Wilhelm Raabe: Unruhige Gäste

Eine fatale Geschichte! wahrhaftig, eine nette Dorfidylle!

Cover

„Unruhige Gäste“ ist ein später, kurzer Roman Wilhelm Raabes und wurde 1885 im populären Familienblatt „Die Gartenlaube“ in zwölf Folgen veröffentlicht; im Jahr darauf erschien die Buchausgabe bei Grote in Berlin. Mit der Fortsetzungsausgabe erreichte der „Roman aus dem Säkulum“ – so die vom Autor gewählte Genrebezeichnung – ein für Raabe vergleichsweise breites Publikum, das den Roman anfänglich zumeist positiv aufnahm, mit dem Ende aber nicht recht zufrieden war; ich werde noch darauf zurückkommen.

Die Handlung spielt in den 1880er Jahren in einem Minendorf im Harz und einem im Tal darunter gelegenen Kurort, für den offenbar Bad Harzburg das Vorbild war. Über den Charakter des Städtchens als Badeort macht sich Raabe, der Bad Harzburg aus eigenem Erleben kannte, ein wenig lustig:

Dieser beliebte Badeort für Gesunde hatte selten eine so gute Gesellschaft wie diesmal um seine unschädlichen Quellen versammelt gesehen.

S. 90

Zu dieser guten Gesellschaft gehört auch eine Gruppe um Professor Freiherr Veit von Bielow, der das Bad offenbar mit seiner Verlobten in spe Valerie, deren Vater und einer Gruppe von jungen Leuten besucht. Beim Ausflug in das in den Bergen gelegene Dorf macht er einen Abstecher ins Pfarrhaus, um dort seinen ehemaligen Kommilitonen, den in Gott verbitterten Pastor Prudens Hahnemeyer aufzusuchen, den er seit der Studienzeit nicht mehr gesehen hat. Hahnemeyer lebt zusammen mit seiner Schwester Phöbe, einer 20-jährigen Lehrerin und Krankenpflegerin, die sich in der Gemeinde und im Pfarrhaus nützlich macht. Den eigentlichen Erzählanlass bildet der Tod von Anna Fuchs, die gerade an dem Tag stirbt, als von Bielow im Dorf eintrifft. Anna Fuchs war am Typhus erkrankt und wurde zusammen mit ihrem im Dorf ohnehin nur mäßig beliebten Mann Volkmar und ihren beiden Kindern zu einer ärmlichen Existenz in einer notdürftigen Hütte am Dorfrand gezwungen. Nun will man die Tote möglichst rasch unter die Erde bringen, doch Volkmar in seiner Trauer und seinem Zorn auf die Gemeinde verweigert die Herausgabe der Toten, die er lieber im Wald verscharren will, als es zuzulassen, dass sie zusammen mit jenen, die sie verachtet haben, auf einem Friedhof liegen soll.

Es gibt nun mehrere Versuche, Fuchs zur Vernunft zu bringen, die aber alle scheitern: Weder die Drohungen des Ortsvorstehers, noch die Ermahnungen des Pastors helfen; erst als Phöbe, die sich aufopferungsvoll um die Kranke gekümmert hatte, zusammen mit von Bielow noch einmal die Hütte aufsucht, gelingt der Durchbruch, als von Bielow spontan anbietet, drei nebeneinanderliegende Grabstellen zu erwerben, in denen Anna – in der Mitte – bewacht von Phöbe und ihm selbst die letzte Ruhe finden soll. Völlig überrascht und überwältigt von der Zustimmung Volkmars zu diesem Vorschlag, erklärt sich auch Phöbe einverstanden. Nach der Beerdigung geht von Bielow wieder hinab in den Kurort zu der Gesellschaft, zu der er gehört.

Damit beginnt die zweite Hälfte des Romans, in deren Zentrum die Erkrankung von Bielows am Typhus steht. Wieder im Kurort angekommen, muss von Bielow sehr rasch und gegen seinen Willen die Geschichte um das Begräbnis der Anna Fuchs und der dreifachen Grabstelle erzählen. Valerie ist von dieser Festlegung von Bielows auf eine letzte Ruhestätte so betroffen und in Furcht versetzt, dass sie selbst hinauf ins Dorf reitet, Volkmar und Phöbe – in der sie eine Konkurrentin um die Liebe von Bielows zu haben fürchtet – kennenlernt und sich den Friedhof zeigen lässt. Es kommt zu einer Art von Aussprache zwischen den beiden Frauen, und als Valerie abends ins Tal zurückkommt, muss sie erfahren, dass inzwischen von Bielow selbst an Typhus erkrankt ist.

Merkwürdigerweise wird nun nicht das Klischee umgesetzt, dass sich Valerie am Krankenbett Veits zum großen, entsagenden Vorbild der Phöbe hinauf arbeitet, sondern ganz in Gegenteil flieht die Gesellschaft um Valerie den Kurort, von Bielow wird in ein aufgelassenes Siechenspital am Rande des Städtchens verbannt und dort vom lokalen Doktor, Phöbe und Dorette – einer spät eingeführten, aber nichts weniger als unbedeutenden Nebenfigur – gepflegt. Nur dass Veit von Bielow dem Tod entgeht und nach einer Woche Phöbe wieder ins Pfarrhaus zurückkehrt, wird uns erzählt. Und dann schließt Raabe einen ganz merkwürdigen Schluss an: Im nächsten Frühjahr erreichen das Pfarrhaus zwei Briefe. Zum einen von Dorette an Phöbe, in dem ein schlichtes Gemüt die Erlebnisse der Woche der Pflege von Bielows und die Freundschaft der beiden Frauen reflektiert. Zum anderen von dem in Sizilien sich nur langsam erholenden Veit von Bielow und seiner Gattin Valerie, die ihre Flitterwochen zu einem Genesungsurlaub verlängert haben.

Wer die Romane kennt, die im Umfeld um „Unruhige Gäste“ entstanden, wird begreifen, dass ein Gutteil der Leser der „Gartenlaube“ mit einem solchen Ende nur wenig zufrieden sein konnten. Weder wird der durch die Flucht Valeries inszenierte Konflikt auch nur angesprochen, sondern die beiden werden einfach verheiratet, noch findet die aufopferungsvolle Liebe Phöbes, die durch die Persönlichkeit von Bielows doch für den Moment heftig aus dem Gleichgewicht geraten war, eine Auflösung. Stattdessen wird Volkmar Fuchs zu einem angesehenen Mitglied der Gemeinde, nachdem er – offenbar durch die Protektion von Valeries Vater – zu einer Anstellung als Forstwart gekommen ist. Aber eine der üblichen, kunstfertigen Abrundungen darf von Raabe im Ernst nicht erwartet werden.

Neben dem hier Nacherzählten hat der Roman noch die eine und andere knorrige Nebenfigur, wie man sie ähnlich nur in den Romanen von Charles Dickens finden wird. Für seine nur knapp 180 Seiten macht das Buch ein erstaunlich breites Gesellschaftspanorama auf. Und es enthält viel von der Welt, wie sie sich Raabe gezeigt hat.

Jeder für den Mist vor seine Kellerlöcher, und unser Herrgott fürs Ganze!

S. 158

Wilhelm Raabe: Unruhige Gäste. Ein Roman aus dem Säkulum. In: Werke. Kritische kommentierte Ausgabe. Göttingen: Wallstein, 2024. Pappband, Fadenheftung, 235 Seiten. 26,– €.

Theodor Fontane: Der Stechlin

ein Feuerwerk von Anzüglichkeiten und kleinen Witzen

Niemand, der über dieses letzte Buch Fontanes (Mathilde Möhring ist aus dem Nachlass herausgegeben worden) spricht oder schreibt, kommt um das Bonmot herum, mit dem Fontane den Inhalt dieses Buch umriss: „Zum Schluß stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Von Verwicklungen und Lösungen, von Herzenskonflikten oder Konflikten überhaupt, von Spannungen und Überraschungen findet sich nichts.“ (Brief-Entwurf an Adolf Hoffmann, Mai/Juni 1897.) So ganz ohne „Konflikte“ ist das Buch zwar nicht, aber es sind weniger persönliche als gesellschaftliche, die tatsächlich nur zu beschreiben, nicht zu lösen sind.

Die Handlung spielt in der Hauptsache am und um den Stechlinsee herum sowie in Berlin. Im Zentrum steht der alternde Dubslav von Stechlin, der als Major a. D. auf Schloss Stechlin residiert. Sein einziger Sohn Woldemar ist als Dragoner in Berlin stationiert und verkehrt viel im Hause des Grafen von Barby, ebenso alt wie Dubslav von Stechlin, weil er die beiden Töchter des Hauses umwirbt – Melusine und Armgard, die schließlich seine Braut werden wird. Die eigentliche Handlung beschränkt sich auf einen Besuch Woldemars zusammen mit zwei Regimentskameraden bei seinem Vater und seiner Tante, der Vorsteherin des nahe gelegenen Kloster Wutz, die Werbungszeit um Armgard, die Hochzeit, die eher summarisch abgehandelt wird, und abschließend die Zeit der Krankheit und des Todes von Dubslav von Stechlin.

Den sozialen Hintergrund bilden die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts mit den religiösen und sozialen Verwerfungen der Zeit: der immer noch starke Gegensatz zwischen Protestanten und Katholiken sowie der zwischen den konservativen Kräften (zu denen Dubslav ebenso zählt wie Graf Barby) und den aufkommenden sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegungen (mit denen Woldemar zumindest sympathisiert, ohne als deren politischer Anhänger zu erscheinen). Quasi quer zu diesen Kräften wird immer erneut das Verhältnis der Geschlechter zueinander thematisiert, wobei die Sexualität immer wieder mit einer für die Zeit überraschenden Deutlichkeit thematisiert wird:

»Ich verheiratete mich, wie Sie wissen, in Florenz und fuhr an demselben Abende noch bis Venedig. Venedig ist in einem Punkte ganz wie Dresden: nämlich erste Station bei Vermählungen. Auch Ghiberti – ich sage immer noch lieber ›Ghiberti‹ als ›mein Mann‹; ›mein Mann‹ ist überhaupt ein furchtbares Wort – auch Ghiberti also hatte sich für Venedig entschieden. Und so hatten wir denn den großen Apennintunnel zu passieren.«
»Weiß, weiß. Endlos.«
»Ja, endlos. Ach, liebe Baronin, wäre doch da wer mit uns gewesen, ein Sachse, ja selbst ein Rumäne. Wir waren aber allein. Und als ich aus dem Tunnel heraus war, wußt’ ich, welchem Elend ich entgegenlebte.«
»Liebste Melusine, wie beklag’ ich Sie; wirklich, teuerste Freundin, und ganz aufrichtig. Aber so gleich ein Tunnel. Es ist doch auch wie ein Schicksal.«

S. 351

Das Buch lebt ganz und gar von seinen Charakteren – neben Dubslav von Stechlin bilden Melusine von Barby-Ghiberti und der lokale Pastor Lorenzen den Kernbestand, der von zahlreichen Nebenfiguren umstellt ist (auch Woldemar und Armgard müssen unter diese Nebenfiguren eingeordnet werden). Es verzichtet auf jeden Versuch, die zahlreichen anekdotischen Szenen durch irgendeine Form von artistischer Konstruktion einzubinden, sondern gibt sich mit einem lockeren Faden des Nacheinanders vollständig zufrieden (hierin ist der alte Fontane vielen zeitgenössischen Kollegen weit voraus). Es erscheint im formalen Sinne als künstlerisch schlicht und anspruchslos, doch könnte nicht besser sein, als es geworden ist. Ein Zeitbild, wie man es selten findet, aus der Feder eines der besten melancholischen Chronisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Theodor Fontane: Der Stechlin. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 17. Berlin: Aufbau, 2001. Geprägtes und bedrucktes Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 716 Seiten. 48,– €.

Hans Peter Duerr: Die dunkle Nacht der Seele

Der Optimist glaubt, daß die Menschheit eines Tages den Tod besiegen wird. Und der Pessimist befürchtet, daß ihr dies tatsächlich gelingen könnte.

Duerr Dunkle NachtNach seinem Ausflug in die griechische Antike wendet sich Hans Peter Duerr wieder einem eher ethnologischen Thema zu: Nahtod-Erfahrungen und Jenseitsreisen, wobei er an keiner Stelle einen Zweifel daran lässt, dass er beides für innerpsychische Phänomene hält, denen keine wie auch immer geartete transzendente oder metaphysische Bedeutung oder gar Wirklichkeit entspricht. Daher taucht der Terminus Nahtod-Erfahrung – außer im Untertitel des Buches – auch stets in Anführungsstrichen bei ihm auf. Anlass der Beschäftigung mit diesem Thema sind zwei „Nahtod-Erfahrungen“ Duerrs (die erste davon hatte er bereits 1982), die sich so stark von den von Duerr zuvor gemachten Erlebnissen mit Drogen und Halluzinationen unterschieden, dass sein Interesse an dem Phänomen geweckt wurde.

Wie schon bei seinen früheren Büchern überwiegt bei Duerr die Dokumentation der überlieferten Erfahrungen bei weitem jeden Versuch, eine wie auch immer geartete theoretische Erklärung für die geschilderten Erlebnisse zu liefern. Duerr analysiert zuerst mit unzähligen Belegen die zentralen, „Nahtod-Erfahrungen“ weitgehend gemeinsamen Elemente, wobei sich bei einigen zeigt, dass ihre jeweilige Ausprägung stark durch die Kultur- und Glaubenszugehörigkeit der „Jenseitsreisenden“ geprägt ist. Anschließend nimmt er eine ebenso umfangreich belegte Abgrenzung der „Nahtod-Erfahrungen“ von anderen sogenannten psychischen Grenzerfahrungen vor: Schamanen-Reisen, Ekstasen, Halluzinationen, Träumen, Drogenerfahrungen, Entführungsphantasien, Teufels-Bessenheiten und zuletzt auch den Zuständen bei Herzstillstand. Eine kleine, nicht ganz vollständige Zusammenfassung der möglichen Bedingungen von „Nahtod-Erfahrungen“ liest sich so:

Ein solcher Zustand kann nicht nur bei Entspannung, extremer sensorischer Deprivation, Unfällen, Todesangst oder bei einer Überdosis gewisser pflanzlicher Drogen wie Iboga oder Stechapfel eintreten, sondern ebenfalls, wenn man vom Blitz getroffen wird oder möglicherweise auch, wenn man von einem hohen Felsen in die Tiefe springt. (S. 335)

Zu Ende des Buches findet sich dann doch noch ein eher theoretisches Kapitel, in dem – im umgangssprachlichen Sinne – esoterische Deutungen der „Nahtod-Erfahrungen“ unter Rekurs auf Wittgenstein und einen handfesten Realitätssinn (um es nicht Realismus zu nennen) abgewiesen werden.

Ich kann es nur abschätzen, aber ich vermute, das Buch stellt die umfangreichste Dokumentation von „Nahtod-Erfahrungen“ dar, die je erstellt wurde. Duerrs Belege reichen von der Antike bis in die Gegenwart und entstammen Berichten von sechs der sieben Kontinente. Duerr unterscheidet nicht systematisch zwischen religiös und profan überschriebenen Erlebnissen; überhaupt ist seine Darstellung von einer erfrischenden, vorurteilslosen Distanz gegenüber den meisten gerade gängigen ideologischen Positionen.

Die eine oder den anderen wird das Buch wegen seines nahezu ausschließlich dokumentarischen Ansatzes enttäuschen; selbst dort, wo Duerr bereit ist, sich auf eine eher abstrakte Diskussion des Themas einzulassen, geschieht dies in rein falsifikatorischer Absicht. So werden manche Leser nach der Lektüre zwar mit einem unvergleichbar reicheren Wissen über das Phänomen, aber – soweit sie sich auf Duerrs Argumente einlassen – mit keiner zufriedenstellenden Erklärung zurückbleiben. Und erfahrungsgemäß ist das etwas, was die wenigstens auszuhalten verstehen.

Hans Peter Duerr: Die dunkle Nacht der Seele. Nahtod-Erfahrungen und Jenseitsreisen. Berlin: Insel, 2015. Pappband, 688 Seiten. 29,95 €.

Richard Ford: Frank

»Ich frage mich, wenn man ein Buch schreibt, woher weiß man, wann es vollendet ist? Weiß man das im Voraus? Ist das immer klar? Mir ist das ein Rätsel. Nichts, was ich je gemacht habe, lief auf ein Ende zu.«

Ford-FrankRichard Ford hat die nach seinen eigenen Worten abgeschlossene Frank-Bascombe-Trilogie um ein weiteres Buch ergänzt. Der deutsche Verlag hat klugerweise darauf verzichtet, das Buch mit einer Gattungsbezeichnung zu versehen, denn weder handelt es sich im eigentlichen Sinn um einen Roman, noch sind es vier voneinander unabhängige Erzählungen, die Ford hier präsentiert: Erzählt wird von knapp zwei Wochen Ende 2012. In New Jersey hat vor ein paar Wochen der Hurrikan Sandy gerade da Trümmer hinterlassen, wo Frank Bascombe noch zehn Jahre zuvor gewohnt hat. An seinem jetzigen (und frühere) Wohnort Haddam ist nicht viel passiert, aber das erste Kapitel bringt ihn zurück zu seinem Haus in Sea-Clift, nordöstlich von Atlantic City, um zusammen mit dem Käufer die Überreste seines ehemaligen Hauses zu inspizieren. Das zweite Kapitel schildert eine Begegnung Franks mit einer ehemaligen Bewohnerin seines jetzigen Hauses, die als junges Mädchen nur durch Zufall der Ermordung durch ihren eigenen Vater entgangen ist, der in dem Haus, das jetzt Frank gehört, erst seine Frau und seinen Sohn und schließlich auch sich selbst erschossen hat. Im dritten Teil besucht Frank seine Ex-Frau Ann, die inzwischen auch wieder in Haddam lebt, an Parkinson leidet und sich mit ihrem Mann immer noch nicht wieder versteht. Und schließlich besucht Frank einen todkranken alten Freund, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hat und der glaubt, Frank kurz vor dem Tod noch beichten zu müssen, dass er mit Ann geschlafen habe, als sie und Frank noch verheiratet waren.

Das Thema aller dieser Episoden sind Sterben und Tod. Frank Bascombe ist inzwischen 67 Jahre alt (auch wenn er behauptet, er sei 68), er macht sich Sorgen, er könne an Alzheimer leiden, verweigert aber den entsprechenden Test (ein wenig vergesslich ist er auf jeden Fall, aber das muss ja nichts schlimmes bedeuten). Auch ist er körperlich nicht mehr der Fitteste, hat dann und wann Schwindelanfälle und fürchtet sich davor, zu stürzen und sich etwas zu brechen. War der Tenor der früheren Bücher die kontinuierliche Verwandlung Franks, so ist es diesmal das Nachlassen und langsame Verschwinden aus der Welt. Doch bleibt Frank wie schon früher alles in allem ziemlich gelassen:

Der alte Henry James hielt den Tod für ein »bedeutsames« Ereignis. Ich bin mir sicher, das ist er nicht.

Sehr hübsch ist die Wendung, die das Buch noch auf den letzten Seiten nimmt, aber das sollen die Leser ruhig selbst entdecken.

Das Buch ist trotz seiner Kürze (es hat nur ein gutes Drittel des Umfangs der Vorläufer-Romane) nicht ohne Längen (insbesondere das dritte Kapitel fand ich zäh), und Frank schafft es auch auf der kurzen Strecke wieder, seinen Mitmenschen und dem Leser auf die Nerven zu gehen. Oder, um es mit den Worten seiner Tochter Clarisse zu sagen:

»Sei zur Abwechslung mal kein Arschloch, Frank. Sie stirbt.«

Wer sich mit Frank Bascombe trotz allem irgendwann einmal angefreundet hat, sollte dieses Buch auf keinen Fall verpassen. Was ich nicht recht einzuschätzen vermag, ist der Eindruck auf Leser, die Frank mit diesem Buch zum ersten Mal begegnen. Aber das muss ich ja vielleicht auch gar nicht können.

Richard Ford: Frank. Aus dem Englischen von Frank Heibert. Berlin: Hanser Berlin, 2015. Pappband, 223 Seiten. 19,90 €.

Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod

Der fröhliche Selbstmörder, der sich schon dreißig Jahre vorher darauf freut.

Zu Beginn von Woody Allens „Annie Hall“ erzählt Alvy Singer zwei Witze; der erste geht so:

Es gibt da einen alten Witz. Äh: Zwei ältere Damen sitzen in einem Catskill-Berghotel – sagt die eine: »Gott, das Essen hier ist wirklich schrecklich!« – sagt die andere: »Stimmt, und diese kleinen Portionen!« – Naja, und im wesentlichen sehe ich so auch das Leben.

Canetti_TodDas Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit und die Versuche zur Überwindung des Todes – mystisch als individuelle Unsterblichkeit, metaphorisch in der Erinnerung der Lebenden oder im Werk oder biologisch in den Nachkommen – sind bereits früh als entscheidende Antriebe menschlichen Handelns verstanden worden. Es wird aber wohl nur wenige Beispiele einer so ausgeprägten Todfeindschaft geben, wie sie „Das Buch gegen den Tod“ dokumentiert. Elias Canetti begriff sich als radikalen Gegner des Skandalons Tod und plante spätestens seit 1942 ein Buch gegen den Tod zu schreiben, zu dem aber letztendlich nie mehr als umfangreiche Notizen entstanden sind.

Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger haben nun aus den bereits veröffentlichten Notizen Canettis und dem Nachlass eine Auswahl zusammengestellt, die eine wenigstens ungefähre Vorstellung davon geben können, wie „Das Buch gegen den Tod“ hätte aussehen können. Etwa zwei Drittel des präsentierten Materials war bislang noch unveröffentlicht; angeordnet ist es chronologisch, wobei in jedem Jahr die bereits gedruckten Notizen den ungedruckten vorangestellt sind. Das Material bewegt sich vom aphoristischen Einzeiler über Zitate aus Zeitungen und Büchern bis hin zu autobiographischen Einträgen und Briefentwürfen, so etwa diejenigen, die sich um die Begegnungen und Auseinandersetzung mit Thomas Bernhard drehen.

Aus all dem ergibt sich kein einheitliches Bild, sondern eine Gemengelage diverser mythologisch und rationalistischer Zugriffe, die immer wieder neu gewendet und durchdacht werden. Hin und wieder finden sich ganz unvermittelt Gedanken von einer bemerkenswerten Originalität:

Zum Mond
Vielleicht fehlen noch Tote auf dem Mond. Mit den ersten Menschen, die dort zugrundegehen, mit seinen ersten Toten, wird er uns vertrauter werden. (S. 133)

Wer das zu Ende denken kann, wird sowohl dem Begriff der Heimat als auch dem Sinn von Friedhöfen ein ganzes Stück näher sein.

Interessanterweise fehlt der biologische Zugriff auf den Tod als eine notwendige Voraussetzung höherer Evolution beinahe vollständig. Ob dies an der Auswahl liegt oder ob dieser Aspekt erst sehr spät im Denken Canettis auftaucht, kann aus dem vorliegenden Material nicht beurteilt werden. Erst unter den Notizen aus dem Jahr 1993 taucht das folgende Fragment eines Gedankens auf:

Der Darwinismus, der aus dem Tod etwas Fortschrittliches macht. (S. 304)

Wenigstens ich finde es sehr schade, dass dies als Gegengewicht zu dem mythologischen Denken Canettis erst so spät, zu spät wirksam zu werden scheint.

Kein Buch für eine systematische Lektüre, aber eine anregende und in allen Teilen interessante Materialsammlung.

Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod. Hg. v. Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger. München: Hanser, 2014. Pappband, 352 Seiten. 24,90 €.

Jonathan Safran Foer: Extremely Loud & Incredibly Close

Nine out of ten significant people have to do with money or war!

Foer_ExtremlyEin weiteres Buch in meiner kleinen Lesereihe zum Thema Nine-Eleven, und bislang das literarisch weitaus überzeugendste. Foer gehört zu den erfindungsreichsten, phantasievollsten der ernstzunehmenden US-amerikanischen Autoren. »Extremely Loud & Incredibly Close« erschien 2005, also noch vor »Terrorist« (2006) und »Falling Man« (2007), und es ist zugleich indirekter und motivisch differenzierter als diese Nachfolger, bei denen man zumindest für Don DeLillo annehmen darf, dass er Foers Buch während der Niederschrift gekannt hat.

Erzählt wird die Geschichte vom neunjährigen Oskar Schell, der seinen Vater vor etwa einem Jahr beim Anschlag auf das World Trade Center verloren hat und immer noch heftig um ihn trauert. Oskar wurde von seinem Vater offenbar nie als Kind, sondern immer als junger Erwachsener behandelt. So ist Oskar zu einem etwas altklugen und zugleich ängstlichen Jungen geworden, der einen  stark naturwissenschaftlich geprägten Blick auf die Welt hat. Wahrscheinlich ist dies auch ein Grund dafür, warum es Oskar so schwer fällt, mit dem Gefühl der Trauer umgehen zu können. Der eigentliche Erzählanlass ist, dass er den Kleiderschrank seines Vaters durchstöbert und er dabei eine blaue Vase zerbricht, in der sich ein kleiner Umschlag mit einem Schlüssel findet. Auf dem Umschlag steht der Name Black, was Oskar, dessen Vater für ihn Forschungsexpeditionen erfunden hat, um seine Menschenscheu zu überwinden, dazu veranlasst, alle Blacks New Yorks zu recherchieren und einen nach dem anderen aufzusuchen, um das Geheimnis des Schlüssels zu entdecken.

Gleichzeitig wird die Geschichte der Großeltern Oskars erzählt, die aus Dresden stammen: Thomas Schell sen. hatte sich als junger Bildhauer in Anna verliebt und ein Kind mit ihr gezeugt. Bevor die beiden heiraten können oder das Kind geboren wird, kommt Anna bei der amerikanischen Bombardierung Dresdens (eine bewusste historische Spiegelung der Anschläge vom 11. September) ums Leben. Thomas wandert in die USA aus, wo er langsam verstummt und sich nur noch schreibend verständig. Als er bereits völlig verstummt ist, trifft er zufällig Annas Schwester, die den kontaktscheuen Mann zu einer Ehe drängt. Als sie gegen die ausdrücklich Verabredung der beiden schwanger wird, flieht Thomas Schell zurück nach Deutschland. Erst als er dort aus der Zeitung vom Tod seines Sohns erfährt, kehrt er nach New York zurück. Eine wichtigere Rolle als dieser Großvater, der überhaupt erst im letzten Teil des Buches leibhaftig in Oskars Leben auftaucht, spielt die Großmutter, die offenbar all ihre Liebe für den toten Sohn auf ihren Enkel übertragen hat und seine wichtigste Bezugsperson ist.

Die Suche nach dem Schlüssel erweist sich schließlich als kompletter MacGuffin, ausschließlich erfunden um Oskar in die Welt und unter seine Mitmenschen zu bringen. Das Buch folgt locker dem Muster des Entwicklungsromans; ob der Name Oskar für den etwas altklugen Jungen eine Anspielung auf »Die Blechtrommel« darstellt, ist zumindest bei einem ersten Durchgang nicht zu entscheiden.

Das Buch ist motivisch sehr reich aufgrund der zahlreichen Begegnungen Oskars mit den verschiedenen Blacks, deren Geschichten das stets wechselnde Widerlager zu Oskars Verlust bilden. Die parallel erzählte Leidensgeschichte der Großeltern fügt eine weitere Ebene hinzu, die dazu dient, die Singularität des Geschehens und des Schicksals der Opfer des 11. Septembers zu relativieren. Foers Blick auf den Anschlag ist nicht tagespolitisch, sondern historisch, auch wenn er letztlich absichtlich kindlich-naiv bleibt. Erwähnt werden sollte wohl noch der für einen Roman ungewöhnlich breite Einsatz von Fotomaterial, das Oskars Sicht auf seine Welt direkt visualisiert.

Jonathan Safran Foer: Extremely Loud & Incredibly Close. London: Hamisch Hamilton, 2005. Softcover, Fadenheftung, 355 Seiten.

Alan Bennett: Miss Fozzard findet ihre Füße

Als er endlich wieder herunterkommt, sagt er: »Sie halten das Haus aber in Ordnung.« »Ich war mal Lehrerin«, sage ich. »Und was haben Sie unterrichtet?«, fragt er. »Kinder«, sage ich. »Haben Sie welche?«, fragt er. »Sieht es hier so aus?«, frage ich.

978-3-8031-1276-7Fortsetzung des Bandes Ein Kräcker unterm Kanapee,die beide im Original des Titel »Talking Heads«, also Redende Köpfe tragen. Auch diesmal handelt es sich um Monologe, hier sieben an der Zahl, darunter auch das erste Stück »Eine Frau ohne Bedeutung«, mit dem Bennett die Form begründet hat. Geschrieben wurden alle Talking Heads für die BBC. Dieses Mal sind die Monologisierenden:

  • eine Antiquitätenhändlerin, die das Geschäft ihres Lebens verpasst,
  • eine Verkäuferin, die mit ihren Füßen einen lukrativen Nebenerwerb findet,
  • ein Kinderschänder,
  • die reinliche Frau eines Serienmörders,
  • die botanisierende Gattin eines Voyeurs,
  • eine an Alzheimer Erkrankte und
  • »Eine Frau ohne Bedeutung«.

Auch in diesem Band sind die Monologe geprägt von stiller Tragik und Selbstvergessenheit der Hauptfiguren und beziehen ihre Kraft aus der unglaublichen Verblendung der Protagonistinnen, von der der Leser zugleich begreift, dass es gerade so in den Köpfen der meisten zugehen muss, damit ihnen ihre Existenz überhaupt erträglich ist.

Alan Bennett: Miss Fozzard findet ihre Füße. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Berlin: Wagenbach, 2011. Leinen, Fadenheftung, 138 Seiten. 15,90 €.

Peter Noll: Diktate über Sterben und Tod

978-3-492-25723-7 Als das Buch 1984 erschien, habe ich es nicht wahrgenommen. Erst durch die Lektüre des Dritten Tagebuchs von Max Frisch, in dem Peter Nolls Sterben eine bedeutende Rolle spielt,  bin ich darauf aufmerksam geworden. Ich habe es nun als ein Seitenstück zu Max Frischs Werken zur Kenntnis genommen und auch nur deshalb wenigstens einigermaßen zu Ende gelesen; will sagen, das angehängte Theaterstück »Jericho« von Noll habe ich nicht mehr zur Kenntnis genommen.

Peter Noll war ein bekannter Schweizer Jurist, der im Dezember 1981 mit Blasenkrebs diagnostiziert wurde, es aber abgelehnt hat, sich operativ oder anderweitig behandeln zu lassen. Er wollte einen »natürlichen Tod«, wie es an einer Stelle heißt, ohne dass uns das Buch weiter darüber Auskunft gibt, was denn das für ein Phänomen sein soll. Noll nimmt, wohl angeregt durch Max Frisch, das Tagebuchschreiben auf, wobei er sympathischer Weise immer wieder große Zweifel an dem Sinn eines solchen Unternehmens hegt. Er verbreitet sich auf knapp 260 Seiten nicht nur über die Entwicklung seiner Krankheit, sondern auch über Recht und Unrecht, Recht und Macht, Evolution und Intelligenz und viele, all zu viele Male über Gott und Jesus Christus. Das ist verständlich, da er aus einem protestantischen Pfarrhaushalt stammt, macht das Buch aber leider nicht besser.

Das Buch ist weitgehend ungeordnet und bleibt, was die behandelten Themen angeht, oberflächlich. Hier und da findet sich ein netter kleiner Aphorismus, aber wie schon Karl Kraus so richtig bemerkte, fällt das Aphorismenschreiben denjenigen leicht, die es nicht können. Für einige Leser mag das Buch sentimentalen Wert haben, aber mir ist letztendlich unverständlich geblieben, warum das Buch bis heute im Druck ist. Immerhin handelt es sich mindestens um die siebte Auflage des Taschenbuches bei Piper, und auch von der gebundenen Ausgabe sind mehr als 90.000 Exemplare gedruckt worden. Nun denn.

Wie oben schon angedeutet, enthält das Buch einige Beigaben: So schließen sich an den eigentlichen Text eine kurze Beschreibung von Nolls letzten Tagen, die Totenrede Max Frischs, Nolls Drama »Jericho« von 1968 und ein Schriftenverzeichnis Nolls an.

Peter Noll: Diktate über Sterben und Tod. Mit der Totenrede von Max Frisch. Piper Taschenbuch 5723. München, Zürich: Piper, 2009. 374 Seiten. 9,95 €.

Max Frisch: Homo faber

978-3-518-36854-1 Wie schon erwähnt, ist bei mir gerade aus didaktischen Gründen Max Frisch »dran«. Ich hatte eigentlich vor Jahren innerlich mit der Frisch-Lektüre abgeschlossen. Frisch war bei mir einer der ganz frühen, wichtigen Autoren in der Lesegeschichte, aber eines Tages war es dann soweit, dass ich alles Belletristische von ihm wenigstens einmal gelesen hatte – von den architektonischen Texten fehlt mir das meiste, aber das hat mich nie sonderlich interessiert, und auch viele der politischen Traktate und Reden habe ich übersprungen –, die wichtigen Romane und Erzählungen auch mehrfach, so dass ich beruhigt denken durfte, es sei nun genug und es gäbe auch noch soviel anderes zu lesen. Nun habe ich aber vor einiger Zeit angefangen, Literatur zu unterrichten, und so kommt man zu den alten Texten doch noch einmal zurück. Im nächsten Semester steht dann auch Dürrenmatt wieder einmal auf dem Plan.

Homo faber ist bei der nun fünften oder vielleicht auch sechsten Lektüre wieder einmal ein Buch vor dem ich mit Staunen und Schrecken stehe. Schrecken über die streckenweise hölzerne, ungelenke Sprache, bei der ich mir auch heute noch nicht sicher bin, wie viel von ihr der Rollenprosa Walter Fabers geschuldet ist und wie viel schlicht dem Unvermögen des Autors. Da geht Faber ein »Ristorante […] durch den Kopf«, das Wort »komisch« wird ständig für »seltsam« oder »merkwürdig« eingesetzt, auch dort, wo sich daraus kein Doppelsinn ergibt, Vorzeitigkeit zum erzählerischen Präteritum wird mit dem Perfekt gebildet, ein Nominativ ersetzt einen Akkusativ, hier und da fehlt eine Negation im Satz, um ihn logisch konsistent zu machen, da gibt es »jüdische Pässe« und was der Flausen mehr sind. Wie gesagt: Einiges davon mag man auf das Konto des Erzähler Fabers buchen wollen, aber auch in anderen Texten Frischs geht es zuweilen sprachlich recht locker zu. Ich erinnere mich an eine Stelle aus Montauk:

BLUE RIBBON, die Lichtschrift rot wie Limonade in der Dämmerung.

Staunend allerdings stehe ich auch diesmal – und diesmal wohl mehr als je zuvor – vor dem motivischen Reichtum des Textes, vor der sorgfältigen Gestaltung der Erzählerfigur, vor dem Verzicht darauf, seinen Erzähler wenigstens bis zur der Einsicht gelangen zu lassen, die der Autor ihm voraushaben muss, weil der Autor weiß, dass ihm auch dieses Bildnis von sich und der Welt nichts helfen würde. Faber ist nicht mehr zu helfen, aus seiner Verblendung gibt es keinen anderen Weg als den Tod – und so stirbt er, als er endlich mit seinem Schreiben in seiner Gegenwart angekommen ist. Da Faber eine Figur ohne Zukunft ist, gibt es weiter nichts zu schreiben.

08.05 Uhr
Sie kommen.

Mit manchen Dingen schließt man vielleicht doch nie ab …

Max Frisch: Homo faber. Suhrkamp Tacshenbuch 354. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1977. 208 Seiten. 8,– €.

Miniaturen (9)

Im Osten […] lebte ein gewisser Mann, der über den Markt von Damaskus ging, als ihm der Tod von Angesicht zu Angesicht gegenübertrat. Er bemerkte einen Ausdruck der Überraschung in der Miene der schauerlichen Erscheinung, doch gingen sie wortlos aneinander vorüber. Der Mann bekam’s mit der Angst zu tun und suchte einen Weisen auf, sich Rats zu holen. Der Weise sagte ihm, daß der Tod vermutlich nach Damaskus gekommen sei, um ihn am nächsten Morgen zu holen. Der arme Kerl war darob naturgemäß höchstlich entsetzt und fragte, wie er dem entrinnen könne. Das einzige, was ihnen einfiel, war, daß das Opfer noch in der Nacht nach Aleppo reiten solle, um so dem Schädel und den blutigen Knochen zu entkommen.

Der Mann ritt also tatsächlich nach Aleppo – es war ein ungeheuer anstrengender Ritt, den noch niemand in einer einzigen Nacht geschafft hatte –, und als er dort war, ging er über den Markt und gratulierte sich, daß er dem Tod entgangen sei.

In diesem Augenblick kam der Tod und klopfte ihm auf die Schulter. »Entschuldige«, sagte er, »aber ich wollte dich holen.« »Wieso denn?« rief der Mann entsetzt, »ich hab’ gedacht, ich wär’ dir gestern in Damaskus begegnet!« »Genau das«, sagte der Tod. »Deshalb hab’ ich so überrascht dreingeschaut – denn mir war gesagt worden, ich würde dich heute in Aleppo treffen.«

T.H. White
Der König auf Camelot