Durch den Druck ist aber in der Tat die ganze Literatur ein Buch geworden, in welchem jeder nach Belieben blättern mag und daraus ein allgemeiner Dilettantismus der Produzenten wie der Konsumenten entstanden. Ehedem dichtete der Sänger für eine gewisse ideale Totalität seiner Nation, oder auch für einen bestimmten Kreis spruchfähiger Freunde und Gönner, und war in beiden Fällen des Verständnisses und geistigen Widerhalls gewiß; ganz abgesehen davon, daß bei der Kostbarkeit und zeitraubenden Mühe einer Vervielfältigung der Gedichte in der Regel nur das Beste sich erhalten und vererben konnte. Jetzt dagegen bringt jeder Phantast – das Volk sagt treffend: »er lügt wie gedruckt« – seine wohlfeile Weisheit auf den großen Plundermarkt, wo Perlen und Kraut und Rüben durcheinanderliegen und ein jeder nach seines Herzens Gelüsten aufs Geratewohl zugreifen kann. Eine erstaunliche Konfusion, die noch bis heut fortzuwachsen scheint; die Köchin liest beim Messerabwischen ihre »Jungfrau von Orleans«, die Dame ihre »Mimili«. Eine maßlose Konkurrenz mag für alles Fabrikwesen ganz dienlich sein; hier führt sie selbst zur Fabrikation.
Joseph von Eichendorff
Schlagwort: Stammbuch
Allen Lesern ins Stammbuch (74)
3½ Jahre braucht der Autor, um das Buch zu schreiben, 3½ Monate der Verleger, es herauszubringen, 3½ Tage der Rezensent, es zu lesen (wenn ers liest!), 3½ Stunden, es zu besprechen (wenn er sich Mühe gibt), 3½ Minuten der Leser, um die Rezension aufzunehmen, 3½ Sekunden, sie wieder zu vergessen.
Wolf von Niebelschütz
Allen Lesern ins Stammbuch (73)
Die blassen Organismen literarischer Helden nähren sich unter Aufsicht des Autors vom Herzblut des Lesers und schwellen nach und nach davon an; so daß die Genialität eines Schriftstellers darin bestünde, daß er sie mit der Fähigkeit ausstattet, sich an diese – nicht sehr appetitliche – Speise zu gewöhnen und dabei zu blühen und zu gedeihen, mitunter jahrhundertelang.
Vladimir Nabokov
Verzweiflung
Allen Lesern ins Stammbuch (72)
Eine Regel beim Lesen ist die Absicht des Verfassers, und den Hauptgedanken sich auf wenig Worte zu bringen und sich unter dieser Gestalt eigen zu machen. Wer so liest ist beschäftigt, und gewinnt, es gibt eine Art von Lektüre wobei der Geist gar nichts gewinnt, und viel mehr verliert, es ist das Lesen ohne Vergleichung mit seinem eigenen Vorrat und ohne Vereinigung mit seinem Meinungs-System.
Georg Christoph Lichtenberg
Allen Lesern ins Stammbuch (71)
Ich habe mitunter schon von sogenannter schädlicher Lektüre reden hören, wie z. B. von berüchtigten Schauerromanen. Auf dieses Kapitel näher einzugehen möchten wir uns verbieten, aber so viel können wir sagen: das schlechteste Buch ist nicht so schlecht wie die völlige Gleichgültigkeit, die überhaupt nie ein Buch zur Hand nimmt. Das Schundbuch ist lange nicht so gefährlich, wie man vielleicht meint, und das sogenannte wirklich gute Buch ist unter Umständen durchaus nicht so gefahrlos, als man allgemein annehmen möchte. Geistige Dinge sind nie so harmlos wie etwa Schokoladeessen oder wie der Genuß eines Apfelkuchens. Grundsätzlich muß eben der Leser nur immer das Lesen vom Leben säuberlich zu trennen wissen.
Robert Walser
Lesen
Allen Lesern ins Stammbuch (70)
Unterschätzte Wirkung des gymnasialen Unterrichts. – Man sucht den Wert des Gymnasiums selten in den Dingen, welche wirklich dort gelernt und von ihm unverlierbar heimgebracht werden, sondern in denen, welche man lehrt, welche der Schüler sich aber nur mit Widerwillen aneignet, um sie so schnell er darf von sich abzuschütteln. Das Lesen der Klassiker – das gibt jeder Gebildete zu – ist so, wie es überall getrieben wird, eine monströse Prozedur: vor jungen Menschen, welche in keiner Beziehung dazu reif sind, von Lehrern, welche durch jedes Wort, oft durch ihr Erscheinen schon einen Mehltau über einen guten Autor legen. Aber darin liegt der Wert, der gewöhnlich verkannt wird – daß diese Lehrer die abstrakte Sprache der höhern Kultur reden, schwerfällig und schwer zum Verstehen, wie sie ist, aber eine hohe Gymnastik des Kopfes; daß Begriffe, Kunstausdrücke, Methoden, Anspielungen in ihrer Sprache fortwährend vorkommen, welche die jungen Leute im Gespräche ihrer Angehörigen und auf der Gasse fast nie hören. Wenn die Schüler nur hören, so wird ihr Intellekt zu einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise unwillkürlich präformiert. Es ist nicht möglich, aus dieser Zucht völlig unberührt von der Abstraktion als reines Naturkind herauszukommen.
Friedrich Nietzsche
Menschliches, Allzumenschliches
Allen Lesern ins Stammbuch (69)
Die Kinder, wenn ihnen ein Buch, ein Stück gefällt, wollen
immer sogleich vom selben Autor mehr lesen; lesen, wenn sie
dazu gelangen können, von den Stücken, die dieser Autor
verfaßt hat, eines nach dem andern durch, bis sie den Autor
ausgelesen haben, was sie dann bedauern. – So auch mancher
Erwachsene.Was aber tut der Leser, wenn ihm ein Stück gefällt? Ohne
Ausnahme das eine: er liest nochmals. Das zweite Lesen wird
den ersten Eindruck nie nur bestätigen, sondern aufheben oder vertiefen.
Kein wirklicher Leser hat ein wirkliches Kunstwerk je ausgelesen.Ludwig Hohl
Die Notizen
Allen Lesern ins Stammbuch (68)
Ich habe eine Bibliothek für gut 300 Jahre angelegt, und alles was ich jetzt noch brauche, sind diese Jahre.
Elias Canetti
Das Buch gegen den Tod
Allen Lesern ins Stammbuch (67)
Aha! nun schauen Sie, wie sie das Gehirn quälen – diese Bücher! – diese Bücher! Sie sollten nicht soviel studieren, werter Sir, und ein bißchen Kurzweil haben; sonst werden Sie sich an diese Nachtlaunen gewöhnen.
Nathaniel Hawthorne
Der scharlachrote Buchstabe
Allen Lesern ins Stammbuch (66)
Und er lehrte sie und sprach zu ihnen: Seht euch vor vor den Schriftgelehrten, die gern in langen Gewändern gehen und lassen sich auf dem Markt grüßen und sitzen gern obenan in den Synagogen und am Tisch beim Mahl; sie fressen die Häuser der Witwen und verrichten zum Schein lange Gebete. Die werden ein umso härteres Urteil empfangen.
Markus 12, 38–40