Allen Lesern ins Stammbuch (135)

Trotz aller neuen Theorien bin ich überzeugt: Der Sinn des menschlichen Lebens liegt in der wissenschaftlichen Erkenntnis. Und es schmerzt mich zu sehen, dass sich heute Milliarden von Menschen von der Wissenschaft distanzieren und ihre Berufung in einem sentimentalen Umgang mit der Natur sehen, den sie als ›Kunst‹ bezeichnen. Dass sie sich damit begnügen, über die Oberfläche der Erscheinungen zu gleiten, was sie ›ästhetische Wahrnehmung‹ nennen … Während die Wissenschaft mit knappen materiellen Ressourcen zu kämpfen hat, malen Milliarden von Menschen Bilder, reimen Wörter – erzeugen also nichts weiter als Eindrücke. Dabei gibt es unter ihnen viele, die sich als hervorragende Arbeiter eignen würden. Menschen voller Tatendrang, geistreich und unglaublich fleißig.

Arkadi und Boris Strugatzki
Der ferne Regenbogen

Allen Lesern ins Stammbuch (134)

Seine Hauptleidenschaft war – Lesen! – Er ging nie aus, ohne beide Rocktaschen voll Bücher gestopft zu haben. Er las wo er ging und stand, auf dem Spaziergange, in der Kirche, in dem Kaffeehause, er las ohne Auswahl alles was ihm vorkam, wiewohl nur aus der ältern Zeit, da ihm das Neue verhaßt war. So studierte er heute auf dem Kaffeehause ein algebraisches Buch, morgen das Kavellerie-Reglement Friedrich Wilhelms des Ersten, und dann das merkwürdige Buch: Cicero, als großer Windbeutel und Rabulist dargestellt in zehn Reden, aus dem Jahre 1720. Dabei war Tusmann mit einem ungeheuren Gedächtnisvermögen begabt. Er pflegte alles, was ihm bei dem Lesen eines Buches auffiel, zu zeichnen und dann das Gezeichnete wieder zu durchlaufen, welches er nun nie wieder vergaß. Daher kam es, daß Tusmann ein Polyhistor, ein lebendiges Konversations-Lexikon wurde, das man aufschlug, wenn es auf irgendeine historische oder wissenschaftliche Notiz ankam. Traf es sich ja etwa einmal, daß er eine solche Notiz nicht auf der Stelle zu geben vermochte, so stöberte er so lange unermüdet in allen Bibliotheken umher, bis er das, was man zu wissen verlangte, aufgefunden, und rückte dann mit der verlangten Auskunft ganz fröhlich heran. Merkwürdig war es, daß er in Gesellschaft, lesend und scheinbar ganz in sein Buch vertieft, doch alles vernahm was man sprach. Oft fuhr er mit einer Bemerkung dazwischen, die ganz an ihrem Orte stand, und wurde irgend etwas witziges, humoristisches vorgebracht, gab er, ohne von dem Buche aufzublicken, durch eine kurze Lache im höchsten Tenor seinen Beifall zu erkennen.

E. T. A. Hoffmann
Die Serapionsbrüder

Allen Lesern ins Stammbuch (133)

»Literat sind Sie?«
»Ja«, antwortete ich.
»Wissen Sie, während des Streiks habe ich flüchtig einen Roman gelesen. Ob der von Ihnen war?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Worum ging es denn?«
»Nun, ich kann es Ihnen nicht mehr ganz genau sagen. Der Sohn verkrachte sich mit dem Vater und hatte einen Freund, einen unsympathischen Menschen mit merkwürdigem Nachnamen … Er schlachtete Frösche …«
»Ich kann mich nicht erinnern«, log ich. Armer Iwan Sergejewitsch!

Arkadi und Boris Strugatzki
Die gierigen Dinge des Jahrhunderts

Allen Lesern ins Stammbuch (132)

Die scharfsinnigen Untersuchungen darüber kommen mir vor, wie die Abhandlungen der englischen Akademiker, denen der König aufgegeben, zu erforschen, woher es rühre, daß ein Eimer mit Wasser, in den man einen zehnpfündigen Fisch getan, nicht mehr wiege, als der andere bloß mit Wasser gefüllte. Mehrere hatten das Problem glücklich gelöst, und schon wollten sie mit ihrer Weisheit vor den König treten, als einer klugerweise anriet, die Sache selbst erst zu versuchen. Da behauptete denn der Fisch sein Recht, er fiel ins Gewicht, wie er sollte, und siehe, das Ding selbst, worüber die Weisen mittelst scharfsinnigen Nachdenkens die herrlichsten Resultate herausgebracht, existierte gar nicht.

E. T. A. Hoffmann
Die Serapionsbrüder

Allen Lesern ins Stammbuch (131)

Vor etwa einem Jahr hatte ich in einer Zeitschrift einen Artikel von ihm gelesen, der mit einem gewaltigen Anspruch auf naivste Poesie und auch noch Psychologie abgefaßt war. Er schilderte darin den Untergang eines Dampfers, irgendwo vor der englischen Küste, den er als Augenzeuge erlebt und dabei gesehen hatte, wie Ertrinkende gerettet und Ertrunkene geborgen wurden. Dieser ganze Artikel, ziemlich lang und weitschweifig wie er war, diente einzig und allein der Selbstdarstellung. Man konnte förmlich zwischen den Zeilen lesen: »Schaut doch mich an, es geht doch in diesen Minuten um mich! Was kümmert euch dieses Meer, der Sturm, die Felsen, das Schiffswrack? Dies alles habe ich euch schon hinlänglich mit meiner kraftvollen Feder geschildert! Wieso schaut ihr euch diese Ertrunkene mit dem toten Kind in den toten Armen an? Schaut doch lieber mich an, wie ich, von diesem Schauspiel überwältigt, mich von ihnen abwende! Da, ich wende ihnen den Rücken zu; da, ich bin entsetzt und bringe es nicht über mich, einen Blick zurückzuwerfen; ich schließe die Augen – sehr interessant, nicht wahr?«

Fjodor M. Dostojewskij
Böse Geister

Allen … ins Stammbuch (130)

Nicht die Dinge selbst, sondern die Meinungen von den Dingen beunruhigen die Menschen. So ist z. B. der Tod nichts Schreckliches, sonst wäre er auch dem Sokrates so erschienen; sondern die Meinung von dem Tod, daß er etwas Schreckliches sei, das ist das Schreckliche. Wenn wir nun auf Hindernisse stoßen, oder beunruhigt, oder bekümmert sind, so wollen wir niemals einen andern anklagen, sondern uns selbst, das heißt: unsere eigenen Meinungen. – Sache des Unwissenden ist es, andere wegen seines Mißgeschicks anzuklagen; Sache des Anfängers in der Weisheit, sich selbst anzuklagen; Sache des Weisen, weder einen andern, noch sich selbst anzuklagen.

Epiktet
Handbüchlein

Allen Lesern ins Stammbuch (129)

Der wunde Punkt bestand darin, daß Andrej Antonowitsch gleich am Anfang ein Lapsus unterlaufen war, indem er ausgerechnet ihm von seinem Roman erzählte. Da er sich einbildete, einen feurigen jungen Mann voller Poesie vor sich zu haben, und schon längst einen Zuhörer herbeigesehnt hatte, las er ihm, gleich in den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft, eines schönen Abends zwei Kapitel daraus vor. Jener hatte zugehört, ohne seine Langeweile zu verhehlen, hatte rücksichtslos gegähnt, kein einziges Mal gelobt, aber beim Weggehen sich das Manuskript ausgebeten, um sich zu Hause, in aller Ruhe, ein Urteil zu bilden. Und Andrej Antonowitsch hatte ihm das Manuskript mitgegeben. Seither hatte er das Manuskript nicht zurückgebracht, obwohl er täglich vorbeischaute und auf die Frage danach nur lachte. Schließlich erklärte er, daß er das Manuskript schon damals auf der Straße verloren hätte.

Fjodor M. Dostojewskij
Böse Geister

Allen Lesern ins Stammbuch (127)

Im allgemeinen verschwinden bei uns, wenn ich mich erkühnen darf, auch meine Meinung zu einem derart heiklen Kapitel zu äußern, all diese Herren Talente mittlerer Güte, die gewöhnlich zu Lebzeiten fast wie Genies gefeiert werden, nicht nur nach ihrem Ableben nahezu spurlos und irgendwie plötzlich aus dem Gedächtnis der Menschen, sondern werden manchmal sogar schon zu Lebzeiten unvorstellbar schnell von allen vergessen und mißachtet, sobald eine neue Generation heranwächst und die vorhergehende, in der sie wirkten, ablöst. Das geht bei uns irgendwie schlagartig vonstatten, wie ein Kulissenwechsel auf der Bühne. Oh, das läuft ganz anders ab, wie mit diesen Puschkins, Molières, Voltaires, mit all diesen Größen, die gekommen sind, um ihr eigenes neues Wort zu sagen! Es stimmt, daß diese Herren Talente mittlerer Güte sich an ihrem ruhmreichen Lebensabend gewöhnlich auf die kläglichste Weise leergeschrieben haben und es nicht einmal merken. Es zeigt sich gar nicht so selten, daß ein Schriftsteller, dem Jahre hindurch außerordentliche Gedankentiefe zugeschrieben und von dem ein außerordentlicher und ernstzunehmender Einfluß auf die Entwicklung der Gesellschaft erwartet wurde, am Ende eine solche Dürftigkeit und Winzigkeit seiner sogenannten Grundidee erkennen läßt, daß sogar kein Mensch bedauert, daß er sich leergeschrieben hat. Aber die weißhaarigen alten Herren merken es nicht und ärgern sich. Ihr Ehrgeiz nimmt zuweilen, besonders gegen Ende ihrer Laufbahn, wahrhaft erstaunliche Ausmaße an. Gott allein weiß, für wen sie sich nun halten – mindestens für Götter.

Fjodor M. Dostojewskij
Böse Geister

Allen Lesern ins Stammbuch (126)

So brauchten etliche unserer jungen Damen sich nur den Zopf abzuschneiden, blaue Brillen aufzusetzen und sich Nihilistinnen zu nennen, um sofort davon überzeugt zu sein, zugleich mit der Brille auch eigene »Überzeugungen« erworben zu haben. So brauchten einige in ihrem Herzen auch nur den Hauch einer allgemein menschlichen positiven Empfindung zu verspüren, um augenblicklich davon überzeugt zu sein, daß niemand sonst so zu empfinden imstande sei und daß sie die Spitze des allgemeinen Fortschritts bildeten. So brauchte mancher nur einen fremden Gedanken aufs Wort zu übernehmen oder irgendwo mitten heraus eine Seite zu überfliegen, um sofort zu meinen, dies seien seine »eigenen Gedanken«, seinem eigenen Gehirn entsprossen.

Fjodor M. Dostojewskij
Der Idiot