Fabio Stassi: Die letzte Partie

978-3-0369-5535-3 Ein Schach-Roman, wie die meisten anderen voller Fehler und Schlampigkeiten, weil die wenigsten Schriftsteller Schachspieler sind und noch weniger Schachspieler Schriftsteller. Diesmal dreht es sich um den dritten Schachweltmeister José Raúl Capablanca y Graupera (1888–1942), der den Titel 1921 dem alternden Lasker abgewann und ihn unerwartet schon 1927 an Alexander Aljechin wieder verlor. Den erzählerischen Rahmen des Buches bildet ein fiktiver Wettkampf zwischen Capablanca und einem namenlosen Amerikaner (es kann sich nach Lage der Dinge eigentlich nur um Samuel Reshevsky handeln), der 1941 in einem winzigen Ort in Portugal ausgetragen wird. Der Gewinner des Wettkampfes soll das Recht haben, gegen Aljechin um den Titel des Weltmeisters zu spielen.

Eingefügt in diesen erzählerischen Rahmen ist eine romanhafte Biografie Capablancas. Stassi betont in einer Vorbemerkung zum Buch, sein Held hieße »nur durch Zufall José Capablanca«, was wohl heißen soll, dass das Buch keinen Anspruch macht, zwischen Fiktion und historischer Tatsache zu unterscheiden. So ist es denn auch geworden: Frei erfundene Passagen, offenbare Anekdoten, Gerüchte und konkrete Lebensumstände werden munter miteinander gemischt. Man kann dem mit Vergnügen folgen, man darf es aber auch für gänzlich belanglos halten.

Ärgerlicher sind die in Schach-Erzählungen üblichen Schlampigkeiten, denen auch hier weder Autor noch Übersetzerin entkommen sind:

  • Beim Schach werden keine Notizblöcke verwendet, sondern Notationsformulare;
  • es gibt nichts in der Schachterminologie, das »eine Königsvariante« heißt;
  • der Satz »Unter Zugzwang machte er nie einen Fehler« ist blanker Unsinn, da Zugzwang genau die Situation im Schach bezeichnet, in der der Spieler durch seine Verpflichtung zu ziehen gezwungen ist, einen Fehler zu machen;
  • so etwas wie ein »Simultanschachturnier« existiert zwar, ist aber etwas anderes als die im Buch gemeinte »Simultanveranstaltung«;
  • Schachuhren surren nicht, sie ticken;
  • der Schachspieler Nabokovs heißt auf Deutsch Lushin und nicht Luzin, selbst wenn ihn die Italiener so schreiben sollten;
  • das 8×8-Schachbrett existiert nicht »seit Jahrtausenden«;
  • und auch das Folgende ist nur unfreiwillig komisch:

Wenn man keine groben Fehler beging, entschied sich alles am Schluss.
Nur am Schluss.

Nein, auch wenn man grobe Fehler begeht, entscheidet sich die Schachpartie stets am Schluss, nämlich dann, wenn sie aus ist.

Auch der Versuch, die historischen Rahmenbedingungen darzustellen, macht nur den Dilettantismus des Autors klar: Da weiß einerseits Capablanca bereits im März 1941, dass die Wehrmacht eines Tages in Moskau einmarschieren werde, und andererseits unterhält man sich angeblich 1938 in der Schweiz über die Erfolge Adolf Hitlers »bei den letzten Wahlen«.

Richtig ärgerlich ist aber Gewäsche wie dieses (ich kommentiere den Text fortlaufend in eckigen Klammern):

Die Figuren auf dem Schachbrett bildeten ein merkwürdig verzogenes Muster [eine ungewöhnliche Stellung], das nur schwer zu deuten war. Weiß hatte drei Bauern, einen Turm und beide Läufer und Springer eingebüßt. [Normalerweise sagt man, was noch auf dem Brett ist; die Information, welche Figuren Weiß eingebüßt hat, besagt gar nichts, solange wir nicht wissen, wie es bei Schwarz aussieht.] Wie es zu dieser seltsamen Konstellation gekommen war, wusste sich keiner der Anwesenden zu erklären. [Wahrscheinlich durch abwechselndes Ziehen der beiden Kontrahenten.] Schwarz war am Zug. Mit seinen kleinen Fingern hob José Raúl den Springer und verkündete [sagte] »Schach«, indem er ihn im Schutz des Läufers [gedeckt durch den Läufer] zwischen Dame und Turm platzierte. Der weiße König brachte sich in die letzte Reihe [auf der letzten Reihe] in Sicherheit. José Raúl zog einen der Türme in die Mitte des Spielfelds [ins Zentrum]. Der Unbekannte raubte [schlug] ihm einen Läufer und schöpfte neue Hoffnung. Doch Capablancas Turm wanderte [zog] zum Ende der Reihe [bis auf die Grundlinie? an den Rand?] und bot ein zweites Mal Schach. Der König wich zur Seite aus, wurde aber von der schwarzen Dame angegriffen. Er machte noch einen Schritt. [Mehr als einen Schritt pro Zug kann er wohl auch nicht machen.] Beharrlich zog der schwarze Turm nach. Der weiße Turm stellte sich ihm entgegen [wurde dazwischen gezogen]. José Raúl entwendete [schlug] einen Bauern. Da entfernte die weiße Dame selbstgewiss [es handelt sich um ein Stück Holz oder Elfenbein!] den schwarzen Springer. Dem Unbekannten war das Lächeln ins Gesicht zurückgekehrt, als hätte er nicht mehr einen Bengel von sechs Jahren vor sich, sondern als wäre er kurz davor, Golmayo oder Vázquez zu schlagen. José Raúl platzierte seine Dame ins letzte Feld [wo mag das »letzte Feld« eines Schachbretts sein?] und sagte mit seinem hellen Stimmchen ein viertes Mal: »Schach dem König.« Beruhigt begab sich der König in die Deckung seines Turms [zog der König hinter seinen Turm]. Dreist setzte Jose Raúl ihm seinen Turm vor die Nase und verkündete ein fünftes Mal Schach.

Es geht in diesem Stil noch einen ganzen Absatz weiter bis zum Schachmatt. Der Vorteil eines solchen Stils ist offensichtlich: Dem Nichtschachspieler wird der Eindruck eines wichtigen Geschehens vermittelt, ohne dass man ihm zumutet, wirklich etwas zu verstehen. Würde man ihm ein Diagramm einer konkreten Stellung zeigen und zudem eine konkrete Zugfolge, würde er bald ärgerlich, denn wenn er nach vieler Mühe vielleicht heraus hätte, was das Bildchen und die kryptischen Zeichen sollen, so müsste er feststellen, dass er dem Geschehen immer noch nicht folgen kann, ohne ein Schachbrett aufzubauen, wenn er denn überhaupt eines im Haus hat. Die wenigen Schachspieler, die sich über den poetischen Unfug ärgern, fallen da kaum ins Gewicht. Lesen die überhaupt Romane? – Angesichts des vorliegenden wahrscheinlich besser nicht!

Fabio Stassi: Die letzte Partie. Aus dem Italienischen von Monika Köpfer. Zürich: Kein & Aber, 2009. Pappband, Lesebändchen, 236 Seiten. 19,90 €.

Zwei amoralische Freunde

Der deutschen Ausgabe von Tim Weiners Geschichte der CIA – CIA. Die ganze Geschichte – wurde ein eigenes Vorwort verpasst. Als Einstieg nutzt der Verfasser die Assoziation zwischen den US-amerikanischen und deutschen militärischen Geheimdiensten im Sommer 1945. Um die Situation zwischen den beiden Geheimdiensten mit einer griffigen Allegorie zu fassen, benutzt er das Ende des Spielfilms Casablanca:

Der damalige Augenblick war das Spionage-Pendant zum letzten Satz des großartigen, 1942 gedrehten Kriegsfilms Casablanca, als der amoralische Rick Blaine, gespielt von Humphrey Bogart, sich zu seinem ebenso amoralischen neuen Verbündeten, dem französischen Polizeichef und Kollaborateur Louis Renault, gespielt von Claude Rains, umdreht und sagt: »Louis, ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.« [S. 13 f.]

Wenn es in Casablanca überhaupt Moralisten gibt, dann sind es gerade diese beiden Zynikern des Stücks. Und gerade ihre gemeinsame Moralität bildet wohl die Grundlage jener »wunderbaren Freundschaft«.

Wollen hoffen, dass der Rest des Buches besser geraten ist.

Kleist → Kehlmann → Goldt → Kraus

Der Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, Prof. Dr. Günter Blamberger (Köln), teilt in einem Rundschreiben »u. a.« mit:

Die Kleist-Jury hat Daniel Kehlmann als Vertrauensperson für den Kleist-Preis 2008 bestimmt und dieser hat als Preisträger Max Goldt ausgewählt, einen Prosakünstler, den Sie vor allem als Kolumnist der ‚Titanic‘ kennen, als einen, der in den letzten 20 Jahren den deutschen Alltag zur Kenntlichkeit entstellt hat – in Witz, Scharfsinn, ästhetischem Urteilsvermögen dem großen Sprachkritiker Karl Kraus vergleichbar.

Nun ist ja manches vergleichbar, aber Goldt und Kraus?

Vor solchem Helden hat es mir gegraut,
da wagt’ ich höchstens diese wenigen Verse:
Er gleicht dem Siegfried durch die dicke Haut
und dem Achilles durch die Ferse.

Aus dem Verein sollte ich wohl auch besser wieder austreten.

May und Kafka

Der Bamberger Verleger Lothar Schmid, der seit 1951 mitverantwortlich für die gleichzeitige Glorifikation und Verhunzung des Schreiberlings Karl May und seiner sogenannten Werke ist, versucht den Freistaat Sachsen dazu zu bringen, den Nachlass seines Zugesels für die Summe von 15 Millionen Euro zu kaufen. Dort scheint man allerdings realistischere Vorstellungen vom »Wert« eines solchen Überbleibsels zu haben und bietet – gnädig genug – für den Haufen Unsinn immerhin noch 3,5 Millionen Euro an. Lothar Schmid jault deshalb. Immerhin, so sagt er in einem Interview mit Eckart Baier für das Börsenblatt des deutschen Buchhandels (Heft 16-2008, S. 17), hätten »Nachlassteile [sic!] eines anderen berühmten Autors, Franz Kafka, den siebenfachen Preis erzielt«. Etwas erstaunt fragt Baier nach:

Ist es denn legitim, Karl May mit Franz Kafka zu vergleichen?
Schmid: Selbstverständlich. Beide sind auf ihre Art geniale und wichtige Schriftsteller.

Wohlgemerkt: »auf ihre Art«!

Jesu sahniger Same

sananda_galilaa 1. Es ist nicht einfach, dieses Buch richtig einzuordnen: Die Gattungsbezeichnung „Biographie“ im Untertitel „Die Biographie Jesu“ könnte einen verleiten, es für einen nicht fiktionalen Text zu halten. Auch die Webseite des Verlages legt unter der Überschrift „Wie dieses Buch entstand“ nahe, dass es der Autor für eine Schilderung von Tatsachen hält. In diesem Fall wäre das Buch nicht zu rezensieren, da es dann kein Artefakt wäre, sondern Symptom für eine Psychose des Autors. Statt einer Rezension sollte daher die Empfehlung gegeben werden, dass sich der Autor rasch in fachkundige Behandlung begibt. Sowas kann böse enden, wenn man das schleifen lässt.

2. Gehen wir aber davon aus, dass der Autor nur ein wenig Schwierigkeiten mit dem Konzept der Fiktionalität hat, so behauptet die Einführung des Buches, dass einem Erzähler, der zufällig denselben Namen trägt wie sein Autor, im Rahmen eines therapeutischen Verfahrens Erzählungen zahlreicher wiedergeborener Seelen zugänglich wurden, die alle unmittelbar mit Jesus von Nazareth zu tun hatten. Das Buch erzählt anschließend die Lebensgeschichte Jesu aus den wechselnden Perspektiven dieser Seelen. Geschrieben ist das Buch in etwas, das der Autor wohl für einen Stil hält. Und das sich hauptsächlich dadurch auszeichnet, dass Nebensätze mit einem Punkt abgetrennt werden. Was im Deutschen eher unüblich ist.

Die Erzählung steht inhaltlich in eklatantem Widerspruch zu den ältesten vorliegenden Quellen zum Leben Jesu und deutet den spirituellen Gehalt dieser Quellen grundlegend um. Jesus ist ein Mensch, von Menschen gezeugt und von Menschen – scheinbar – getötet. Er überlebt die Kreuzigung, weil ihm der Apostel Markus im legendären Essig-Schwamm ein Gift verabreicht hat, das ein vorzeitiges Ableben simulierte. Nach der Auferstehung reist Jesus nach Zypern und von dort aus nach Samarkand, wo er noch rasch ein paar Buddhisten den Buddhismus erklärt, bevor seine Seele in die Arme des Herrn zurückkehrt.

Insoweit ist das Buch unerheblich, da es den spirituellen Gehalt der christlichen Legende weitgehend ignoriert und verflacht. Der Autor wäre wahrscheinlich besser beraten gewesen, seine Geschichte frei zu erfinden, wäre dann allerdings Gefahr gelaufen, dass der Leser sie rasch als so unerheblich durchschaut hätte, wie sie ist. Da ist es dann schon cleverer, sie der Legende von Jesus aufzupfropfen, was nicht zuletzt durch die Tatsache bewiesen wird, dass ich das Buch hier bespreche.

Herzlich gelacht habe ich nur an zwei Stellen: Eine wurde im Titel oben schon paraphrasiert. Während nämlich Maria Magdalena als erfahrene Gunstgewerblerin Jesus in verschiedene Sexualpraktiken einweist, findet sich bei der Lektion zum Oralsex auch Gelegenheit, die Qualität des Samens des Heilands positiv zu vermerken:

Schließlich konnte er es nicht mehr halten. Und kam in meinen Mund. Sein Samen war sahnig und fein.

Na, wenn das kein Abendmahl ist! Die andere überaus spaßhafte Bemerkung entschlüpft dem Autor, als Jesus nach der Auferstehung gern etwas zu trinken hätte:

»Liebste.«, sagte er heiser. »Ich habe Durst.«
In der Nacht hatten uns Josephs Leute versorgt. Ich sah am Eingang des Grabes Krüge stehen. Und Tonbecher. »Ich habe Wein.«
»Dann gib mir bitte Wein. Unvermischt. Ich hatte einen schlechten Tag. Und einen noch schlechteren Morgen.«

„Liebling, bin wieder da! Hast Du einen Wein für mich? Ich hatte heute einen echt schweren Tag am Kreuz!“ – So lieben wir unsere Götter!

3. Der Grund, warum ich das Buch überhaupt rezensieren wollte, war, dass es als Sachbuch beworben wurde, in dem es um die Datierung der Geburt von Jesus von Nazareth gehe. Dazu ist das Buch allerdings unergiebig. Nur eine Fußnote gibt trocken und ohne weitere Erklärungen folgende Daten:

Die Geburt fand am 9. Feb. 15 n. d. Zw. um 15:26 Uhr Ortszeit statt.
Sechs Tage später, also am 14. Feb., stand Mars genau zwischen Jupiter und Saturn.

Sehen wir davon ab, dass der 14. nicht sechs, sondern fünf Tage nach dem 9. liegt: Angehängt ist diese Fußnote an einen Satz, der dem gerade geborenen Jesuskind zugeschrieben wird: „Durch die Tür sah ich Mars, wie er rückwärts zwischen Saturn und Jupiter lief.“ Wahrscheinlich ist damit gemeint, dass sich Mars rückläufig am Himmel bewegt haben soll. Die Rückläufigkeit von Planeten ist ein optisches Phänomen, das den Astronomen der Antike große Erklärungsschwierigkeiten bereitet hat. Es entsteht dadurch, dass die Erde an einem der oberen Planeten vorbeiläuft und dieser Planet dabei optisch vor der Fixsternsphäre zurückbleibt. Diese Rückläufigkeit ist bei Mars besonders auffällig, da Mars der Erde bei diesem Überholvorgang astronomisch relativ nahe ist und so ein erheblicher optischer Effekt entsteht. Nun kann man leider in einem Blick nicht erfassen, ob ein Planet gerade rückläufig ist, sondern kann dies nur aus Beobachtungen an mehreren Tagen oder wenigstens zu verschiedenen Stunden erkennen.

Nun wäre Jesus nicht Jesus, wenn er nicht – und das kurz nach seiner Geburt, wenn bei normalen Babys das Sehvermögen noch gar nicht so ausgebildet ist, dass sie ein weit entferntes Objekt wie den Mars sehen könnten – sofort erkennte, dass Mars rückläufig ist. Nun wäre Jesus aber leider auch dann nicht Jesus, wenn er sich dabei irrte, und das tut er, zumindest, wenn er – wie der Autor angibt – am 9. Februar 15 geboren sein soll. Denn im Jahr 15 wurde Mars um den 22. Juli herum rückläufig, und sowas geschieht höchstens einmal in einem Jahr. So ein Pech aber auch!

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.

Das Jahr 15 ist ansonsten kein origineller Einfall des Autors, sondern eines der bekannten Spekulationsdaten eben aufgrund der erwähnten nahen Konstellation von Mars, Jupiter und Saturn, die astronomisch selten ist und für astrologisch bedeutsam gehalten wurde und wird. Da die Amtszeit des Pontius Pilatus aus anderer Quelle gesichert ist, muss Sananda seinen Jesus spätestens am Passah-Fest im Jahre 36 kreuzigen lassen, so dass er bei ihm zu diesem Zeitpunkt erst 21 ist. Auch dies ist ein eher ungünstiger Widerspruch zu den biblischen Quellen, die das Wirken Jesu in sein 30. bis 33. Lebensjahr verlegen. Zwischen einem 20- und einem 30-Jährigen werden auch die Apostel recht sicher haben unterscheiden können. Aus diesem Grund steht das Jahr 15 in der biographischen Forschung zu Jesus von Nazareth auch kaum ernsthaft zur Debatte.

Aber Schwamm drüber! Reden wir nicht weiter davon!

Uwe Sananda: Galiläa Zeitenwende. Die Biographie Jesu. Weingarten: Next-Books.de, 2008. Broschur, 184 Seiten. 12,50 €.

(geschrieben für Literaturwelt)

James Hamilton-Paterson: Kochen mit Fernet-Branca

hamilton-paterson Ein Buch mit zwei Ich-Erzählern als Protagonisten: Gerald, Engländer, der sein Geld als Ghostwriter für Sportstars verdient, und Marta, Staatsangehörige des fiktiven »Woinowien« (wahrscheinlich nach dem polnischen »Woiwod«, Herzog), eine junge Komponistin, gerade dabei einen Film-Score zu schreiben. Beide leben als Nachbarn in der Toskana und finden einander unerträglich. Der Leser kann sich in beide Meinungen leicht einfühlen. Beide zeichnen sich durch »tragische Dummheit« aus, wie der Autor Gerald während einer seiner zahlreichen unerträglichen Raunzerein einmal äußern lässt.

Das Buch weist über die erste Hälfte hin keinerlei erkennbares Thema auf. Da das auch dem Autor aufgefallen ist, versorgt er uns auf der Seite Geralds mit obskuren Kochrezepten und auf Martas mit der Geschichte ihrer Gangsterfamilie. Wenigstens das letztere zeigt im weiteren Gang der Handlung noch einige belanglose Konsequenzen. Ansonsten geistern noch Gerald nächster Kunde, ein zu verbiographierender Popstar, der vor Geralds endloser Arroganz am Ende doch noch Gnade findet, und Martas Auftraggeber, ein italienischer Regisseur, der gesellschaftskritische Pornos dreht. Er ist zwar als einzige Figur in der Lage, wenigstens ein annähernd menschliches Gespräch zu führen, quatscht am Ende aber auch bloß seitenweise Unfug über das Kino und die Gesellschaft daher, der wahrscheinlich witzig gemeint ist.

Klassischer Humor erschöpft sich in einigen bemühten Slapstick-Einlagen und einem zaghaften Versuch, eine Komödie der Irrungen zu starten, mit der der Autor aber gleich seine eigene Gangstergeschichte stört, weshalb er den Versuch nach wenigen Seiten durch eine umfassende Aufklärung abbricht. Ansonsten soll man es wohl lustig finden, dass wer schlecht Englisch spricht, an UFOs glaubt oder ständig im Hubschrauber ankommt und wegfliegt.

Insgesamt wohl ein Buch, das auf ein allgemeines Ressentiment der Leserschaft spekuliert, obwohl zu befürchten ist, dass der Autor dies teilt, es aber durch eine durchgängig ironische Erzählhaltung unkenntlich zu machen versucht. An einer Stelle fällt der Name Hegel und sticht so einsam aus dem ganzen unsäglichen Gequatsche heraus, dass er allein genügt klarzumachen, dass der Autor auch nicht den geringsten Schimmer hat, worüber er da eigentlich schreibt.

James Hamilton-Paterson: Kochen mit Fernet-Branca. Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring. btb 73565. Verlagsgr. Random House, 2007. 364 Seiten. 9,00 €.

Dunkel war’s, der Mond schien helle …

In seiner soeben erschienenen Biographie Josephs von Eichendorff zitiert Hartwig Schultz gleich zu Anfang den offensichtlich an der Goetheschen Selbstdarstellung in »Dichtung und Wahrheit« ironisch entlang geschriebenen Bericht Eichendorffs von den äußeren Umständen seiner Geburt:

Es war eine tiefe, stille, klare Winternacht des Jahres 1788, die Konstellation war überaus günstig, Jupiter und Venus blinkten freundlich auf die weißen Dächer, der Mond stand im Zeichen der Jungfrau und mußte Schlag Mitternacht kulminieren.

Schultz merkt dazu an:

Alle Umstände der Geburt sind in den autobiographischen Entwürfen, die unter dem Titel Unstern überliefert sind, so präzise beschrieben, daß der Leser annehmen muß, der Autor habe sich genau erkundigt. Eichendorff gibt nicht nur die Wetterbedingungen zum Zeitpunkt seiner Geburt an, sondern scheint auch den Stand der Gestirne ergründet zu haben – ganz so genau hat er es aber doch nicht genommen, da die Venus um Mitternacht natürlich längst untergegangen ist. [S. 7]

Liest man Eichendorffs Text genau, so bemerkt man, dass dort gar nicht steht, Venus sei um Mitternacht noch am Himmel sichtbar gewesen, sondern nur, dass der Mond um Mitternacht habe kulminieren müssen. Nun hat Schultz aber dennoch recht, er weiß es bloß nicht, da er – wie unter Germanisten üblich – lieber halbgebildet daherfaselt, als sich auch nur für fünf Minuten mit einer fachfremden Sache ernsthaft zu befassen. Ansonsten hätte er nämlich herausfinden können, dass am 8. März 1788 Neumond gewesen ist und der noch nicht zwei Tage alte Mond am 9. März schon vor 8 Uhr abends, etwa eine Stunde vor der Venus, untergegangen war. Von einer Kulmination um Mitternacht konnte also gar keine Rede sein. – Ja, wenn man’s nur ein bißchen tiefer wüßte.

Oliver Gehrs: Der Spiegel-Komplex

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Weitgehend eine journalistische Luftnummer: Weder für das offensichtlich beabsichtigte Skandalbuch noch für eine Biographie Austs wird ausreichend Material präsentiert. Zudem sollte der Titel besser »Mein Aust-Komplex« heißen, denn bis der Autor mit seinem Objekt tatsächlich beim Spiegel in Hamburg angekommen ist, sind zwei Drittel des Buches vorüber.

Das Buch ist geprägt durch einen mäkelnden Grundton, den Gehrs wahrscheinlich für eine Form des kritischen Journalismus hält. Selbst wenn Aust einmal etwas fraglos richtig macht, hat Gehrs noch etwas auszusetzen. Was Gehrs letztlich auszusetzen hat, bleibt aber unklar: Dass Aust sein Fähnlein nach dem Wind hängt, versteht sich von selbst – er ist ein Journalist; dass Aust als Journalist das zum Thema macht, was ihn selbst betrifft, versteht sich ebenso von selbst – er ist ein Mensch; dass Aust (selbst nach dem Urteil Gehrs) viel arbeitet, um Geld zu verdienen, versteht sich wiederum von selbst – auch Gehrs dürfte ein Buch mit dem Titel »Der Spiegel-Komplex« nicht aus rein altruistischen Motiven heraus geschrieben haben.

Gehrs ist seinem Gegenstand weder sprachlich noch intellektuell oder moralisch gewachsen. So deutet er etwa an vier verschiedenen Stellen des Buches eine Beziehung zwischen Kati Witt und Aust an (Witt habe so unsägliche Dinge getan, wie Aust in der Redation des Spiegel abzuholen oder mit ihm im Berliner Restaurant Borchardt zu ›schmusen‹), ohne dass auch nur an einer Stelle klar würde, was er damit eigentlich mitteilen will. Wen geht das etwas an? Und was soll es dem Leser über Aust oder den Spiegel sagen? An anderen Stellen macht er sich über Austs bevorzugte Hemdenfarbe, seine Körpergröße oder seine Brille lustig. Das alles ist sehr dürftig und höchstens ein Beweis von schlechtem Geschmack. Kants Kategorischer Imperativ lautet in Gehrs Fassung: »Handle stets so, wie Du auch behandelt werden möchtest.« Vielleicht erklärt ihm bei Gelegenheit mal ein gutmeinender Philosoph den Unterschied zwischen dem Kategorischen Imperativ und der Goldenen Regel. Zum Ausgleich lernen wir dann noch eine neue Art von Latein kennen:

… nur wenige Schritte von dem Ort entfernt, an dem Kaspar Hauser am 14. Dezember 1833 von einem Unbekannten mit einem Messer so schwer verletzt wurde, dass an der Stelle nun ein Gedenkstein steht. »Hier wurde ein Geheimnisvoller auf geheimnisvolle Art getötet«, so lautet die lateinische Inschrift.

Nein, die Inschrift des Gedenksteins lautet »Hic occultus occulto occisus est«, was soviel bedeutet wie das, was Gehrs als Zitat anführt. Doch vielleicht meint Gehrs auch, eine laxe Sprache und unpräzise Gedanken seien Tugenden der Polemik. Wenigstens darin würde er sich täuschen.

Die merkwürdigste Stelle im ganzen Buch war für mich aber diese:

Jahre danach stellt Aust einen jungen Redakteur nicht ein, weil der ihm verschweigt, über den Fall berichtet zu haben. »In Bewerbungs­gesprächen«, schreibt Aust in den Brief mit der Absage, »wird nicht gelogen.«

Da habe ich mir still ein »inde ira et lacrimae?« an den Rand notiert.

Oliver Gehrs: Der Spiegel-Komplex. München: Droemer, 2005. 335 Seiten. 19,90 €.

Eine dumme Geschichte

lewyckaWieder einmal habe ich mich durch einen originellen Titel auf der Bestsellerliste verführen lassen: Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch ist verführerisch, leider ist es auch schon das Originellste am ganzen Buch! Marina Lewycka erzählt die Geschichte einer »späten Liebe«: Der 84-jährige, verwitwete Nikolai Majevski, gebürtiger Ukrainer, ehemaliger Ingenieur und nach dem Zweiten Weltkrieg englischer Staatsbürger geworden, verliebt sich in eine 36-jährige Ukrainerin Valentina, die sich von ihrem ukrainischen Ehemann, mit dem sie einen Sohn hat, scheiden lässt, um Nikolai zu heiraten. Offensichtlich hat es Valentina auf einen Tausch abgesehen: Sie prostituiert sich ein wenig und erhält im Gegenzug dafür einen – in ihren Augen – begüterten Ehemann und die englische Staatsbürgerschaft für ihren Sohn und sich. Soweit ist das nichts besonderes.

Erzählt wird die Geschichte durch Nadia, eine der beiden Töchter Nikolais, die sich nach anfänglichem Zögern mit ihrer Schwester Vera verbündet, um der neuen Ehe ihres Vaters ein rasches Ende zu bereiten. Die beiden Schwestern intrigieren, so gut sie können; Valentinas ungezügelter Egoismus tut das seine dazu, und das schließliche Auftauchen von Valentinas Ex-Ehemann, der als Deus ex machina nach einigen belanglosen Verwicklungen Valentina und ihren Sohn wieder mit sich zurück in die Ukraine nimmt, lässt alles »ein gutes Ende« nehmen.

Bis hierhin möchte das alles einigermaßen angehen und einen halbwegs akzeptablen Unterhaltungsroman abgeben. Was das Buch über weite Strecken ungenießbar macht, ist die rücksichtslose Verwendung von Klischees durch die Autorin. Am schlimmsten trifft es Valentina, der keine Dummheit erspart wird, kein menschlich-sympatischer Zug auch nur für einen einzigen Moment gegönnt wird. Das Peinlichste am Buch aber ist, dass der durchgespielte Konflikt durch den uneingeschränkten »Sieg« der beiden Schwestern über die unerwünschte Rivalin aufgelöst wird. Valentina erscheint als Täterin, die schließlich ihre gerechte Strafe erhält: Autorin, Erzählerin und Figuren geben sie der Lächerlichkeit preis, die sie selbst ihr zugeschrieben haben. Das ist so plan und einfallslos, zugleich so unmenschlich und selbstgerecht wie ein Buch nur sein kann. Leider überlagert diese Dummheit des Textes all das, was hätte gelingen können: Den Versuch der Tochter, sich in die Lebensgeschichte ihrer Eltern einzufühlen, die Versöhnung der Schwestern miteinander, die durch die gemeinsame Opposition gegen Valentina eingeleitet wird, das aus Naivität und schmerzlicher Erinnerung gespeiste Buch Nikolais über die Geschichte des Traktors und schließlich auch jeden Hauch von Humor, den das Buch vielleicht hätte haben können.

Marina Lewycka: Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch. Deutscher Taschenbuch Verlag, 2006. Broschur, 359 Seiten. 14,– €.

Bertina Henrichs: Die Schachspielerin

Henrichs_SchachspielerinManchmal wundere ich mich doch, was es so alles auf die Bestsellerlisten schafft. Normalerweise bleibt mir das erspart, weil ich nur ganz selten Bücher von den Bestsellerlisten lese und das auch nur, wenn sich starke Gründe einfinden, die sich gegen die aus dem Bestseller-Status resultierenden Vorurteile durchsetzen. Aber diesmal hat mich der Titel verführt; ich hätte widerstehen sollen.

Der deutsche Text entspringt aus einer merkwürdigen Konstellation: Die Autorin ist Deutsche, lebt aber seit 18 Jahren in Frankreich und hat »ihren ersten Roman« – wie der Waschzettel das Büchlein ironisch nennt – auf Französisch geschrieben, »damit ihre Familie in Paris ihn ohne Übersetzung lesen kann.« Soweit, so gehöft. Nun würde ich erwarten, dass einer Autorin ihr Text so wichtig ist, dass sie ihn selbst in ihre Muttersprache übersetzt, um ihn so original zu erhalten, wie es nur möglich ist. Der Text ist aber von Claudia Steinitz in ein hölzernes Etwas übertragen worden, das sie wahrscheinlich für Deutsch hält. Gleich auf der ersten Seite steht die preiswürdige Stilblüte: »Eleni hatte keinen Blick für das Schauspiel hinter ihrem Rücken.« Es ist weder die einzige noch die schlimmste.

Die Fabel des Buches fällt unter das Bennsche Diktum, das Gegenteil von Kunst sei nicht Natur, sondern gut gemeint. Erzählt wird über ein griechisches Zimmermädchen auf Naxos in den besten Jahren, das seinem Ehemann zum Geburtstag in einer romantischen Anwandlung einen Schachcomputer schenkt. Da der sich nicht für das Ding interessiert, beginnt sie in einer schlaflosen Nacht, sich selbst mittels der Gebrauchsanweisung das Spiel beizubringen. Da sie bald merkt, dass sie allein nicht recht vorwärts kommt, wendet sie sich um Hilfe an ihren alten Lehrer, der – wie der Zufall so spielt – in seinen jungen Jahren ein passabler Spieler gewesen sein muss.

Bertina Henrichs füllt nun einige Seiten mit angelesenen Schachtermini – dass sie nichts von der Sache selbst versteht, zeigt sich spätestens dann, als sie ihre Heldin an einer Stelle mit Weiß einen beschleunigten Drachen spielen lässt – und kommt dann zur Krise des Buches: Eleni verrät ihrer besten Freundin, dass sie nun Schach spielt und wird – verständlicher Weise – zum Gespött der Menschen auf Naxos. Warum es alle diese Menschen so fürchterlich finden, dass Eleni Schach spielt, weiß die Autorin auch nicht so genau. Sie vermutet wahrscheinlich, andere Menschen müssten ähnliche Vorurteile dem Spiel gegenüber hegen wie sie selbst: Wer »stundenlang über den nächsten Zug nachdenkt«, muss einer Art asozialen Wahns verfallen sein.

Aus der Krise gibt es nur einen Ausweg: Eleni muss an einem Turnier in Athen teilnehmen. Warum das ein Ausweg aus der Krise ist, anstatt sie zu verschärfen, weiß die Autorin genausowenig, aber wir haben inzwischen auch nichts mehr erwartet. Während Eleni in Athen Schach spielt, stirbt ihr alter Lehrer an einer verschleppten Lungenerkrankung. Eleni verliert in der dritten Runde des Turniers (offenbar also ein K.O.-Turnier, das, um den Witz abzurunden, an nur vier Brettern gespielt wird), gerade rechtzeitig, um von der Nachricht vom Tod ihres Lehrers nicht aus der Bahn geworfen zu werden. Sorgenvoll, aber innerlich gestärkt und seltsam verwandelt kehrt sie auf ihre Insel zurück, nicht erwartend, dass ihr Ehemann voller Stolz ihrer Rückkehr entgegenschläft.

Eine Empfehlung an alle Schachspieler: Lassen Sie die Finger davon! Ich sage nur noch eines: Im ganzen Buch kommt nicht eine einzige Schachuhr vor! Weder bei der Vorbereitung auf das Turnier noch bei dem großen Turnier selbst scheint Eleni Bekanntschaft mit den Nöten der Zeitkontrolle gemacht zu haben.

Wer allerdings eine schmalzige, in weiten Teilen einfallslos und klischeehaft erzählte Geschichte in schlechtem Deutsch lesen will, sollte dieses herzerwärmende Buch nicht an sich vorübergehen lassen!

Bertina Henrichs: Die Schachspielerin. Hoffmann und Campe, 2006. Pappband; 143 Seiten. 15,95 €.