Patricia Highsmith: Der Junge, der Ripley folgte

War das der Weg, die Jugend zu belehren? Banalitäten zu brüllen?

Highsmith-Ripley-4Im Jahr 1980 erschien der vierte Ripley-Roman. Seine Handlung ist zwei Jahre früher angesetzt, also etwa 25 Jahre nach dem ersten Ripley-Abenteuer (das 1955 erschien) und knapp zehn Jahre nach der Handlung von „Ripley’s Game“. Ripley dürfte also inzwischen auf die 50 zugehen, er lebt immer noch in Villeperce in der Nähe von Paris, ist immer noch mit Héloïse verheiratet, macht immer noch kleine, illegale Geschäfte mit Reeves Minot aus Hamburg und selbst die alte Derwatt-Connection existiert noch. Alles, was zu einer gutbürgerlichen Existenz zu fehlen scheint, sind Kinder. Also verpasst Highsmith ihrem Helden ohne Gewissen einen Sohn.

Es ist kein leiblicher Sohn, sondern ein junger Mann, der sich etwas verirrt hat in der Welt und eines Abends Ripley von einer Kneipe aus nachgeht und so ihre Bekanntschaft provoziert. Der Junge ist US-Amerikaner und arbeitet in einem Dorf in der Nähe als Gärtner. Ripley hegt sehr bald den Verdacht, dass es sich um Frank Pierson handeln könnte, vermisster Sohn eines kürzlich in den USA zu Tode gekommenen Lebensmittel-Magnaten. Diese Ahnung erweist sich als richtig – wie übrigens alle weiteren Ahnungen und Vermutungen Ripleys durch den ganzen Roman –, und zwischen den beiden entspinnt sich sehr rasch ein erstaunliches Vertrauensverhältnis. So gesteht Frank rasch und ohne gedrängt worden zu sein, dass er es war, der seinen Vater getötet hat, indem er dessen elektrischen Rollstuhl auf der Klippe hinter dem Anwesen der Familie in Maine in Gang gesetzt und seinen Vater zu Tode habe stürzen lassen. Anschließend sei er, obwohl nur von einer alten Haushälterin verdächtigt, der aber niemand glaubt, mit dem gestohlenen Pass seines älteren Bruders nach Europa weggelaufen und habe seitdem in England und Frankreich gelebt. Von Ripley wisse er durch seinen Vater, der ein (gefälschtes) Gemälde Derwatts besaß und die Verwicklungen aus „Ripley Under Ground“ in den Zeitungen verfolgt hatte.

Nach seinem Geständnis adoptiert Ripley den jungen Mann ad hoc: Er holt ihn in sein eigenes Haus, bewahrt so gut es geht das Inkognito Franks und will ihn nicht nur vor potentiellen Entführern beschützen, sondern besorgt ihm sogar einen gefälschten Pass und reist mit ihm nach Deutschland, als Franks Bruder zusammen mit einem Privatdetektiv in Paris auftaucht. Die Wahl des Reiseziels fällt auf Berlin, da man dort die wenigsten amerikanischen Touristen vermutet. Doch auch in Berlin wird Frank Pierson nahezu sofort erkannt und bei einem Ausflug in den Grunewald umgehend entführt, womit die Kriminalhandlung dieses nur hilfsweise als Krimi zu lesenden Romans beginnt. Nachdem Ripley bei einer gescheiterten Geldübergabe einen der Entführer erschlagen hat, gelingt ihm eine abenteuerliche Aktion, bei der er als Frau verkleidet die Entführer vom Ort einer vorgeblichen zweiten Geldübergabe aus verfolgt, in deren Wohnung eindringt, die Entführer in Panik versetzt und zur Flucht veranlasst und Frank unverletzt befreit. Nach einem Umweg über Hamburg bringt Ripley Frank nach Paris zu Bruder und Privatdetektiv, ja, er entschließt sich auch noch, Frank in die USA zu begleiten. Angesichts der vorherigen Männerfreundschaften Ripleys dürfte es keinen Leser verwundern, das auch Frank Pierson das Ende des Romans nicht erlebt.

Nachdem ich an „Ripley’s Game“ kritisiert hatte, dass die psychologische Charakterisierung des zweiten Protagonisten Jonathan Trevanny aufgrund der Fülle aufgeregter Handlungen zu kurz gekommen war, ist dieses Verhältnis hier vollständig umgekehrt. Zwar spielt Highsmith offenbar kurz mit dem Gedanken einer möglichen Verwicklung Ripleys in die Folgen des Deutschen Herbstes – die Entführung und Ermordung Hanns Martin Schleyers wird ausdrücklich erwähnt –, aber letztlich erweisen sich die Entführer Franks als eine Gruppe von Dilettanten ohne erkennbare politische Motive. Im Zentrum steht dagegen diesmal die Vater-Sohn-Beziehung Ripleys und Franks, wobei sich Highsmith selbst über diese merkwürdige emotionale Konstruktion lustig macht, wenn sie Ripley zusätzlich auch noch zu Franks Adoptiv-Mutter macht in dem Moment, als er sich anschickt, den Jungen aus den Händen der Entführer zu befreien. Auch diesmal erweist sich Ripley wieder als eine bemerkenswerte Mischung von empathischer und gefühlloser Natur: Einerseits geht er sorgsam und einfühlsam mit dem jungen Mann um, erweist sich zugleich als verantwortungsbewusst, indem er ihm zuredet, zu seiner Familie zurückzukehren, andererseits gelingt es ihm nahezu augenblicklich, jede Trauer um Franks Tod zu verdrängen und sich bruchlos wieder in sein altes Leben zu finden.

In erzähltechnischer Hinsicht ist es nett zu beobachten, wie Highsmith sich an dem Problem abarbeitet, den abschließenden Tod Franks ausreichend zu motivieren: Sie glaubt selbst nicht so recht, dass die Gewissensbisse des Jungen über die Tötung seines Vaters dafür ausreichen, sondern sie baut zusätzlich noch eine unglückliche Liebesgeschichte zu einer nie leibhaftig auftretenden Teresa (sozusagen Highsmith’ Rosaline) ein, um den für die Ripley-Romane charakteristischen Abgang des zweiten Protagonisten zu garantieren.

Ripley muss letztendlich allein bleiben, koste es, was es wolle, selbst wenn er in Frank wenigstens für eine Weile jemanden findet, in dem er sein früheres Selbst (Unsicherheit, Weltfremdheit, Verlangen nach Anerkennung und Liebe) widergespiegelt sehen kann. Ripley will in Frank wohl wesentlich noch einmal sich selbst retten, und nur weil der Junge eine ausreichende Projektionsfläche für diesen Narzissmus bietet, bemüht er sich so hartnäckig um ihn. Und so gerät dieser Roman zu dem psychologisch wohl spannendsten der Reihe.

Patricia Highsmith: Der Jungen, der Ripley folgte. Aus dem Amerikanischen von Matthias Jendis. detebe 23418. Zürich: Diogenes, 2006. Broschur, 476 Seiten. 11,90 €.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

978-3-446-23634-9Ein Buch vom Sterben des Vaters. Arno Geiger erzählt von der Entwicklung der Demenzerkrankung seines Vaters und von seinem langsam Schwinden aus der Welt. Es ist zugleich eine berührende Liebeserklärung an den Vater, den Arno Geiger schon fast für sich verloren geglaubt hatte, zu dem aber aber durch die Krankheit einen Weg zurück findet. Was die Krankheit des Vaters den Sohn lehrt, ist Geduld zu haben und die Bereitschaft zu entwickeln, in der Welt des Vaters zu leben, da der nicht mehr in die des Sohnes wechseln kann. Der Schriftsteller lernt die aus der Demenz heraus entwickelte neue Sprache des Vaters schätzen, findet in ihr schließlich auch den ursprünglichen Charakter des Vaters wieder, den er schon verloren geglaubt hatte. Ja, es ist sogar so, dass die Familie, die sich schon weit auseinandergelebt hatte, aufgrund der Krankheit des Vaters wieder näher zusammenrückt.

Nebenbei fallen natürlich auch einige Betrachtungen über Krankheit und Tod im allgemeinen ab:

Das Alter als letzte Lebensetappe ist eine Kulturform, die sich ständig verändert und immer wieder neu erlernt werden muss. Und wenn es einmal so ist, dass der Vater seinen Kindern sonst nichts mehr beibringen kann, dann zumindest noch, was es heißt, alt und krank zu sein. Auch dies kann Vaterschaft und Kindschaft bedeuten, unter guten Voraussetzungen. Denn Vergeltung am Tod kann man nur zu Lebzeiten üben.

Oder:

In der Zeitung heißt es, dass Kakerlaken auf dem Bikini-Atoll Atombombentests überlebt haben und dass sie am Ende auch die Menschheit überleben werden. Schon wieder etwas, das mich überleben wird. Ich hatte mich schon damit abgefunden, dass mich der Wein und die Mädchen überleben werden. Aber dass es Kakerlaken geben wird, die sich ihres Lebens erfreuen, während ich habe abtreten müssen, das schmerzt ein wenig.

Ein berührendes Buch, das die Vorwürfe, die ihm in einigen Feuilletons gemacht wurden, durchaus nicht verdient hat.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. München: Hanser, 2011. Pappband, 189 Seiten. 17,90 €.

David Gilmour: Unser allerbestes Jahr

978-3-10-027819-7Eine ungewöhnliche Vater-Sohn-Geschichte, in lakonischem Ton erzählt. Es handelt sich um eine autobiographische Erzählung eines kanadischen Autors, dessen heranwachsender Sohn sich so sehr mit der Schule quält, dass er ihm anbietet, er müsse nicht mehr dorthin gehen, falls er bereit sei, sich zum Ausgleich pro Woche drei Filme zusammen mit dem Vater anzusehen. Der Vater hat eine Filmhochschule besucht, was verständlich macht, dass er das Anschauen von Filmen für ein alternatives Erziehungsprogramm hält. Das Buch heißt denn auch im Original »The Film Club«, was dem deutschen Verlag wahrscheinlich ein zu männlicher Titel war, weshalb er ihm den nicht nur belanglosen, sondern auch noch sachlich falschen deutschen Titel verpasste: Das Buch beschreibt nämlich drei Jahre dieses Vater-Sohn-Experiments und nicht nur eines.

Abgesehen davon ist das Buch eine nette Unterhaltungslektüre, von deren cineastischer Ebene man allerdings nicht zu viel erwarten sollte. Die Filmauswahl selbst ist gut, wenn auch in weiten Teilen dem Mainstream folgend und nur hier und da für echte Tipps gut. Die Besprechung der Filme durch Vater und Sohn hat ja nach Film recht unterschiedliches Gewicht, doch nichtsdestotrotz bekommt der Junge eine solide Einführung ins kritische Anschauen von Filmen. Und zumindest ich kann niemandem böse sein, der »Ishtar« schätzt. Ansonsten erfahren wir auch viel über die ersten Liebesbeziehungen des Sohnes, bei denen der Vater den Sohn zu stützen versucht, wo er kann; dann auch ein wenig über die erste und zweite Ehe des Vaters (der Sohn stammt aus der ersten Ehe), dessen Schwierigkeiten, Arbeit zu finden, von Abenteuern auf Kuba und der frühen Gesangskarriere des Sohnes. Alles in allem muss man wohl sagen, dass es sich bei David Gilmour um einen außergewöhnlich coolen Vater handelt.

Ein entspanntes Buch, dessen Hauptforce darin besteht, wenig Aufhebens von sich zu machen. Es wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2010 nominiert.

David Gilmour: Unser allerbeste Jahr. Aus dem Englischen von Adelheid Zöfel. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2009. Pappband, Lesebändchen, 254 Seiten. 18,95 €.