Was den Erzähltext insgesamt angeht, so finden beide originelle und überzeugende Lösungen:

Der dünne obere Rand des ausgestreckten Wölkchens glitzert von kleinen Schlangen; ihr Glanz gleicht dem Glanz von geschmiedetem Silber.

Urban, S. 138.

Der obere, zarte Saum der in Schlangenlinien gewundenen Wolke funkelt; ihr Glanz erinnert an gehämmertes Silber.

Bischitzky, S. 127

Er lebte im Sommer in einem Flechtkäfig, hinter dem Hühnerstall, im Winter im Vorraum der Badestube; bei strengem Frost übernachtete er auf dem Heuboden. Man war an seinen Anblick gewöhnt, gab ihm manchmal auch einen Fußtritt, aber niemand sprach mit ihm, und er selbst schien von Geburt an nie den Mund aufgemacht zu haben.

Urban, S. 50.

Den Sommer über hauste er in einem Verschlag hinter dem Hühnerstall und im Winter im Vorraum des Badehauses; war strenger Frost, übernachtete er auf dem Heuboden. Man hatte sich an seinen Anblick gewöhnt, manchmal bekam er einen Fußtritt, doch nie sprach jemand mit ihm, und auch er selbst hatte wohl noch nie im Leben den Mund aufgetan.

Bischitzky, S. 47.

Da sich der Erzähler im weiteren Verlauf mit der hier charakterisierten Figur lebhaft unterhält, ist in diesem Fall Urbans Formulierung wohl vorzuziehen.

Oft wählt Urban den kürzeren, lakonischeren, herberen Ausdruck, was im Gegenzug den Naturbeschreibungen bei Bischitzky durchaus zugutekommt. Allein auf der Basis der deutschen Texte kann kaum einer der beiden Übersetzungen der Vorzug eingeräumt werden; und einen Blick ins Original zu werfen, verhindert meine mangelnde Sprachkenntnis.

In welcher Übersetzung auch immer: Turgenews Erstling ist allemal eine Entdeckung oder Wiederentdeckung wert. Wer nur einmal hineinschauen möchte, um sich ein Bild zu machen, dem rate ich zur Lektüre von Bežin lug / Die Beshin-Wiese, einer impressionistisch beginnenden, leichthin Dante anspielenden Naturerzählung, die dann in eine Sammlung volkstümlicher Geistererzählungen übergeht, und dem schon erwähnten Der Burmistr / Der Dorfschulze, der aufzeigt, wie weit Turgenew in seiner Sozialkritik gerade noch gehen konnte, bzw. wo er bereits zu weit gegangen war.

Ivan Turgenew: Aufzeichnungen eines Jägers. Aus dem Russischen von Peter Urban. Zürich: Manesse, 2004. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 704 Seiten. 24,90 €.

Iwan Turgenjew: Aufzeichnungen eines Jägers. Aus dem Russischen von Vera Bischitzky. München: Hanser, 2018. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen, 640 Seiten. 38,– €.

Émile Zola: Doktor Pascal

Der Augenblick der heroischen Lüge war gekommen.

zola_rougonDer zwanzigste, abschließende Roman des Zyklus der Rougon-Macquart, der 1893, also 22 Jahre nach dem ersten Band »Das Glück der Familie Rougon« erschienen ist. Wie bereits früher erwähnt, hatte schon der zuvor erschienene Band »Der Zusammenbruch« einen ersten Abschluss geliefert, indem er das Ende des Zweiten Kaiserreichs thematisierte. In »Doktor Pascal« versucht Zola nun, den wissenschaftlichen Gehalt des Zyklus zu sichern: Der Titelheld hat einen Gutteil seines Lebens in Plassans damit zugebracht, die Geschichte der Familie Rougon-Macquart zu dokumentieren. Witzigerweise müssen ihm dabei die Romane Zolas als Hauptquelle gedient haben, denn der kursorische Überblick über den Bestand der Akten Doktor Pascals liefert nichts anderes als eine sehr reduzierte Nacherzählung der vorangegangenen Bücher.

Da sich aus dem wissenschaftlichen Gehalt allein kein Roman zimmern ließ, benutzte Zola eine recht triviale Liebesgeschichte als erzählerisches Rückgrat: In Doktor Pascals Haushalt lebt auch eine junge Nichte von ihm. Clotilde ist eine Tochter Saccards (»Die Beute«»Das Geld«), die ihrem Onkel bei seiner wissenschaftlichen Arbeit assistiert. Nach einer Glaubenskrise des Mädchens, die Zola Gelegenheit gibt, den Konflikt zwischen Wissenschaft und Christentum zu thematisieren, bekennt sie Pascal ihre Liebe, woraufhin die beiden eine Liebesaffäre beginnen. Natürlich kann die Geschichte nicht gut ausgehen: Clotilde wird von Pascal zu ihrem Bruder nach Paris geschickt, um diesen zu pflegen. Dort stellt sie fest, dass sie von Pascal schwanger ist, doch bevor sie nach Plassans zurückkehren kann, stirbt Pascal an einer Herzschwäche. Diese Liebesgeschichte ist vollkommen banal und vorhersehbar und neigt, besonders bei den Beschreibungen Clotildes, stark zum Kitsch. Zola ist hier zwar grundsätzlich eine parodistische Absicht zuzutrauen, aber ohne Kenntnis des Originals und der französischen Trivialliteratur des späten 19. Jahrhundert lässt sich nicht entscheiden, ob hier Absicht oder einfach schlechter Geschmack vorliegt.

Außer dieser enttäuschenden Hauptfabel kann auch der wissenschaftliche Gehalt nur als mäßig überzeugend bezeichnet werden. Natürlich gelingt es Zola nicht, eine strenge Ableitung aller Hauptcharaktere des Zyklus aus den ursprünglichen Erbanlagen der Familie (Neigung zum Wahnsinn und zur Trunksucht) zu zeigen, sondern alles bleibt nur eine Illustration seiner Überzeugung, dass es eine solche starke Theorie der Vererbung in Zukunft einmal geben werde.

Alles in allem ein schwacher Abschluss des sozial-biologischen Strangs des Zyklus, der im ideologischen Glaubensbekenntnis zur Überlegenheit der wissenschaftlichen Methode und zur Macht alles Lebendigen stecken bleibt. Für uns nachgeborene Leser sind die historischen, gesellschafts- und sozialkritischen Aspekte des Zyklus sicherlich die wichtigeren; wirklich grandios sind natürlich auch die satirischen, antibürgerlichen Passagen, die bis heute kaum etwas von ihrer Schärfe eingebüßt haben.

Ich werde bei Gelegenheit hier noch eine Übersichtsseite erstellen, auf der man sich einen raschen Überblick über den gesamten Romanzyklus wird verschaffen können.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Émile Zola: Germinal

Aber heutzutage erwache der Bergmann in seiner Grube. Es keimte dort unter der Erde wie eine Saat, und eines Tages werde man sehen, wie sie auf dem Felde aufgehe.

zola_rougonMit der  Lektüre von »Germinal« im Jahr 2007 (für eine Übersicht über die Handlung bitte diesem Link folgen) hatte mein Interesse an der Rougon-Macquart begonnen, weshalb ich etwas gezögert habe, ob ich ihn in meinem Durchgang durch den gesamten Zyklus das Buch noch einmal lesen sollte (auch weil der Roman mit etwa 600 Seiten einer der umfangreichsten des Zyklus ist) oder gleich zum 14. Band, »Das Werk«, übergehen sollte. Als eine Art Kompromiss habe ich mich dann entschieden, mir die Verfilmung von Claude Bern aus dem Jahr 1993 anzuschauen, die ich noch nicht kannte. Dann hat mir der Film aber so viel Lust auf das Buch gemacht, dass ich es gleich im Anschluss noch einmal gelesen habe. Und es hat dieser zweiten Lektüre nach nur knapp fünf Jahren sehr gut standgehalten.

»Germinal« schließt in zweifacher Hinsicht an den siebten Band »Der Totschläger« an: Zum einen ist es der zweite Roman des Zyklus, der im Arbeiter-Milieu des Zweiten Kaiserreichs spielt, zum anderen ist der Protagonist Etienne Lantier einer der Söhne der Wäscherin Gervaise Macquart, deren Geschichte »Der Totschläger« erzählt. Die Handlung spielt Mitte der 1860er Jahre im nordfranzösischen Kohlegebiet und umfasst gut ein Jahr. Der ungefähr 23-jährige Etienne, ein arbeitsloser Maschinist auf Wanderschaft, trifft zu Beginn der Erzählung in Montsou ein und bekommt durch einen Zufall Arbeit in der Mine Le Voreux. Wie bereits anlässlich der Erstlektüre gesagt, besteht der Hauptteil der Erzählung aus der Darstellung eines Streiks, der sich über Monate hinzieht und nicht nur zu massiver Verelendung der Streikenden, sondern auch zu erheblichen gewalttätigen Auseinandersetzungen führt.

Zola thematisiert in diesem Roman erstmals explizit die schweren sozialen Verwerfungen, die die Industrialisierung hervorgebracht hat, und er lässt keinen Zweifel an seiner Überzeugung, dass der Konflikt zwischen den ausgebeuteten und hungernden Massen und der dem Elend dieser Menschen mit Unverständnis gegenüberstehenden Bourgeoisie eine Umwälzung der bestehenden Gesellschaftsordnung zwangsläufig hervorbringen wird. In diesem Sinne ist auch der Titel zu verstehen: Germinal bezeichnete den Keim-Monat im französischen Revolutionskalender, in dem die Saat für die zukünftige Ernte ausgebracht wurde.

»Germinal« erweitert auch einmal mehr die stofflichen Grenzen des Naturalismus: Sowohl in der Beschreibung der unmenschlichen Arbeitsbedingungen und des sozialen Elends der Bergarbeiter als auch in der unverblümten Darstellung der Sexualität geht Zola weiter als je zuvor. Das Buch stellt einmal mehr den ungewöhnlichen künstlerischen Mut und das höchste schriftstellerische Vermögen Zolas unter Beweis. Ein weiteres Meisterwerk!

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk.

Émile Zola: Der Bauch von Paris

zola_rougonDer dritte Roman des Zyklus, offensichtlich als direktes Pendant zu Die Beute entworfen. Im Fokus steht mit Florent ein angeheirateter Verwandter der Familie Rougon-Macquart; sein Halb-Bruder Quenu hat Lisa Macquart, eine Kusine Aristide Rougon-Saccards geheiratet, mit der zusammen er eine Metzgerei an den Pariser Markthallen betreibt. Florent ist Ende 1852 während der Unruhen in Paris verhaftet und auf die Teufelsinsel verbannt worden. Ihm gelingt es aber, von dort zu fliehen und nach Frankreich zurückzukehren. Mit seiner Rückkehr nach Paris setzt die Handlung ein.

Florent findet seinen Bruder rasch wieder und zieht bei ihm und seiner Schwägerin ein. Das ihm von Lisa angebotene Erbteil schlägt er vorerst aus und nimmt nach einigen Wochen auf Drängen Lisas die stelle eines Aufsehers in der Fischhalle an. Mit der Zeit kommt er in Kontakt mit einer Gruppe von Stammtisch-Revolutionären, was letzten Endes dazu führt, dass er erneut verhaftet und deportiert wird. Lisa sorgt damit, dass sie ihren Schwager bei der Polizei anzeigt, dafür, dass sie und ihr Mann unbeschadet aus der Affäre hervorgehen.

Wie oben bereits gesagt, wird hier das kleinbürgerliche Gegenstück zur großbürgerlichen Welt der Saccards geliefert. Die nahezu gänzlich auf das Gebiet der Markthallen konzentrierte Handlung präsentiert eine Welt aus kleinlichem Neid und verleumderischem Tratsch. Parallel dazu zeichnet Zola ein enzyklopädisches Porträt der Markthallen und ihres Angebots an Nahrungsmitteln: Gemüse, Obst, Fleisch, Fisch und Käse werden in erstaunlicher Breite vorgeführt; zahlreiche Nebengestalten erzeugen die Atmosphäre einer Kleinstadt in der Stadt. Die zugehörige impressionistisch-realistische Theorie wird durch die Gestalt des Malers Claude Lantier eingebracht, der Florent und den Leser in die visuelle Welt der Markthallen einführt.

Bei Zola kommt – im Gegensatz etwa zu den Tendenzen bei Fontane – das Kleinbürgertum durchaus nicht besser weg als das geldgierige Großbürgertum: Auch hier gibt es im Wesentlichen zwei Grundtypen: manipulative Intriganten und naive Opfer; hier und da existieren einzelne Ausnahmen, die aber den gesellschaftlichen Grundton nicht mitprägen, sondern als Außenseiter charakterisiert werden. Sowohl Lisa als auch ihrer Feindin Normande geht es am Ende nur um die egoistische Sicherung ihrer geschäftlichen Existenz, ganz gleich unter welcher Regierung oder in welchem politischen System. Der Slogan, Ruhe sei erste Bürgerpflicht, gilt für sie ebenso wie für ihre preußischen Klassengenossen. Die juristische Ungerechtigkeit und politische Unfreiheit, die das Schicksal Florents repräsentiert, interessieren sie nur, insoweit es ihre Geschäfte zu stören droht. Sowohl verwandtschaftliche Beziehung als auch die Liebe werden diesen privatökonomischen Interessen untergeordnet. Daher kann das den Roman beschließende Resümee Lantiers durchaus als Urteil Zolas gelesen werden:

»Was für Schurken, diese ehrbaren Leute!«

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Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Émile Zola: Die Beute

zola_rougonDer zweite Band der Rougon-Macquart erzählt vom gesellschaftlichen Aufstieg Aristide Rougons, der in Das Glück der Familie Rougon nur eine Nebenrolle gespielt hatte. Dort war er als leidenschaftlicher Republikaner und Sohn von Félicité und Pierre Rougon am Ende als einer der Verlierer des Umsturzes erschienen, als jemand, der nicht rechtzeitig die Fahne nach dem Wind gehängt hatte. In Die Beute finden wir ihn unter dem angenommenen Namen Saccard in Paris wieder. Er ist mit seiner ersten Frau dorthin geeilt, weil er sich von seinem Bruder Eugène Unterstützung und Protektion erhofft, der beim Staatsstreich eine entscheidende Rolle gespielt und es bis zum Minister gebracht hat. Eugène bleibt allerdings vorerst distanziert und verschafft seinem Bruder nur eine kleine Anstellung im Bauamt von Paris, die sich aber als Sprungbrett für Aristides ambitioniertes Streben nach Reichtum und Einfluss erweist.

Da seine erste Frau gerade zur rechten Zeit stirbt, gelingt es Aristide durch eine einträgliche Neuheirat das Startkapital für eine Reihe schwindelerregender Spekulationen zu erhalten: Durch ebenso riskante wie illegale Immobiliengeschäfte im Zusammenhang mit dem großangelegten Umbau von Paris unter Napoleon III. erwirtschaftet sich Aristide ein Vermögen. Seine junge Frau Renée schwelgt derweil im Wohlleben und beginnt eines Tages eine Affäre mit Maxime, dem Sohn Aristides aus dessen erster Ehe. Dieses leidenschaftliche Verhältnis führt beinahe, aber eben auch nur beinahe zu einer häuslichen Tragödie. Zola verweigert am Ende selbst der unglücklichen Renée jegliche Tragik: Der letzte Satz des Romans nennt die Höhe der von ihr hinterlassenen Schneiderrechnung.

Der Roman ist gleich zweifach eine Dokumentation der gesellschaftlichen Dekadenz des Zweiten Kaiserreichs: Zum einen demonstriert es in der Karriere Aristides die schamlose Bereicherung der Bauspekulanten am Staatsvermögen, zum anderen führt es den sittlichen Verfall und die innerliche Leere des Großbürgertums vor. Dabei gelingt Zola bei der Beschreibung des Verhältnisses von Renée und Maxime ein beeindruckendes Bild vom sinnlichen Reiz, den diese inzestuöse Beziehung auf Renée ausübt. Der Freibeuter-Stimmung der Spekulanten stellt Zola so die sinnliche Atmosphäre eines Tropen-Treibhauses an die Seite und erschafft auf diese Weise ein erstaunlich einprägsames Bild der Pariser Gesellschaft zwischen 1855 und 1860.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Émile Zola: Das Glück der Familie Rougon

zola_rougon Beginn eines Langzeit-Projekts: Nach der begeisternden Lektüre von Germinal hatte ich mir vorgenommen, den gesamten Zyklus der Rougon-Macquart zu lesen. Leider ist derzeit keine geschlossene Ausgabe des Zyklus im Druck; allerdings ist die Ausgabe des Verlages Rütten & Loening, die zwischen 1952 und 1976 in der DDR gedruckt worden ist und die auch in der BRD mehrere Nachdrucke erfahren hat, im Jahr 2005 als digitale Ausgabe innerhalb der Digitalen Bibliothek erschienen. Diese Ausgabe kann auch heute noch für sage und schreibe 10,– €  erworben werden. Nach der jüngsten Anschaffung eines eBook-Readers wird diese digitale Ausgabe nun peu à peu gelesen werden.

Der Zyklus beginnt mit Das Glück der Familie Rougon, dessen Handlung in der Hauptsache im Jahr 1851 spielt, in dem der französische Staatspräsident Louis Napoleon durch einen Staatsstreich den Weg zum Zweiten Kaiserreich ebnet, das genau in dem Jahr enden sollte, in dem Zola diesen ersten Band seines Zyklus herausgeben wird. In seinem Zentrum steht die Familie Pierre Rougons, der als Sohn aus der Ehe zwischen Adélaïde Fouque und einem Gärtner hervorgeht. Nach dem frühen Tod des Gärtners wählt Adélaïde den Schmuggler Macquart zu ihrem Geliebten, mit dem sie zwei Kinder hat: Antoine und Ursule.

Der heranwachsende Pierre betrügt seine beiden Halbgeschwister um ihren Anteil am Erbe der Mutter, noch bevor diese gestorben ist, und verschafft sich durch das Geld eine Chance zum sozialen Aufstieg: Er heiratet die Tochter eines Kaufmanns, ist aber nur eher schlecht als recht in der Lage, das ererbte Geschäft über Wasser zu halten. Daher versucht er, seine Stellung auf politischem Wege zu verbessern. Die große Chance bietet sich ihm während der Unruhen, die durch den Staatsstreich Louis Napoleons ausgelöst werden, in denen es dem intriganten und im Grunde feigen Pierre schließlich gelingt, sich als Retter seiner Heimatstadt zu inszenieren.

Der Roman ist für den heutigen  Geschmack sicherlich in einigen Passagen zu langatmig, zeigt in seinen Kernpassagen aber schon die erzählerische Präzision und boshafte Beobachtungsgabe, die Germinal zu einem Meisterstück machen werden.

Übersichtsseite zur Rougon-Macquart

Émile Zola: Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich. Hg. v. Rita Schober. Berlin: Rütten & Loening, 1952–1976. Digitale Bibliothek Bd. 128. Berlin: Directmedia Publ. GmbH, 2005. 1 CD-ROM. Systemvoraussetzungen: PC ab 486; 64 MB RAM; Grafikkarte ab 640×480 Pixel, 256 Farben; CD-ROM-Laufwerk; MS Windows (98, ME, NT, 2000, XP oder Vista) oder MAC ab MacOS 10.3; 256 MB RAM; CD-ROM-Laufwerk. 10,– €.

Charles Dickens: Harte Zeiten

dickens_harte_zeiten Harte Zeiten ist 1854 im Anschluss an Bleakhaus entstanden. Erzählt wird hauptsächlich die Geschichte des Geschwisterpaares Louisa und Tom Gradgrind, die von ihrem Vater nach einem streng rationalen Programm erzogen werden: Fantasie, Märchen, überhaupt Gefühle aller Art sind verpönt, stattdessen werden die Wissenschaften, insbesondere aber Mathematik – genauer: die Statistik – und Logik hoch gehalten. Die Kinder geraten dementsprechend: Louisa heiratet den Bankier und Webereidirektor Josiah Bounderby, der ihr gänzlich gleichgültig ist, weil sie hofft, damit ihrem Bruder Tom das Leben erleichtern zu können, der in Bounderbys Bank als Angestellter beschäftigt ist. Tom verfällt aber, sobald er dem väterlichen Regime entflohen ist, nahezu sofort der Spielleidenschaft und häuft rasch drückende Schulden an.

In dieser Situation kommt der weltgewandte, aber tief gelangweilte Dandy James Harthouse nach Coketown, einer kleinen, fiktiven Industriestadt, in der der Roman spielt, um sich um einen Parlamentssitz in der Gegend zu bewerben. Er wird als Parteifreund auch im Hause Bounderbys empfangen und entschließt sich gleich bei ihrer ersten Begegnung, Louisa zu verführen. Um ihr Vertrauen zu gewinnen, kümmert er sich um den haltlosen Tom, der gerade zu dieser Zeit einen Einbruch in die Bank vortäuscht, um seine eigene Veruntreuung zu vertuschen. Harthouse nimmt sich Toms als vorgeblicher Freund an, um sich das Vertrauen Louisas zu erwerben, die sich schließlich vor seinen Verführungskünsten, denen sie ebenso wenig entgegenzusetzen hat wie ihren eigenen Gefühlen für diesen Mann, verzweifelt ins elterliche Heim flüchtet. Am Ende scheitern beide Geschwister: Tom muss ins Ausland fliehen, wo er im Elend stirbt, und Louisa wird von ihrem scheinheiligen und angeberischen Ehemann verstoßen und geschieden.

Als Nebenstrang dient die Geschichte Stephen Blackpools, eines Coketowner Arbeiters, der vom Schicksal arg gebeutelt wird: Seine Frau ist Alkoholikerin, die Frau, die er liebt, Rachael, ist genau wie er selbst zu moralisch, um eine außereheliche Beziehung zu beginnen, er ist ein Außenseiter unter den Arbeitern, da er nicht bereit ist, sich ihrem Arbeitskampf anzuschließen und schließlich wird er von seinem Chef Bounderby auch noch entlassen, weil der Blackpools Einstellung nicht versteht. So verlässt Blackpool die Stadt, nicht ohne dass Tom zuvor durch einen kleinen Trick den Verdacht auf ihn lenkt, für den Bankraub verantwortlich zu sein. In dieser Nebenhandlung kommen nicht nur die nicht nur für Dickens typischen aufrechten, hoch moralischen und bitter armen Idealtypen vor, sondern sie wird von ihm auch dazu benutzt, ein erschreckendes Bild von der Industriearbeit seiner Zeit zu zeichnen. Ergänzt wird dieses Bild durch die Figur Slackbridge, der als gewerkschaftlicher Redner und Arbeiterführer an zwei Stellen zu Wort kommt. Dickens ist für die Figur Slackbridges zu Recht scharf kritisiert worden, da er mit seinen letztlich naiven Gutmenschen Blackpool und Rachael die soziale und gesellschaftliche Problematik seiner Zeit eindeutig unterläuft.

Besonders der erste Teil des Romans lebt von Dickens scharfer und witziger Satire gegen den Glauben an eine reine Rationalität, wie sie im Utilitarismus Jeremy Benthams oder John Stuart Mills zum Ausdruck kommt. Sicherlich spitzt Dickens Musterfamilie Gradgrind die Thesen der Utilitaristen polemisch zu, aber der Kritik, die aus den von Dickens aufgezeigten Konsequenzen einer seelen- und mitleidslosen Rationalität folgt, kann sich der Utilitarismus nur schlecht entziehen. Es ist schlicht falsch, zwischenmenschliche Beziehungen auf ein statistisches Rechenexempel reduzieren zu wollen, und wer dergleichen versucht, missversteht wesentlich, worum es im menschlichen Miteinander geht.

Insgesamt sicherlich nicht der gelungenste Roman von Dickens, aber gerade aufgrund seines polemischen Gehalts unterhaltsam und lesenswert. Die Übersetzung von Christiane Hoeppener ist recht korrekt – wenn es auch einzelne Unsicherheiten bei den verwendeten Anreden gibt –, macht aber insgesamt einen eher steifen Eindruck.

Charles Dickens: Harte Zeiten. Aus dem Englischen von Christiane Hoeppener. Rowohlt Jahrhundert, Bd. 10. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1987. 382 Seiten. – Diese Übersetzung ist derzeit nur antiquarisch lieferbar.

Lieferbare Alternativ-Ausgabe: Charles Dickens: Harte Zeiten. Aus dem Englischen von Paul Heichen. Insel Taschenbuch 955. Frankfurt/M.: Insel Taschenbuch Verlag, 1986 ff. 433 Seiten mit Illustrationen v. F. Walker u. Maurice Greiffenhagen. 11,50 €.

Émile Zola: Germinal

germinalNachdem ich bislang von Zola nur »Nana« kannte, war ich schon von den ersten Seiten dieses umfangreichen Romans zugleich überrascht und fasziniert. Hatte »Nana« in weiten Teilen den Eindruck auf mich gemacht, hier versuche einer wie Flaubert zu schreiben, reiche aber nicht ganz an das Vorbild heran, besticht »Germinal« von Anfang an mit einem sehr eigenen, präzisen Blick auf soziale und technischen Voraussetzungen des Erzählten. Zolas Schilderungen der Lebens- und Arbeitsverhältnisse in einem nordfranzösischen Kohlerevier in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts entspringt offensichtlich einer genauen Kenntniss und sorgfältigen Beobachtung vor Ort. Ich hatte eine solche Exaktheit der Beschreibungen und der evozierten Bilder nicht erwartet.

Erzählt wird die Geschichte Etienne Lantiers und der Familie Maheu. Über die Figur Etiennes stellt Zola die recht lockere Verbindung dieses Romans mit dem Zyklus der Rougon-Macquart her: Etienne ist Sohn von Gervaise Macquart und Auguste Lantier und erbt – nach Zolas Vererbungstheorie sozialer Charaktere – die durch den Alkoholismus seiner Eltern verursachte Neigung zur Gewalttätigkeit, die besonders in der zweiten Hälfte des Buches eine Rolle spielt. Etienne ist gelernter Maschinist, und ihn verschlägt es auf der Suche nach Arbeit in eine Bergwerksgegend, wo er durch einen Zufall im Bergwerk Le Voreux angeheuert wird. Er kommt zur Gruppe, in der auch Vater Maheu mit seiner Tochter Catherine arbeiten. Catherine und Etienne sind sich von Anfang an sympathisch und ihre nicht ausgelebte Beziehung ist einer der wesentlichen Spannungsbögen des Romans.

Die Familie Maheu, die in weiten Teilen des Buches im Zentrum des Interesses steht, besteht aus den beiden Eltern, sieben Kindern – von denen die Ältesten natürlich auch im Bergwerk arbeiten – und dem Großvater. Die Familie lebt am Rande des Existenzminimums, geplagt von Geldsorgen, gedrückt von Schulden, mit ihrer kärglichen Versorgung kaum dem Hunger trotzend. Zola benutzt das erste Drittel des Romans zu einer sorgfältigen und detaillierten Schilderungen der sozialen Verhältnisse im »Dorf der 240«, das schon über diesen Namen als reine Funktionssiedlung gekennzeichnet ist, von der Bergwerksgesellschaft aus dem Boden gestampft, um die für ihr Geschäft notwendigen Arbeiter irgendwo unterbringen zu können. Er erspart seinen wohl zumeist gutbürgerlichen Leserinnen weder eine ausführliche Beschreibung des alltäglichen Elends noch die Vorführung des Gegensatzes zu den Haushalten der Bergwerksbesitzer und -verwalter, weder die gesundheits- und lebensgefährdende Arbeitsbedingungen noch die soziale und sittliche Verrohung der Arbeiter, die er klar als Folge der herrschenden Armut und Perspektivlosigkeit herausstellt. Einige seiner Beschreibung düften noch heute für »empfindsame Seelen« an die Grenze des Zumutbaren gehen; wieviel heftiger müssen sie auf Leserinnen gewirkt haben, die die bigotte Doppelmoral des ausgehenden 19. Jahrhunderts verinnerlicht hatten.

Der Hauptstrang der Fabel erzählt von einem Streik der Arbeiter des Bergwerks Le Voreux. Anlass des Streiks ist die Einführung eines neuen Lohnabrechnungssystems, mit dem die Gesellschaft des Bergwerks eine nochmalige Reduktion der Entlohnung durchsetzen will. Etienne, der schon zuvor Kontakt zu Sozialisten hatte, wird rasch zu einem Wortführer für den Streik. Zwar verfügen die Arbeiter über eine kleine Streikkasse, die aber nur für wenige Tage die Versorgung sicheren kann. Danach verschärft die Arbeitsniederlegung das sowieso schon vorhandene Elend kontinuierlich weiter. Obwohl auch die Bergwerksgesellschaft wirtschaftlich durch den Streik heftige Einbußen zu verzeichnen hat, weigert sie sich prinzipiell, den offenbar gerechten Forderungen der Arbeiter nachzugeben.

Nach Wochen spitzt sich die Lage soweit zu, dass die streikenden Arbeiter auch die Kollegen der benachbarten Bergwerke zwingen wollen, in den Streik einzutreten. Dabei verursachen sie in diversen Minen umfangreiche Zerstörungen, die die Minenbesitzer veranlassen, ihren Besitz durch das Militär schützen zu lassen. Nach einer weiteren Phase der Ruhe kommt es zu der unvermeidlichen Konfrontation zwischen den immer verzweifelteren Arbeitern und den Soldaten, an deren Ende zahlreiche Tote und Verletzte zu beklagen sind. Zwar sind nach dieser katastrophalen Wendung beide Seiten nur allzu bereit, den Streik zu beenden, und für den Augenblick sieht es danach aus, als hätte die Bergwerksgesellschaft sich einmal mehr durchsetzen können. Aber Zola ist damit noch nicht am Ende seiner Erzählung angekommen, die noch eine weitere dramatische Wendung nehmen muss …

Ohne Frage handelt es sich bei »Germinal« um eines der Meisterwerke der Romantradition des 19. Jahrhunderts. Zola erobert dem Roman hier quasi im Handstreich ein gänzlich neues Gebiet und führt zugleich mustergültig dessen Behandlung vor: Arbeits- und Lebenswelt der (Industrie-)Arbeiter, die drängenden sozialen Fragen, die sich aus deren Lebensbedingungen ergeben, die Macht des Kapitals und die Ohnmacht der Armut, die zugrunde liegende Menschenverachtung, die leichthin und wie nebenbei von den Besitzenden geduldet wird, und deren Folgen für sie gänzlich überraschend und unverständlich sind. Wie nebenbei wird die Rolle der sozialistischen Berufsagitatoren beleuchtet, ebenso die der christlichen Moral und Kirche in diesem Spiel der sozialen Kräfte.

Mir bleibt nur, den Rat Lichtenbergs einmal mehr zu zitieren: »Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an.«

Émile Zola: Germinal. Unter der Verwendung der Übersetzung von Armin Schwarz mit einem Nachwort herausgegeben von Wolfgang Koeppen. Reclam UB 4928. 622 Seiten. 10,80 €.

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P. S.: Siehe auch Miniaturen (1) in diesem Blog.