Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus

Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)
Er muß diese Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.

Der Tractatus, um praktischerweise die gebräuchliche Abkürzung des Titels zu benutzen, gilt als eines der schwierigsten philosophischen Bücher des 20. Jahrhunderts. Nun gilt für philosophische Bücher ohnehin die Regel, dass es keine einfachen gibt: Sind sie einfach, sind sie nicht philosophisch. In zahlreichen Fällen besteht der Hauptgrund dieser Schwierigkeit in der Tatsache, dass man philosophische Bücher erst dann zu verstehen beginnt, wenn man bereits weiß, was in ihnen steht, was ein offenbares und nicht einfach zu umgehendes Hindernis darstellt. Das ist mit der Grund, warum die allermeisten an Philosophie Interessierten das Fach nicht aus den Quellen schöpft, sondern sich von mehr oder minder Berufenen eine Nacherzählung liefern lässt, die sie dann für den Gang der Gedanken selbst halten. Ein Großteil der populären philosophischen Vorurteile stammt daher.

Beim Tractatus kommt sicherlich eine weitere Schwierigkeit hinzu: Um einen umfangreichen Teil des Buches zu verstehen, muss man mit formaler Logik vertraut sein; hinzu kommen jene Passagen, in denen sich Wittgenstein mit dem logischen System Gottlob Freges oder  mathematischen Ansätzen Bertrand Russells auseinandersetzt, die weitere, sehr spezielle Kenntnisse voraussetzen. Sollte sich der unvorbereitete Leser tatsächlich durch den ontologischen ersten Teil des Buches hindurchgearbeitet haben, so gibt er in der Regel spätestens beim Erreichen des Abschnittes über die Formalisierung der Gedanken auf und sucht Hilfe in der Sekundärliteratur.

Meine erste Begegnung mit Wittgenstein geschah relativ früh in meinem Studium, Mitte der 1980er Jahre. Ich habe damals in zwei Semestern die beiden Hauptwerke Wittgensteins durchgearbeitet, wahrscheinlich nicht unter der besten Anleitung, die man sich wünschen kann, aber immerhin. Natürlich war auch ich bei der damaligen Lektüre des Tractatus in der Hauptsache damit beschäftigt, überhaupt zuerst einmal zu verstehen, worum es im Buch geht. Die Lektüre im Rahmen eines Seminars hatte selbstverständlich den Vorteil, dass einem der historische und ideologische Rahmen, in dem die Gedanken zu diesem Buch entstanden sind, vermittelt wurde und man so wenigstens schon einmal eine konkretere Vorstellung davon bekam, mit welcher Fragestellung sich Wittgenstein beschäftigte.

Ich habe nun den Tractatus nach etwas mehr als 30 Jahren zusammen mit einem jungen Studenten der Philosophie noch einmal Satz für Satz gelesen. Diese detaillierte analysierende Lektüre hat einen merkwürdigen Eindruck hinterlassen. Zum einen erscheint das Buch aus heutiger Sicht überraschend redundant, was angesichts seines geringen Umfangs noch seltsamer erscheint. Selbst wenn sich der Leser klar macht, dass ein bedeutender Teil der Ausführungen etwa zur formalen Logik gänzlich neu und grundlegend war, irritieren die wirklich zahlreichen Wiederholungen des bereits einmal Gesagten, die ein immer erneutes Ansetzen des Gedankens markieren. Dies erzeugt eine nicht unerhebliche Spannung zu dem durch das System der Nummerierung der Sätze erzeugten Eindruck, der Text präsentiere einen durchkonstruierten und glatten Gedankengang. 

Zum anderen ist Wittgensteins Tractatus von einer erstaunlichen philosophischen Naivität: Hat man einmal die Parallelkonstruktion von Ontologie und Sprachfiktion und die Grundlegung dieser Sprachfiktion in der formalen Logik verstanden, fragt man sich unwillkürlich, wie jemand dies tatsächlich für eine Lösung aller philosophischen Fragen halten konnte. Selbstverständlich stand Wittgenstein damals unter dem Einfluss des philosophischen Analphabeten Russell, aber die anscheinend vollständig naive Übernahme der These, man müsse philosophisches Reden nur formal unterbinden, um mit 2.500 Jahren Philosophiegeschichte abzurechnen, überrascht denn doch. Offensichtlich ist sich Wittgenstein bewusst, dass er den Grund, aus dem heraus sich philosophisches Fragen immer wieder erneuert, nicht beseitigen oder unfruchtbar machen kann; seine Idealsprache kann nur das Reden darüber verhindern.

6.52 Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.

Aber auf welche Weise sollte die Menschheit zu der Überzeugung gelangen, dass dies ein Vorteil sei und deshalb die natürliche Sprache durch das System der Idealsprache ersetzt werden sollte. Hier zeigt sich, wie entfernt Wittgenstein zumindest zu diesem Zeitpunkt davon war, zu verstehen, warum Menschen seit jeher und zu jeder Zeit Philosophie betrieben haben. Das Erstaunen vor dem Selbstverständlichen war ihm nicht fremd, das über die Jahrhunderte hinweg geführte Gespräch darüber offenbar schon. 

Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Bibliothek Suhrkamp 1322. Berlin: Suhrkamp, 72014. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 139 Seiten. 13,95 €

Harry G. Frankfurt: Bullshit

103220188_f96c1d10b9Eine sprachphilosophische Annäherung an den Begriff Bullshit, der – wie einige andere sprachliche Details – zum Glück unübersetzt bleibt. Nur der Titel ist etwas irreführend gewählt; das englische »On Bullshit« trifft den Inhalt des Büchleins genauer. Methodisch steht die Untersuchung Wittgensteins Spätphilosophie nahe, was sich aber in keiner Weise negativ auf die Verständlichkeit des Textes auswirkt. Insgesamt bestätigt der kurze Text wieder einmal das Vorurteil, dass der angelsächsischen Philosophie oft eine Leichtigkeit der Darstellung eigen ist, die in der deutschen Tradition nur selten erreicht wird. Der Autor nimmt weder sich, noch seinen Essay, noch sein Thema übermäßig ernst. Er schließt sich bewußt an eine Vorläuferuntersuchung an: Max Black: »The Prevalence of Humbug« (Ithaca, 1985). Frankfurts sprachphilosophische Reflexionen münden schließlich in einigen einfachen, aber treffenden Überlegungen zu Wahrheit und Lüge und inwieweit der Bullshitter in einem ambivalenten Verhältnis zu beiden steht. Von hier aus ließe sich die Untersuchung leicht in das Gebiet der klassischen Rhetorik und Philosophie verlängern, vielleicht beginnend mit Platons »Gorgias«.

Am schönsten an der deutschen Ausgabe ist die Bauchbinde, mit der der Suhrkamp Verlag das Buch ausliefert:

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Dies Zitat ist wahrscheinlich als praktische Übung für die Leser gedacht, denn nachdem man das Buch gelesen hat, weiß man mit einiger Sicherheit, was man schon geahnt hat: Bei diesem Satz handelt es sich um einen klassischen Fall von Bullshit, um so mehr wenn er als Werbeslogan gerade auf diesem Buch daherkommt.

Frankfurt, Harry G.: Bullshit. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff.
Suhrkamp, 2006. ISBN 3-518-58450-2
Leinen, gelumbeckt – 73 Seiten – 8,00 Eur[D]