Eine weitere Literaturgeschichte

Rommel_KlassikerWie vor einiger Zeit schon einmal festgestellt, scheint es derzeit eine ungewöhnliche Nachfrage nach kurzgefassten Literaturgeschichten zu geben. So versuchen sich auch kleinere Verlage daran, von diesem Bedarf zu profitieren. Der im Januar 2006 gegründete merus verlag legt mit »50 Klassiker der Weltliteratur« von Thomas Rommel einen entsprechenden Titel vor. Der Autor ist Literaturprofessor an der Jacobs University in Bremen, einer privaten Universität, die 1999 gegründet wurde.

Positiv überrascht erst einmal die Auswahl an Werken, die Rommel bespricht. Natürlich fehlen Standards wie Goethes »Faust« (hier nur der Tragödie erster Teil) oder Shakespeares »Hamlet« nicht, aber mit Stanislaw Lems »Solaris« oder auch Bernard Mandevilles »Die Bienenfabel« beweist der Autor Originalität. Außerdem erlaubt er sich bei den ausgewählten Werken hier und da ungewöhnliche Zugriffe, wenn er etwa bei Schiller »Das Lied von der Glocke« bespricht oder Heinrich von Kleist mit seinem am wenigstens originellen Stück »Amphitryon« vorstellt. Alle Beiträge haben eine Länge von etwa 2½ Seiten, wobei einige durch umfangreichere Zitat aufgefüllt zu sein scheinen.

So weit, so gut. Leider ist damit auch alles Positive bereits gesagt. Stichproben in den einzelnen Artikeln fördern schnell Oberflächlichkeiten, Fehler und falsche Zugriffe zutage. Einige Beispiele: Bei der Besprechenung von James Joyces »Ulysses« schreibt Rommel:

Der Roman ist wie Homers Odyssee in 18 Kapitel unterteilt […]. (S. 77)

Da hätte Herr Rommel besser einmal einen Blick in sein eigenes Buch geworfen, denn im Artikel zu Homers »Odyssee« steht ganz richtig:

In 24 Büchern oder Gesängen, die in etwa verbundenen Kapiteln entsprechen, werden die Abenteuer des Königs Odysseus beschrieben. (S. 69)

Und diese Zahl ist natürlich alles andere als zufällig, denn Homers »Odyssee« ebenso wie seine »Ilias« haben so viele Gesänge wie das klassische griechische Alphabet Buchstaben. Hier zeigt sich die ordnende Hand späterer Editoren.

Aber solche Fehler sind natürlich Kleinigkeiten. Schon etwas peinlicher sind Stilblüten dieser Art:

Starbuck, der amerikanische Maat, der Harpunier Queequeg, der am ganzen Körper tätowiert ist, und von dem es heißt, er sein ein Kannibale, Tubb von der amerikanischen Ostküste, der Indianer Tashtego und Daggoo, ein schwarzer Hüne von unbändiger Kraft; sie alle sehen in Ahab einen Menschen, der sein Schicksal herausfordert. Und das führt am Ende des Buches zum Untergang – […]. (S. 112)

Nein, es ist Ahabs Besessenheit, die die Pequod schließlich in die Katastrophe führt, nicht die Einschätzung seiner Person durch seine Schiffskameraden. Auch das überflüssige Komma weist darauf hin, dass dem Buch ein gründliches Lektorat gut getan hätte.

Wirklich schlimm aber wird es, wenn sich Rommel der älteren Literatur zuwendet: Seine Darstellung von Sophokles’ »König Ödipus« etwa zeigt sowohl ein umfassendes Unverständnis des Stücks als auch Unkenntnis der Umstände, unter denen es entstanden ist. Rommel bespricht das Stück, als sei es von einem modernen Autor für ein modernes, mit den antiken Mythen nur mäßig vertrautes Publikum geschrieben: »Das Stück beginnt wie ein Krimi« (S. 143). Er glaubt daher auch, das Stück enthalte

Andeutungen […] und versteckte Hinweise […], die das Publikum sehr schnell in die Lage versetzen, den tragischen Ausgang des Geschehens zu erahnen. […] Spätestens jetzt ahnt das Publikum, dass Ödipus, der mächtige König von Theben, ein tragischer Held ist. (S. 142)

Sophokles’ Publikum musste natürlich nichts dergleichen »erahnen«, es kannte schlicht den Mythos und seinen Ausgang. Es war auch nicht gespannt, wer denn wohl der Mörder des alten Königs Laios sein könnte, weswegen das Stück eben auch keinerlei Ähnlichkeit mit einem Krimi hat. Und so hätte Sophokles wahrscheinlich auch nicht die Meinung Rommels geteilt, »dass die Götter sein [Ödipus’] Schicksal zynisch gegen ihn gerichtet haben« (S. 144), sondern im Gegenteil wohl die Auffassung vertreten, dass Ödipus sich der Hybris schuldig machte, als er glaubte, er könne durch seine Entscheidungen und Handlungen seinem Schicksal entgehen. Einmal ganz abgesehen davon, dass es in Sophokles’ Stück einen unheimlichen Moment gibt, indem das gesamte Gedankenkonstrukt, auf dem die Schicksalstragödie basiert, infrage gestellt wird, als nämlich Iokaste darauf verweist, dass sich der alte Spruch des Orakels von Delphi, der Laios seinen Tod durch die Hand seines Sohnes vorhergesagt hatte, gar nicht erfüllt habe.

Apollons Spruch blieb also unerfüllt: Der Sohn
ermordete den Vater nicht, und Laïos
fand nicht den Tod von Sohneshand, vor dem ihm bangte.
Das war der Inhalt des Orakels, darum brauchst
du keine Sorgen dir zu machen. Will ein Gott
erfüllen einen Zweck, vollbringt die Tat er offen.

An dieser Stelle steht die Tragödie konzeptionell auf Messers Schneide. Ödipus könnte sich hier beruhigen mit der Auskunft seiner Frau, dass sich Orakelsprüche eben auch nicht erfüllen können und sich der Mensch keine Sorgen machen solle, da die Götter ohnehin handeln, wie es ihnen beliebt. Und gerade an dieser Stelle zeigt sich Ödipus tief erschüttert, ohne dass er wissen kann, was ihn ergreift.

OIDIPUS.
Was ich jetzt eben hören mußte, Iokaste,
versetzt mich in Verwirrung, regt mich schrecklich auf.
IOKASTE.
Welch eine Sorge kann dich denn so stark erregen?

Aber das ist in seinen Konsequenzen natürlich bei weitem zu komplex für eine solche kurze Literaturgeschichte. Es soll damit bloß angedeutet werden, dass der Horizont, in den Sophokles sein Stück eingestellt hat, ein gänzlich anderer ist als der, den Rommels moderner Krimi-Ansatz anbietet.

Resümierend muss festgestellt werden, dass das Inhaltsverzeichnis des schmalen Bändchens leider schon das Beste an ihm ist. Hinzu kommt der für 160 broschierte Seiten horrende Preis von 14,90 €.

Thomas Rommel: 50 Klassiker der Weltliteratur. Bücher lesen und verstehen. Hamburg: merus verlag, 2006. Broschur, 160 Seiten. 14,90 €.

Was geschah mit Schillers Schädel?

schmitz_schaedelUnter diesem Titel hat Rainer Schmitz, Kulturredakteur beim Focus, ein – im Sinne des Wortes – wundervolles, über 1700 Seiten mit je zwei engbedruckten Spalten umfassendes Lesebuch zur Literatur verfasst. Es kommt zwar als Lexikon daher, ist aber schon aufgrund der zum Teil obskuren Lemmata als solches nur in Einzelfällen zu gebrauchen. Aber es ist eine unerschöpfliche Fundgrube dessen, was der Untertitel verspricht: »Alles, was Sie über Literatur nicht wissen«. Einiges weiß man dann zwar doch, aber vieles eben doch nicht oder doch nicht so genau. Es ist beinahe gleichgültig, wo man das Buch aufschlägt, man setzt gleich mit dem Lesen ein und taucht ein in eine Welt von Anekdoten, skurrilen Geschichten, Wissenssplittern, Kürzestgeschichten usw. usf.

Dabei ist das Buch im Detail durchaus unzuverlässig und flüchtig geschrieben, auch finden sich schnell echte »Böcke«:

Tausendundeine Nacht. Das schönste, märchenhafteste, exotischste, orientalischste, meistübersetzte, meistillustrierte, meistverfilmte und auch vielfach vertonte (Turandot) Werk der Weltliteratur – die Erzählungen aus tausendundeiner Nacht – sind dem weltweit größten, bedeutendsten, umfangreichsten Nachschlagewerk zur Literatur – dem 22bändigen, mit 22.203 eng bedruckten Seiten gefüllten Kindlers Neues Literaturlexikon (München 1988 bis 1998) – keine einzige Erwähnung wert.

Das wäre freilich ein hübscher Fund, wenn es denn stimmen würde; tut es aber natürlich nicht. In Band 18 (Anonyma) des KNLL, also da, wo es hingehört, findet sich auf den Seiten 97 bis 101 unter dem Lemma »Alf laila wa-laila« ein ausführlicher Eintrag über die »1001 Nächte«. Der Artikel ist auch ohne Arabisch-Kenntnisse gut zu finden, wenn man in dem richtigen Register des KNLL, nämlich dem für »Anonyme Werke«, nach »Tausendundeine Nacht« sucht.

Aber solche Fehler und auch die in manchen Fällen unkritische Übernahme von Gerüchten, literarischen Legenden und offensichtlich erfundenen Anekdoten tun dem Buch wenig Abbruch: Es ist ein Märchenbuch für Literaturbeflissene, ein Lesebuch für die Zeit zwischen zwei Romanen, ein Band zum Schmökern und eine wahre Fundgrube von Anregungen, Verweisen und Lesetipps. Nur als Nachschlagewerk sollte man es eben nicht benutzen. Darf in keinem »echten« Bücherschrank fehlen!

Rainer Schmitz: Was geschah mit Schillers Schädel? Alles, was Sie über Literatur nicht wissen. Frankfurt/M.: Eichborn, 2006. Pappband, 1827 Seiten, zwei Lesebändchen. 39,90 €.