Das Buch ist vortrefflich inszeniert worden: Bereits Monate vor der Veröffentlichung trat Walser in Interviews mit großer Attitüde auf und verkündet, es wieder einmal allen zeigen zu wollen: Jene Ulrike von Levetzow, die die Germanisten zu zeichnen pflegen, sei keinen Schuss Pulvers wert, jedenfalls nicht der Liebe eines Goethe. Er im Gegensatz dazu habe Goethe eine Ulrike gemacht, die sich vor dem Angesicht und der Liebe eines solchen Mannes sehen lassen könne. Als habe sie darauf gewartet; als habe sie das nötig gehabt.
Dann die offizielle Vorstellung des Buches in Weimar, was allein einer unbesehenen Erhebung in den literarischen Adelsstand gleichkommt, und zudem noch der Coup, dass der Bundespräsident der Veranstaltung beiwohnt. Und prompt überschlägt sich das Feuilleton mit Vorschusslorbeeren – Tasso gekrönt und hofiert, bevor auch nur einer eine Zeile des großen Werks gelesen hat; von Tassos Bescheidenheit aber bei Walser keine Spur.
Geschrieben ist das Buch in jener hölzernen Prosa, die auch schon frühere Bücher Walsers ausgezeichnet hat. Auch dieses Buch ist eher monologisch, repetitiv und eintönig geraten. Es scheint Walser nicht mehr groß darauf anzukommen, worüber er schreibt, er ergießt seine Sprache über alles und ebnet mit ihr alle Differenzen ein: In allen Teilen des Buches herrscht derselbe überspannte und überhöhte Ton, selbst dort, wo Entspannung oder Intimität behauptet wird. Mancher mag das für Stil halten, es ist aber nicht mehr als eine steife Manier, die jegliche Beweglichkeit, jede Angemessenheit an den verhandelten Gegenstand oder die konkrete Situation vermissen lässt und stets nur sich selbst setzt und niemanden und nichts zu Wort kommen lässt. Wie weit Walsers Sprache – trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen – von der Goethes entfernt ist, kann man exemplarisch an dem durchgehend verwendeten, hässlichen Wort „kriegen“ (im Sinne von „bekommen“) ablesen, das in diesem Buch wohl ungefähr sooft verwendet wird wie im Gesamtwerk Goethes – um von der Variante „mitkriegen“ ganz zu schweigen.
Inhaltlich ist das Buch so spekulativ, wie es angesichts der Quellenlage sein muss. Man kann Walsers Einfälle schätzen, seine Erfindungen glücklich finden; ebenso gut kann man die konkrete Fabel als albern, lärmend und langatmig bezeichnen. Ob es nötig ist, die einzige ausführliche authentische Quelle – die Aufzeichnungen der alternden Ulrike von Levetzow – Lügen zu strafen, mag ebenfalls eine Geschmacksfrage sein. Bezeichnender ist, dass Walser zum zentralen Goetheschen Text, der Marienbader Elegie, die vollständig abgedruckt wird, nichts als Allgemeinplätze und Phrasen mitzuteilen hat. Die besten Urteile sind noch die, die er aus den zeitgenössischen Quellen abschreibt – der Rest ist Schweigen. Dass die Marienbader Elegie entstanden ist, wird wahrheitsgemäß berichtet, wie sie aber möglich gewesen ist, bleibt demjenigen, der nur Walsers Goethe kennt, gänzlich unverständlich. Trotz des gewaltigen Aufwands an vorgeblicher Einsicht in die Goetheschen Gedanken bleibt Goethe dem Leser wesentlich fremd. Es ist schlicht falsch, dass Goethe in den Wochen und Monaten nach der Trennung in Karlsbad nichts als Getriebensein, Verzweiflung, Neigung zum Suizid erlebt und empfunden habe und ihm jene bei ihm stets vorhandene zweite, distanzierte und objektive Ebene der Reflexion unzugänglich geblieben wäre. Dass sie Walser fehlt, dokumentiert der Roman; dass und wie sehr sie Goethe zugänglich war, dokumentieren die vorhandenen Quellen. Dies als „Entsagungstheater“ oder „kulturellen Firnis“ denunzieren zu müssen, ist ein mehr als deutliches Indiz dafür, wie fremd Walsers Lamentieren dem Goetheschen Wesen geblieben ist.
Dass der Roman auch mit den historischen Tatsachen flüchtig und oberflächlich umgeht, ist bereits an einem Beispiel aufgezeigt worden. Es ist nicht das einzige. Offensichtlich war es sowohl dem Autor als auch dem Lektorat zu lästig, das Buch einmal gründlich anzuschauen. Mag auch sein, dass Walser wenigstens mit einem Satz Recht behalten hat:
Ich hatte nur den Eindruck, Ihnen sei in Ihrem Leben zu wenig widersprochen worden.
Das würde einiges erklären.
Bestürzend aber ist einmal mehr, als wie weit entfernt von Goethe sich ein Großteil des deutschen Kulturbetriebs gerade in den Momenten beweist, wo er ihn angeblich feiert. Goethe verkommt den Deutschen bei jedem Durchgang mehr zur Phrase.
Martin Walser: Ein liebender Mann. Reinbek: Rowohlt, 2008. Pappband, Lesebändchen, 287 Seiten. 19,90 €.