Allen Lesern ins Stammbuch (85)

Wissen sie nur einmal, was es sei, gute Schriftsteller lesen? Wissen sie, daß es nicht zuviel ist, sie zehn, zwanzig, dreißig mal mit Geschmack, mit Fleiß und Anstrengung lesen, um sie zu verdauen, um ihren Inhalt in Blut und Saft zu verwandeln? Nichts weniger als dieses. Eine einmalige flüchtige Lektüre, und wessen? Einer kleinen Zahl von Werken, die den meisten Ruf, die man sich rühmen will, gelesen zu haben; ein Zwanzig vielleicht, von denen ihnen nichts blieb, selbst die bekanntsten Anspielungen nicht, die in der Gesellschaft oder in den Schriftstellern vorkommen. Endlich nur neue Bücher, nur Zeitschriften!

Johann Gottfried Herder
Briefe zur Beförderung der Humanität

Allen Lesern ins Stammbuch (84)

Zu einer Stunde hat der Verdruß eigenmächtig die Oberhand in mir, zu der andern die Fröhlichkeit. Nehme ich Bücher zur Hand, da ich zu gewissen Zeiten in mancher Stelle ausnehmende Schönheiten gefunden haben würde, die meine Seele gerühret hätten: so finde ich an derselben, wenn ich ein andermal wieder darüber komme, ich mag sie drehen und wenden wie ich will, ich mag sie, von welcher Seite ich will, betrachten, nichts als eine mir unbekannte und ungestalte Masse. Ja, ich kann so gar nicht einmal allezeit wieder auf meine eigenen Gedanken kommen.

Michel de Montaigne

Allen Lesern ins Stammbuch (83)

Für Kunst hatte er kaum was übrig. Zwar ließ er sich sein Lexikon prunkvoll einbinden, denn das sei schöner als die schönste Tapete oder Waffen an der Wand. Auch las er gern Titel und Kapitelüberschriften, aber am liebsten vertiefte er sich in Zitate auf Abreißkalendern.

Ödön von Horváth
Der ewige Spießer

Allen Lesern ins Stammbuch (82)

Wo immer auch der Interpret in seinen Text eindringt, findet er eine unabschließbare Fülle von Desideraten, denen er zu genügen hätte, ohne daß einem zu genügen wäre, ohne daß das andere darunter litte; er stößt auf die Inkompatibilität dessen, was die Werke von sich wollen und dann von ihm; die Kompromisse aber, die resultieren, schaden der Sache durch die Indifferenz des Unentschiedenen. Voll adäquate Interpretation ist schimärisch. Das nicht zuletzt verleiht dem idealen Lesen den Vorrang vorm Spielen: Lesen, darin vergleichbar dem berüchtigten allgemeinen Dreieck Lockes, duldet als sinnlich-unsinnliche Anschauung etwas wie die Koexistenz des Kontradiktorischen.

Theodor W. Adorno

Allen Lesern ins Stammbuch (81)

Du fragst, ob Du mir meine Bücher schikken sollst? Lieber, ich bitte dich um Gottes willen, laß mir sie vom Hals. Ich will nicht mehr geleitet, ermuntert, angefeuret seyn, braust dieses Herz doch genug aus sich selbst, ich brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner Fülle gefunden in meinem Homer.

Johann Wolfgang von Goethe
Die Leiden des jungen Werthers

Allen Lesern ins Stammbuch (79)

Wendet sich Jemand von den Werkstätten zu den Bibliotheken, und bewundert er die ungeheure Mannichfaltigkeit der  vorhandenen Bücher, so wird sein Staunen sich in das Gegentheil  verkehren, wenn er den Gegenstand und Inhalt dieser Bücher  untersucht und näher betrachtet. Wenn er da gesehen hat, dass  die Wiederholungen kein Ende nehmen, und die Menschen  immer dasselbe reden und treiben, so wird seine Bewunderung dieser Mannichfaltigkeit sich umwandeln in ein Verwundern über die Dürftigkeit und Geringfügigkeit dessen, was den Verstand der Menschen bis jetzt gefesselt und beschäftigt hat.

Francis Bacon
Neues Organon

Allen Lesern ins Stammbuch (78)

Sei nicht zu sicher, daß du die Vergangenheit aus dem Mund der Gegenwart erfährst. Hüte dich auch vor dem ehrlichsten Vermittler. Vergiß nicht, daß alles, was man dir sagt, eigentlich dreifach zusammengesetzt ist: Es ist geformt vom Erzähler, umgeformt vom Zuhörer und vor beiden durch den Toten in der Geschichte verborgen.

Vladimir Nabokov
Das wahre Leben des Sebastian Knight

Allen Lesern ins Stammbuch (77)

Schon Goethe hatte das einflußreichste Beispiel gegeben, wie man ein deutscher Dichter sein kann und dennoch den äußerlichen Anstand zu bewahren vermag. In früheren Zeiten verachteten die deutschen Dichter alle konventionellen Formen, und der Name »deutscher Dichter« oder gar der Name »poetisches Genie« erlangte die unerfreulichste Bedeutung. Ein deutscher Dichter war ehemals ein Mensch, der einen abgeschabten, zerrissenen Rock trug, Kindtauf- und Hochzeitgedichte für einen Taler das Stück verfertigte, statt der guten Gesellschaft, die ihn abwies, desto bessere Getränke genoß, auch wohl des Abends betrunken in der Gosse lag, zärtlich geküßt von Lunas gefühlvollen Strahlen. Wenn sie alt geworden, pflegten diese Menschen noch tiefer in ihr Elend zu versinken, und es war freilich ein Elend ohne Sorge, oder dessen einzige Sorge darin besteht, wo man den meisten Schnaps für das wenigste Geld haben kann.

Heinrich Heine
Die romantische Schule

Allen Lesern ins Stammbuch (76)

Zur Popularität gelangen deutsche Schriften durch einen großen Namen, oder durch Persönlichkeiten, oder durch gute Be­kannt­schaft, oder durch Anstrengung, oder durch mäßige Un­sitt­lich­keit, oder durch vollendete Unverständlichkeit, oder durch har­mo­ni­sche Plattheit, oder durch vielseitige Langweiligkeit, oder durch beständiges Streben nach dem Unbedingten.

Friedrich Schlegel
Kritische Fragmente