Philip Roth: Die Kepesh-Trilogie

Philip Roth hat zwischen 1972 und 2001 drei Erzählungen veröffentlicht, in denen der Literaturprofessor David A. Kepesh als Ich-Erzähler fungiert. Der Auftakt-Text »The Breast« (1972) ist eine vergleichsweise kurze Erzählung, während es sich bei den beiden anderen Texten, »The Professor of Desire« (1977) und »The Dying Animal« (2001), um Romane handelt, auch wenn der spätere eher ein Kurzroman ist.

Reflect upon eternity, consider, if you are up to it, oblivion, and everything becomes a wonder. Still, I would submit to you, in all humility, that some things are more wondrous than others, and that I am one such thing.

Roth_LOA_02»The Breast« erzählt eine kurze, abgegrenzte Episode aus dem Leben David Kepeshs: In den frühen Morgenstunden des 18. Februars 1971 verwandelt sich der 38-jährige Literaturprofessor in eine 155 Pfund schwere, weibliche Brust. Kepesh wird bei der Verwandlung ohnmächtig und kommt erst im Krankenhaus wieder zu sich. Er ist blind, kann aber hören und sprechen und so mit seiner Umwelt kommunizieren. Seine regelmäßigen Besucher sind seine 25-jährige Freundin Claire, sein Psychiater Dr. Klinger und sein Vater.

Zwar wird für die Verwandlung selbst irgendeine (schlecht erfundene) medizinische Begründung geliefert, aber Kepesh kommt zu dem nicht unwahrscheinlichen Schluss, dass er wahnsinnig geworden sein muss, da die Verwandlung eines Mannes in eine Brust schlicht unmöglich sei. Kepesh wehrt sich eine ganze Zeitlang erfolgreich gegen die Versuche Dr. Klingers, ihn von der Realität der Verwandlung zu überzeugen, aber – wie Sigmund Freud so treffend bemerkte – erkennt natürlich niemand einen Wahn, solange er ihn noch teilt. Ob Kepeshs Wahn allerdings darin besteht, sich einzubilden, eine Brust zu sein, oder darin, sich einzubilden wahnsinnig zu sein, bleibt bis zum Ende der Erzählung aufgrund ihrer konsequenten Ich-Perspektive unentschieden. Auch findet am Ende der Erzählung keine Rückverwandlung oder irgend eine andere Art von Vermittlung zwischen der Fiktion und der sogenannten Wirklichkeit der Leser statt.

Bei »The Breast« handelt es sich offensichtlich um Literatur aus Literatur. Roth schätzt die Belesenheit seiner US-amerikanischen Leser nicht sehr hoch ein und liefert daher die wichtigsten Quellen seiner Erzählung explizit mit: Kepesh hält einen regelmäßigen Kurs über europäische Literatur, in dem unter anderem auch Franz Kafkas »Die Verwandlung« und Nikolaj Gogols »Die Nase« (1836) behandelt werden. Während ich die Fabel von »Die Verwandlung« als bekannt voraussetzen darf, will ich die der »Nase« wenigstens in ihren Grundzügen nacherzählen: Ein Petersburger Barbier findet eines Morgens beim Frühstück in dem von seiner Frau frisch gebackenen Brot die Nase eines seiner Kunden, des Kollegienassessors Kowalow. Er beseitigt sie, in dem er sie in ein Taschentuch gewickelt in die Newa wirft. Kowalow bemerkt ebenfalls das Fehlen seiner Nase, an deren Stelle sich eine glatte Fläche in seinem Gesicht findet. Kurze Zeit später erkennt Kowalow seine Nase in der Gestalt und Uniform eines Staatsrates wieder. Nach einigen absurden Verwicklungen wird Kowalow seine Nase von der Polizei wieder zugestellt, da sie sich als Hochstapler erwiesen hat und verhaftet wurde. Auch wenn die Nase zuerst nicht wieder mit dem Gesicht ihres Besitzers zusammenwachsen will, so geht doch alles gut aus, als Kowalow eines Morgens unvermittelt wieder mit der Nase an der richtigen Stelle seines Gesichtes erwacht. Gogol beschließt die Novelle mit folgenden Reflexionen:

Aber das Seltsamste, Unbegreiflichste an der Sache ist, wie es nur Schriftsteller geben kann, die sich solche Gegenstände wählen. Ich muß gestehen, das ist mir das Allerunbegreiflichste … in der Tat, das geht vollständig über mein Begriffsvermögen! Denn erstens hat das Vaterland nicht den mindesten Nutzen davon, und dann zweitens – aber auch zweitens springt kein Vorteil dabei heraus. Kurz, ich weiß nicht, was das soll …

Aber dennoch, trotz alledem, obwohl man schließlich dies und jenes und noch ein drittes zugeben kann und vielleicht sogar … wo gibt es denn übrigens keine unsinnigen Dinge? – Wie man die Geschichte auch drehen und wenden mag, irgend etwas ist doch daran. Man rede, was man will, solche Dinge gibt es in der Welt – zwar nur selten, aber sie kommen vor. [Übers. v. Wilhelm Lange.]

Als dritte Quelle weist Roth auf Swift hin, insbesondere auf die zweite von Gullivers Reisen, aus der er offenbar mehr oder weniger direkt die Idee der riesigen weiblichen Brust bezieht:

Den meisten Widerwillen erregten mir aber die Ehrendamen (wenn meine Wärterin mich zu ihnen brachte), wenn sie alle Rücksichten mir gegenüber beiseite setzten, als sei ich ein geschlechtsloses Geschöpf; denn sie pflegten sich nackt auszuziehen und ihre Hemden anzuziehen, während ich auf ihrem Putztisch gerade vor ihren entblößten Gliedern stand […]. Die schönste dieser Ehrendamen, ein hübsches und munteres Mädchen von sechzehn Jahren, setzte mich mitunter mit gespreizten Beinen auf eine ihrer Brüste und spielte mir mehrere Streiche, deren Übergehung der Leser hier entschuldigen wird, da ich nicht langweilig werden will. [Übers. v. Franz Kottenkamp.]

Für den heutigen Leser hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass diese Erzählung eine unmittelbare Reaktion auf das ist, was gerne als die sexuelle Revolution bezeichnet wird. Diesen Zusammenhang wird Roth in der letzten Kepesh-Erzählung weit deutlicher thematisieren. Dass eine satirische Behandlung der Mammae-Fixierung eines bedeutenden Teils der US-amerikanischen Männer (und wahrscheinlich auch des Autors) ein offensichtliches Thema der Zeit gewesen sein muss, kann man an der schönen Koinzidenz ablesen, dass im selben Jahr wie die Erzählung auch Woody Allens Film »Everything You Always Wanted to Know About Sex« in die Kinos kam, in dem in einer Episode als Ergebnis des Experimentes eines verrückten Wissenschaftlers eine gigantische Brust aus einem Labor ausbricht und die Umgebung terrorisiert.

 

Szene aus Woody Allens »Everything You Always Wanted to Know About Sex«
Szene aus Woody Allens »Everything You Always Wanted to Know About Sex«
(© United Artists 1972)

 

And I can’t stand him any more. But then i can’t stand anyone. Everything everyone says is somehow wrong and drives me crazy.

Roth_LOA_03Fünf Jahre nach dieser literarischen Handübung mit satirischen Untertönen liefert der Roman »The Professor of Desire« die Vorgeschichte des Ich-Erzählers David Kepesh. Beginnend mit seiner Kindheit als Sohn eines jüdischen Hotelbesitzers in den Catskills erzählt David Kepesh seine Lebensgeschichte bis zum Ende der 60er Jahre. Er entkommt aus den proviziellen Verhältnissen seines Elternhauses an die Universität, wo er sich trotz ersten Ablenkungen durch seine sexuelle Begierde als außergewöhnlicher Student erweist und daher für ein Jahr als Fulbright-Stipendiat nach London gehen darf.

In London erst beginnt sein Sexualleben aufzublühen: Nach ersten Abenteuern mit Prostituierten lernt er zwei zusammenlebende Schwedinnen, Elisabeth und Brigitta, kennen und beginnt zuerst mit der einen, dann mit beiden zugleich ein sexuelles Verhältnis. Diese Dreieck scheitert, als Elisabeth versucht sich umzubringen; der Versuch scheitert, und sie kehrt nach Schweden zurück. Kepesh ist zwar von Gewissensbissen geplagt, wohnt aber weiterhin mit Brigitta zusammen und nimmt auch bald darauf die sexuelle Beziehung zu ihr wieder auf. Diese Erziehung des Gefühls gipfelt in einer gemeinsamen Tour durch Frankreich und Europa, die eine offensichtliche Parodie auf die Kavaliersreisen des 18. und 19. Jahrhunderts darstellt. Für Kepesh ist es klar, dass seine bevorstehende Rückkehr in die USA das Ende seiner Beziehung zu Brigitta bedeuten wird; als auch ihr klar wird, dass Kepesh sie nicht mitzunehmen gedenkt, beendet sie das Verhältnis mit ihm sang- und klanglos.

Die Erzählung überspringt ökonomisch einige Jahre und setzt mit dem Beginn von Kepeshs Beziehung zu Helen Baird wieder ein. Helen ist das, was man ein It-Girl nennt. Sie ist aus den spießigen US-amerikanischen Verhältnissen nach Südostasien geflohen, wo sie eine Zeitlang als Gespielin der Reichen und Schönen zugebracht hat. Als einer der Tycoone ihr anbietet, zu ihren Gunsten seine Gattin beseitigen zu lassen, überkommen sie moralische Zweifel, und sie flieht vor ihrem Halbwelt-Leben zurück in die USA, wo sie von Kepesh auf einer Party aufgelesen wird. Er heiratet Helen, die allerdings angesichts der bürgerlichen Verhältnisse, in die sie durch diese Ehe geraten ist, in Depressionen verfällt und sich mit dem Konsum von Alkohol und Drogen betäubt. Verzweifelt flieht sie erneut nach Hongkong und landet dort im Gefängnis, aus dem Kepesh sie mit der Hilfe eines ihrer alten Freunde befreien und in die USA zurückbringen kann. Mit dieser Episode endet die Ehe.

Nach der Scheidung verfällt Kepesh selbst in eine Phase der Depression; er wechselt von der West- an die Ostküste der USA, beginnt den uns schon bekannten Psychiater Dr. Klinger zu sehen und lernt schließlich nach einer ganzen Weile Claire Ovington, eine Grundschullehrerin, kennen, die ihn körperlich an Helen erinnert (beide Frauen haben natürlich große Brüste), der aber Helens Neurosen und Depressionen ganz und gar fremd sind. Mit Claire beginnt die glückliche Phase in Kepeshs Leben. Er entspannt sich und hier und da scheint es fast, als gelinge es ihm für ein Weilchen einfach nur er selbst zu sein, anstatt ständig inneren und äußeren Ansprüchen, Selbst- und Fremdbildern nachzulaufen. Kepesh reist mit Claire nach Europa, und in Venedig glückt es ihm sogar beinahe, mit der Erinnerung an Brigitta Frieden zu schließen. Das Paar kehrt schließlich nach einem Abstecher über Prag (womit das für »The Breast« zentrale Thema Kafka eingeholt wird, dessen Vorbildcharakter in »The Professor of Desire« übrigens von Tschechow übernommen wird) in die Staaten zurück, wo sie sich für den Sommer ein Haus mieten und das Zusammenleben ausprobieren. Der Roman klingt aus mit einer längeren Episode, in der Davids Vater ihn und Claire besucht, was Gelegenheit dazu gibt, den Tod als Thema in den Roman einzuführen. Ich musste unwillkürlich an den Satz Thomas Buddenbrooks denken: wenn das Haus fertig ist , so kommt der Tod.

Als leise, aber unverkennbar ironische Variation des Musters des klassischen Entwicklungsromans liefert »The Professor of Desire« ein solides Fundament für die Kafka/Gogol-Parodie von »The Breast«; allerdings hätte die kurze, phantastische Erzählung von der Verwandlung eines ordentlichen Professors in das obskure Objekt seiner Begierde kaum im Anschluss an diese Vorgeschichte geschrieben werden können oder zumindest nicht in der unvermittelten Weise, wie dies geschehen ist. Es ist daher kein kleiner Glücksfall, dass David Kepesh im Augenblick seiner Verwandlung das Licht der Literatur erblickt hat.

 

Akt von Modigliani aus dem Museum of Modern Art, New York
Akt von Modigliani aus dem Museum of Modern Art, New York

 

People think that in falling in love they make themselve whole? The Platonic union of souls? I think otherwise. I think you’re whole before you begin. And the love fractures you. You’re whole, and then you’re cracked open.

Roth_LOA_08Erst 2001 erscheint der dritte und letzte Text um David Kepesh. In »The Dying Animal« (der Titel ist ein Yeats-Zitat) ist der Ich-Erzähler inzwischen 70 Jahre alt. Er erinnert sich erzählend an eine acht Jahre zurückliegende Affäre mit einer seiner Studentinnen, Consuela Castillo, der 24-jährigen Tochter eines wohlhabenden kubanischen Exil-Ehepaars, die körperlich dem Grundmuster von Helen und Claire folgt: eine kräftige Frau mit ausladenden Brüsten. Die Affäre dauert anderthalb Jahre und endet, als Kepesh nicht auf der Feier von Consuelas Studienabschluss erscheint, weil er auf dem Weg zum Haus der Castillos von Furcht vor der Begegnung mit der Familie Castillo und dem Bewusstsein der Lächerlichkeit seiner Rolle überwältigt wird. Consuela verzeiht ihm seine Ausrede, dass sein Wagen liegen geblieben sei, nicht.

Die Trennung stürzt Kepesh wieder einmal in eine existenzielle Krise, die er erst nach drei Jahren einigermaßen überwunden hat. Doch am Silversterabend des Jahres 1999 meldet sich Consuela, von der er seit der Trennung nur einige Postkarten erhalten hat (darunter auch eine mit dem Akt Modiglianis, der oben zu sehen ist und von Kepesh ausdrücklich als das Alter Ego Consuelas bezeichnet wird), telefonisch bei ihm und besucht ihn kurz darauf. Sie kommt, um ihm zu sagen, dass man bei ihr Brustkrebs festgestellt und dass sie eine Chemotherapie hinter sich habe und eine Operation in Kürze bevorstehe, bei der man ihr einen Teil der rechten Brust entfernen wird. Sie bittet Kepesh, Fotos von ihr zu machen, die ihren Körper so festhalten, wie Kepesh ihn gekannt und geliebt hat. Anschließend verschwindet sie wieder für einige Wochen, nur um ihm dann mitzuteilen, dass der Operationstermin nun feststehe und man ihr die ganze rechte Brust wird entfernen müssen.

Erzählt wird dies alles als langer Monolog Kepeshs vor einem anonym bleibenden Zuhörer an dem Tag, als Consuela sich wieder bei Kepesh meldet. Consuela ist in Todesangst, und der Text endet damit, dass Kepesh aufbrechen will, um ihr beizustehen. Nur an dieser einen Stelle kommt der Zuhörer von Kepeshs Monolog zu Wort:

Stay if you wish. If you want to stay, if you want to leave . . . Look, there’s no time, I must run!
»Don’t.«
What?
»Don’t go.«
But I must. Someone has to be with her.
»She’ll find someone.«
She’s in terror. I’m going.
»Think about it. Think. Because if you go, you’re finished.«

Mit diesem Satz beendet Roth die Geschichte David Kepeshs. Er ist auch der Grund für die eher ungewöhnliche Erzählperspektive des Textes, da das abschließende Urteil, Kepesh sei erledigt, wenn er seinem Gefühl für Consuela noch einmal nachgebe, nur dann seine ganze Wirkung entfalten kann, wenn es sich dabei nicht um eine weitere der endlosen Selbstbespiegelungen Kepeshs, sondern um das objektive Urteil eines Dritten handelt. Dass dieser Dritte sowohl der Autor als auch der Leser sein kann und sein soll, steht für mich außer Frage.

Der Kurzroman »The Dying Animal« rundet die Kepesh-Trilogie auf elegante Weise ab, indem er das Thema des Todes als Widerlager des sexuellen Begehrens Kepeshs, das am Ende von »The Professor of Desire« kurz erschienen war, aufgreift und durchführt. In diesem Sinne bilden die drei Texte eine relativ geschlossene Einheit. Dies könnte aber darüber hinwegtäuschen, dass Roth sich mit der Biographie Kepeshs erhebliche Freiheiten herausnimmt: In »The Breast« ist Kepesh im Februar 1971, zum Zeitpunkt seiner Verwandlung, 38 Jahre alt, was seine Geburt in das Jahr 1932 oder 1933 (das Geburtsjahr des Autors) legt. Claire ist zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt. Fünf Jahre später werden diese Daten leicht variiert: »The Professor of Desire« endet im Jahr 1969 oder 1970; die Terminierung ist dadurch möglich, dass der letzte Teil der Erzählung mindestens ein Jahr nach dem Ende des Prager Frühlings spielt. Kepesh ist in diesem Jahr 34 Jahre alt, während Claire wieder als 25-Jährige auftritt. Der Altersunterschied zwischen beiden ist also um vier Jahre geschrumpft, und Kepeshs Geburtsjahr liegt im Jahr 1935 oder 1936.

Noch heftiger werden die Verwerfungen in »The Dying Animal«: Hier ist Kepesh zu Anfang des Jahres 2000 70 Jahre alt, was sein Geburtsjahr in das Jahr 1929 vorverlegt. Er weiß in diesem Buch nichts mehr von Claire oder Helen, von Brigitta oder Elisabeth, stattdessen hat er einen 42-jährigen Sohn, Kenny, der aus einer Ehe hervorgegangen ist, die wahrscheinlich von 1956 bis 1965 gedauert hat. Kepesh behauptet außerdem, er habe bereits mit 16 eine Geschlechtskrankheit gehabt, die er zusammen mit ihrer Spenderin in »The Professor of Desire« verschwiegen hatte. Andererseits haben auch die Eltern dieses Kepeshs ein Hotel in den Catskills geführt, so dass wenig Zweifel bestehen, dass die beiden anderen Kepeshs mit diesem identisch sein sollen. Auch ist es unwahrscheinlich, dass Kepesh seinen anonymem Zuhörer mit einer erfundene Biographie täuschen will, da er zum Beispiel an einer Stelle einen Brief seines Sohnes vorliest, also einen physischen Beweis für die Fundiertheit seiner Erzählung liefert, ohne dass dies in irgend einer Weise notwendig wäre. Überhaupt ist kein Grund zu erkennen, warum dieser Kepesh in Sachen seiner Biographie seinen Zuhörer und den Leser anlügen sollte. Es bleibt als Schlussfolgerung nur, dass Roth, um Kepeshs Verwicklung in die Dynamik des studentischen Lebens Mitte der 60er Jahre und die sogenannte sexuelle Revolution wahrscheinlich und sinnvoll zu machen, ihm eine völlig andere Biographie zuschreiben musste. Warum auch nicht, nachdem er ihn schon einmal ganz und gar in eine weibliche Brust transformiert hatte?

Die Kepesh-Trilogie ist ein schönes Muster für die schriftstellerische Durcharbeitung und Fortschreibung einer literarischen Figur und eines Konglomerats von Themen und Motiven, wobei sich die Gewichtung der Motive und ihre perspektivische Darstellung mit dem Alter und der Erfahrung des Autors verändern. Dabei besteht kein Anspruch, mehr zu tun, als den Mitlebenden ein Leben zu erzählen, in dem sie sich mehr oder weniger klar spiegeln können, wobei es ihnen nicht anders ergeht als dem Protagonisten dieses Lebens selbst.

  • Philiph Roth: The Breast. In: Novels 1967–1972. New York: Library of America, 2005. S. 601–641. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 26,– €.
  • Philiph Roth: The Professor of Desire. In: Novels 1973–1977. New York: Library of America, 2006. S. 679–869. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 27,– €.
  • Philiph Roth: The Dying Animal. In: Novels 2001–2007. New York: Library of America, 2013. S. 1–91. Leinen, Lesebändchen, Fadenheftung. Ca. 26,– €.

Seume, sein Verlag und einer seiner Leser

Habent sua fata libelli.

1. Seume – Johann Gottfried Seume (1763–1810) ist einer von jenen Zeitgenossen Goethes mit einer Biographie von unten, wie Walter Jens das einmal genannt hat. Er wird daher heute normalerweise zusammen mit Karl Philipp Moritz und Ulrich Bräker in einer der kleineren Schubladen der Literaturgeschichte des ausgehenden 18., beginnenden 19. Jahrhunderts abgelegt. Seume war Sohn eines Landwirts und ehemaligen Böttchers, erwies sich als begabter Knabe, studierte zuerst Theologie an der Universität von Leipzig, machte sich noch als Student auf den Weg nach Paris, wurde aber von Zwangswerbern des Landgrafen von Hessen-Kassel aufgegriffen und zusammen mit zahlreichen Landeskindern als Soldat nach Amerika verkauft. Doch hatte er Glück im Unglück: Als er endlich in der Neuen Welt ankam, wurden seine Dienste als Soldat nicht mehr benötigt. Also schiffte man ihn wieder nach Deutschland ein, wo er umgehend aus hessischen Diensten desertierte, aber in der preußischen Armee landete, der er sich ebenfalls mehrfach durch Desertion zu entziehen suchte, was ihm eine Kerkerhaft eintrug. Erst 1789 gelingt es ihm, nach Leipzig zurückzukehren, diesmal um dort Jura, Philosophie und Geschichte zu studieren. Nach dem Studium gerät er über den Umweg einer Hofmeisterstelle wieder ins Militär, diesmal in die russische Armee, bis er 1796 endgültig ins Zivilleben zurückkehrt.

Seume arbeitet nun einige Jahre als Korrektor für den ehemals Leipziger, nun Grimmaschen Verleger Göschen, bevor er im Oktober 1801 zu einem längeren Spaziergang aufbricht, der ihn in gut zehn Monaten von Grimma aus nach Syrakus und wieder zurück bringen wird. Bereits im Jahr 1803 erscheint dann der umfangreiche Bericht zur Reise als Buch, wobei einiges von dem Material, noch während Seume unterwegs ist, in Wieland »Teutschem Merkur« zu lesen gewesen war. Das Buch ist ein so großer Erfolg, dass bereits nach einem knappen halben Jahr eine zweite Auflage nötig ist. Und dem ersten Reisebuch folgt ein zweites: Von April bis September 1805 unternimmt Seume eine Reise durch Polen, Russland, Finnland, Schweden und Dänemark, aus der dann nach nun bewährtem eigenen Vorbild im Jahr darauf das Buch »Mein Sommer 1805« hervorgeht. Der »Sommer« wird allerdings kein ähnlicher Verkaufserfolg wie der »Spaziergang«, er sorgt dafür in anderem Sinne für Furore, indem er kurz nach seinem Erscheinen in Russland, Österreich und Süddeutschland aufgrund der unverhohlen republikanischen Gesinnung seines Autors verboten wird. Das letzte große Prosabuch Seumes, die Autobiographie seines wechselvollen Lebens, bleibt Fragment, da Seume im Juni 1810 nur 47-jährig stirbt.

Dass Seumes vergleichsweise dünnes Werk es geschafft hat, den Zeitläuften bis heute zu trotzen, liegt wohl in der Hauptsache an einer seltenen Kombination von Eigenschaften: Seumes Neigung zu unverstellter Ehrlichkeit, seinem direkten und zugleich immer persönlichen Stil, der Komplexität seiner politischen Auffassung (um nicht Auffassungen zu schreiben) und nicht zuletzt seinem kantigen, wenig kompromissbereiten Charakter. Aus dieser Vielfalt konnten sich zahlreiche Interessengruppen des 19. Jahrhunderts immer das heraussuchen, was ihnen am besten in ihren Kram passte: Die einen lasen ihn als Vorläufer des Vormärz und deutschen Republikaner, den anderen war er ein deutscher Nationalist von echtem Schrot und Korn, den Dritten wieder war er ein individualistischer Querdenker, der eine spannungsreiche Alternative sowohl zur Weimarer Klassik als auch zur Jenaer Romantik lieferte. So beginnt Seumes Kanonisierung als Deutscher Klassiker bereits im 19. Jahrhundert, als seine Schriften in mehreren Gesamt- und Werkausgaben gleichrangig mit denen Goethes, Schillers, Shakespeares und anderer deutscher Nationalschriftsteller ediert werden.

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2. Sein Verlag – Damit sind hier weder Göschen noch Hartknoch gemeint, sondern der 1981 gegründete Deutsche Klassiker Verlag (DKV), dessen edelste und zugleich einzige Aufgabe darin bestand, die Bibliothek deutscher Klassiker (BdK) herauszubringen. Gegründet wurde er von Siegfried Unseld als Schwesterverlag zu Suhrkamp und Insel, und die BdK sollte wohl so etwas wie ein verlegerisches Denkmal für diesen etwas eitlen deutschen Verleger werden: Eine nach einheitlichen Kriterien und in einheitlicher Aufmachung erstellte, kanonische Sammlung dessen, was in der deutschen Literaturtradition gut und wichtig war und ist.

Da es bei großen Dingen bekanntlich genügt, sie gewollt zu haben, fiel auch die Größe dieses intellektuellen Gebirges weit bescheidener aus, als man es sich aus der Idee allein imaginieren würde: Zwar wurde eine halbwegs ansehnliche Auswahl mittelalterlicher Texte zusammengestellt, aber die deutschsprachige Literatur vom Beginn der Neuzeit bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ist wie üblich äußerst dünn repräsentiert. Erst mit Lessings Werken beginnt eine einigermaßen kanonisch-umfassende Präsentation wichtiger Autoren und Werke. Man bemerkt auch bei der Auswahl für das 18. und 19. Jahrhundert leicht, dass die BdK nicht viel anderes ist als eine Neuauflage eines sehr traditionellen und weitgehend unoriginellen Literaturkanons, wie man ihn ähnlich auch im 19. Jahrhundert schon kennt. Hier und da kann die Auswahl trotzdem überraschen:

  • Herder etwa wird mit einer umfangreichen Ausgabe aufgenommen, obwohl er zwar zu den einflussreichsten, aber sicherlich nicht mehr zu den populären Weimarer Klassikern gehört.
  • Novalis, der es als Vertreter der Romantik sicherlich verdient hätte, wenigstens in einer bedeutenden Auswahl präsentiert zu werden, fehlt.
  • Dagegen würdigt man Bettine von Arnim gleich mit vier Bänden und den doch etwas randständigen, eher für Germanisten und Historiker interessanten Karl August Varnhagen von Ense (dessen »Denkwürdigkeiten« zu edieren zweifellos eine Großtat war) gleich mit fünf Bänden. (Witzigerweise kommt die Vanhagen-von-Ense-Ausgabe im sogenannten Gesamtverzeichnis des Deutschen Klassiker Verlages 2008/2009 überhaupt nicht vor. Vielleicht weiß beim Verlag inzwischen niemand mehr, dass man das einstmals gedruckt hat.)
  • Heine fehlt, obwohl er sicherlich weit bedeutender und einflussreicher ist als etwa Gottfried Keller (ohne damit etwas gegen Keller als Schriftsteller sagen zu wollen).
  • Grillparzer ist vorgesehen, nicht aber Grabbe oder Hebbel.

Damit sind wir bei den Schwächen der Realisierung des ambitionierten Projekts angekommen. Zahlreiche der angefangenen Ausgaben wurden nicht abgeschlossen: Wieland bleibt ein Fragment (drei Bände erscheinen), ebenso Tieck (fünf Bände) und Grillparzer (zwei Bände); bei der Kant-Ausgabe blamiert man sich komplett, da man nicht nur falsch einschätzt, dass kein Mensch Kant in einer Ausgabe des DKV lesen, geschweige denn zitieren wird, so dass man dieses Seitenstück nach dem einzigen erschienenen Band einfach für abgeschlossen erklärt. Und natürlich sind auch die tatsächlich abgeschlossenen Ausgaben durchaus nicht auf einem einheitlichen Niveau: Während etwa die Herausgeber der Kleist-Ausgabe bei ihrem Kommentar offenbar davon ausgehen, dass Kleist in der Hauptsache von Sechstklässlern gelesen wird, scheint der Herausgeber der Hölderlin-Ausgabe zu der Ansicht gekommen zu sein, es handele sich bei dem von ihm kommentierten Autor um einen Verfasser literarischer Rätsel – jedenfalls gleicht sein Kommentar einem Lösungsteil und sollte in zukünftigen Ausgaben daher besser auf dem Kopf stehend gedruckt werden.

Natürlich ist nicht alles schlecht: Zur Herder-Ausgabe gibt es keine rezente Alternative; die Lessing-Ausgabe überzeugt auch und besonders durch die Briefsammlung und auch die E.T.A.-Hoffmann-Ausgabe weiß zu gefallen. Hinzukommt, dass die Ausstattung der Leinen- bzw. Lederbände mit Fadenheftung, je zwei Lesebändchen und gutem Dünndruckpapier überzeugt. Im Bücherschrank machen sich die Bände gut, und auch in der Hand liegen sie so, wie das sein soll. Typographisch ist eine solche Massenausgabe (Masse nur, was die Menge der Texte angeht, nicht im Sinne der potenziellen Käuferschicht) natürlich immer ein Kompromiss, aber auch das ist mehr als annehmbar gelöst worden.

Aus all diesen Gründen habe ich zur BdK immer eine gewisse Hass-Liebe gehegt: Man hätte so vieles an ihr besser machen können, aber andererseits muss man angesichts des Umfangs und dessen, was gewollt wurde, zugestehen, dass es auch viel schlimmer hätte kommen können.

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3. Einer seiner Leser – Das alles steht hier aus einem ganz konkreten Anlass: Vor zwei Jahren hatte ich mich endlich entschlossen, mir für eine unbestimmte Zukunft endlich doch die Herder-Ausgabe des DKV zuzulegen: Mein Buchhändler – Gott schütze das Gewerbe! – war so nett, mir die Bände zu liefern und mir zu erlauben, sie in monatlichen Raten abzustottern. Als wir damit fertig waren, hatte ich mich inzwischen entschlossen, noch ein paar andere Ausgaben zu kaufen, besonders weil mir klar war, dass sich das Lager des DKV in absehbarer Zeit sehr lichten und ich mich vielleicht doch am Ende ärgern würde, wenn ich die wenigen, für mich noch interessanten Ausgaben nicht gekauft hätte.

Also gab ich noch einmal eine Bestellung für eine umfangreichere und zwei der kleineren Ausgaben auf. Darunter auch die Seume-Auswahl, die drei Bände umfasst: Band 1 bringt die drei großen und mehr oder weniger bekannten autobiographischen Texte, Band 2 eine Auswahl der Kleineren Schriften und Gedichte und Band 3 schließlich eine Sammlung von Briefen Seumes, die die eigentliche Perle der Ausgabe ist. Wahrscheinlich um im Lager endlich Platz zu schaffen, gab es seit einiger Zeit alle drei Bände zum Gesamtpreis von 128 €, was etwa 65 % des ursprünglichen Preises entspricht. Nun ließ sich an der Ausgabe durchaus einiges aussetzen: Das wissenschaftliche Renommee des Herausgebers wird wohl am besten dadurch charakterisiert, dass die Titanic ihn einst Jörg »Professor« Drews genannt hat, die Auswahl der Kleineren Schriften fällt eher dürftig aus und die drei Texte des ersten Bandes standen natürlich längst in akzeptablen Ausgaben im Bücherschrank. Andererseits kostete der Band 3 mit den Briefen allein schon 80 €, so dass man die Bände 1 und 2 zum reduzierten Preis beinahe geschenkt bekam. Daher wurde die Ausgabe mitbestellt.

Als mein Buchhändler dann im vergangenen Januar mit dem Verlagsvertreter zusammensaß, schüttelte der bedenklich den Kopf: Die Seume-Ausgabe sei leider derzeit nicht lieferbar, da Band 1 fehle. Aber angesichts der doch nicht unerheblichen Gesamtbestellung griff er zum Telefon, fragte beim Verlag nach und erhielt die Auskunft: Band 1 werde in jedem Fall entweder im März oder im Mai nachgedruckt und die Ausgabe zu dem günstigen Preis wieder angeboten. Unter dieser Voraussetzung bestellte mein Buchhändler für mich. Als mir das erzählt wurde, gab ich zu Bedenken, dass derzeit noch ein einzelnes, neues Exemplar bei Amazon lieferbar sei und ich mich ärgern würde, wenn sich die Zusicherung von Suhrkamp als falsch erwiese. Doch mein Buchhändler war optimistisch, und so blieb es dabei.

Als im Juni dann von der Seume-Ausgabe immer noch nichts zu sehen war, fragte mein Buchhändler beim Verlag nach, bei genau jenem Mitarbeiter, der im Januar den Nachdruck von Band 1 fest zugesagt hatte. Er erhielt daraufhin per E-Mail die Auskunft, dass der Band 1 nicht mehr nachgedruckt werde, dass überhaupt mit dem Erscheinen der Register-Bände der Goethe-Ausgabe (ein tragikomisches Stück deutscher Editionskunst für sich) die Produktion des DKV zum Ende gekommen sei. Die jetzt fragmentarischen Ausgaben würden nicht mehr vervollständigt; auch weitere Taschenbuch-Ausgaben würden nicht mehr hergestellt. Man könne ersatzweise Band 2 und 3 der Seume-Ausgabe zum reduzierten Preis und Band 1 in der Leder-Ausgabe zum Preis bei Abnahme der Gesamtedition liefern, was zusammen allerdings noch deutlich über dem ursprünglichen Gesamtpreis der Leinenausgabe gelegen hätte, den ich ja schon nicht hatte zahlen wollen. Und das einzige, im Januar noch lieferbare Exemplar bei Amazon war natürlich auch längst verkauft.

Ich habe dann den Fehler begangen, den Mitarbeiter bei Suhrkamp selbst anzurufen, anstatt meinen Buchhändler alles Weitere regeln zu lassen. Der Mann war von meinem Anruf alles andere als begeistert, meinte dass er den Band 1 nicht habe und daher auch nicht liefern könne und auch bei der entsprechenden Lederausgabe könne er mir preislich nicht weiter entgegenkommen. Ich war – bei allem Verständnis für die schwierige Lage des Verlags – alles andere als begeistert davon, dass er sich bei einem durchaus guten Kunden nicht einmal dafür entschuldigte, dass er im Januar den Nachdruck noch fest zugesagt hatte und das nun alles nicht mehr stimmen sollte. Er beendete das Gespräch dann mit der Vertröstung, dass er einmal schauen wolle, was er für mich noch tun könne und dass er sich noch einmal melden würde.

So weit, so schlecht. Dass ich mich abgewimmelt fühlte und nicht mehr daran glaubte, noch etwas von Suhrkamp zu hören, versteht sich von selbst. Doch als mein Buchhändler vierzehn Tage später nachfragte, ob sich in der Sache denn noch etwas getan habe, bekam er die überraschende Auskunft, Suhrkamp werde die Ausgabe wie bestellt liefern. Der Mitarbeiter von Suhrkamp hatte sich die Mühe gemacht, ein einzelnes Exemplar der Leinenausgabe des ersten Bandes in einer Lieferung von Remittendenexemplaren ausfindig zu machen, die an einen Berliner Buchhändler verkauft worden war. Er hat den Buchhändler angerufen, der den Band herausgesucht und zurückgelegt hat, ist persönlich dort vorbeigegangen und hat das Buch für mich dort abgeholt. Seit Dienstag bin ich nun im Besitz eines vollständigen, neuwertigen Exemplars der Seume-Ausgabe zum versprochenen Preis.

Eigentlich wollte ich mich hier nur kurz bedanken! Das war außergewöhnlich nett von ihm und ich werde, immer wenn ich eines der Bücher zur Hand nehme, an ihn und daran denken, wie die Bände in mein Regal gelangt sind!

  • Johann Gottfried Seume: Werke in zwei Bänden. Hg. v. Jörg Drews. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1993. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1101 u. 927 Seiten. Nur noch Band 2 lieferbar: 76,– € bei Einzelbezug.
  • Derselbe: Briefe. Hg. v. Jörg Drews und Dirk Sangmeister. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 2002. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1135 Seiten. 80,– € bei Einzelbezug.

Vladimir Nabokov: Gelächter im Dunkel

Oft ist der Tod die Pointe im Witz des Lebens.

nabokov_werke_03Dieser eher leichte Unterhaltungsroman mit beinahe tragischem Ausgang entstand unmittelbar im Anschluss an »Die Mutprobe« in der ersten Jahreshälfte 1931. Er hat eine etwas komplexe Entstehungsgeschichte, da er 1936 als erster Roman Nabokovs ins Englische übersetzt wurde. Nabokov war mit der für den britischen Markt erstellten Übersetzung sehr unzufrieden, so dass er sich, als er 1937 eine Anfrage eines US-amerikanischen Verlegers bekam, entschloss, den Text für die nordamerikanische Ausgabe selbst neu zu übersetzen. Er hatte kurz zuvor seinen Roman »Verzweiflung«, der nach »Gelächter im Dunkel« entstanden war, ins Englische übersetzt, wusste also, worauf er sich einließ. Die neue Übersetzung geriet aber – wie das später auch bei der Übersetzung anderer seiner frühen Romane der Fall sein würde – zugleich zu einer gründlichen Überarbeitung. In diesem Fall war die Neugestaltung so weitgehend, dass sich der Herausgeber der deutschen Nabokov-Ausgabe dafür entschieden hat, die deutsche Übersetzung der ursprünglichen Fassung des Romans – »Camera obscura« betitelt – als Variante im Anhang des Buches komplett mitzuliefern. Da ich die spätere Fassung nicht sehr überzeugend fand, habe ich auf die Lektüre der früheren vorerst verzichtet.

Erzählt wird die Geschichte des 30-jährigen Kunsthändlers Albert Albius, der aus seiner ihn  langweilenden bürgerlichen Ehe ausbricht, als er sich in das junge Mädchen Margot, eine Schönheit, die als Platzanweiserin in einem Kino arbeitet, verliebt, die in ihm die Chance zu einer Karriere wittert: Entweder Albert ermöglicht ihr, ihren Traum zu verwirklichen, Filmstar zu werden, oder aber er wird sie heiraten. Margot selbst hat eine frühe Leidenschaft für den Karikaturisten Axel Rex hinter sich, der, wie es der Zufall und der Autor wollen, zum entfernten Bekanntenkreis Alberts gehört und so später an passender Stelle aus der Kulisse heraus auftreten kann.

Albert verfällt Margot weitgehend, finanziert ihren ersten Film, der sich allerdings nur verbrennen lässt, um das Schlimmste zu verhindern, und lebt dann eine ganze Weile neben dem Liebespärchen Margot & Axel her, ohne etwas von ihrer intime Verbindung zu bemerken. Diese emotionale und soziale Blindheit genügt dem Autor aber noch nicht: Als Albert dem Paar endlich auf die Schliche gekommen zu sein scheint, verwickelt ihn Nabokov in einen Autounfall, der ihn auch noch leiblich erblinden lässt, was für einen Kunsthändler und gehörnten Liebhaber vergleichbar ungünstig ist. Margot & Axel treiben ihr Spiel noch eine Weile mit dem Blinden, den sie systematisch finanziell ausnehmen, bis ein weiterer Zufall auch dies auffliegen lässt. Als Abschluss konstruiert Nabokov noch ein tragikomisches Ende, in dem Albert versucht, Margot aus Rache zu erschießen, aber natürlich selbst Opfer der gewissenlosen Megäre wird.

Der Roman ist motivisch nett gestrickt, aber alle Figuren sind denkbar flach und schematisch und selbst dort, wo es Gelegenheit gäbe, ihnen ein wenig Tiefe und Spannung zu verleihen – etwa als Alberts Tochter stirbt –, geht sie vorüber, ohne dass sich etwas Wesentliches ereignet. Die Handlung ist sehr vorhersehbar; alles ist darauf angelegt, die Vorlage für ein Drehbuch zu liefern, in das das Buch viel später denn auch umgegossen worden ist. Bis auf wenige Motive – Menschen ohne Empathie, die zerstörerische Macht der Sexualität, Blindheit für das Offensichtliche – ein weitgehend harm- und folgenloser Roman.

Vladimir Nabokov: Gelächter im Dunkel. Aus dem Englischen von Renate Gerhart und Hans-Heinrich Wellmann; bearb. von Dieter E. Zimmer. In: Gesammelte Werke III. Frühe Romane 3. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 1997. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 271 (von 813) Seiten. 39,95 €.

Valdimir Nabokov: Die Mutprobe

Die Aussicht, weitschweifige seichte Werke und ihren Einfluß auf andere weitschweifige seichte Werke zu untersuchen, reizte ihn nicht.

nabokov_werke_02Dieser 1930 unmittelbar im Anschluss an »Der Späher« auf Russisch geschrieben Roman macht lange Zeit den Eindruck eines konventionellen modernen (man entschuldige dieses in der Sache begründete Oxymoron) Entwicklungsromans: Erzählt werden die Jugend- und frühen Erwachsenenjahre des russischen Exilanten Martin Edelweiß (der seinen Namen Schweizer Vorfahren verdankt), der nach der Trennung der Eltern und dem Tod des Vaters mit der Mutter nach Westeuropa zieht, in Cambridge Irgendwas studiert, sich in Sonja, die Tochter einer anderen Exil-Familie verliebt, die aber nichts von ihm wissen will, und schließlich aus unklaren Gründen illegal nach Russland zurückkehrt und dort verschwindet. Eine oberflächliche Lektüre könnte dem Verdacht Vorschub leisten, dass Nabokov hier zur erzählerischen Harmlosigkeit seines ersten Romans »Maschenka« zurückkehrt.

Der Roman fällt allerdings durch zwei Eigenschaften auf: Zum einen wird die oft stagnierende Handlung durch sehr exakte atmosphärische Schilderungen aufgewertet, zum anderen wird das Verschwinden des Protagonisten nicht nur von langer Hand vorbereitet, sondern es wird auch als Verschwinden in eine phantastische, artistische Wirklichkeit dargestellt, was den vorherrschenden realistischen Ton des Romans komplett diskreditiert. Bereits als Kind träumt Martin davon, in dem Landschaftsbild über seinem Bett zu verschwinden, in dem er dem dort dargestellten Waldweg folgt, und Nabokov lässt für den aufmerksamen Leser wenig Zweifel daran, dass Martins letzter Weg ihn in das mit der von ihm geliebten Sonja zusammen erfundene Soorland führt. Dieser Übergang ins Phantastische ist allerdings auch das einzige, was sich vernünftigerweise mit dem durch und durch unpraktischen und weltfremden Martin anfangen lässt.

Der Roman ist alles in allem ganz nett zu lesen und wegen seines romantischen Gegenspiels unter scheinbar realistischer Flagge reizvoll. Am Ende wird ihn der Leser aber wahrscheinlich doch ein wenig enttäuscht zur Seite legen, denn der ästhetische Gewinn des artistischen Spiels fällt für die gut 300 Seiten doch ein wenig dünn aus.

Vladimir Nabokov: Die Mutprobe. Aus dem Englischen von Susanna Rademacher. In: Gesammelte Werke II. Frühe Romane 2. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 22008. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 327 (von 777) Seiten. 29,– €.

Vladimir Nabokov: Der Späher

In Bezug auf mich selber war ich nunmehr nur noch Beobachter. Mein Glaube an die Phantomnatur meiner Existenz gab mir das Recht auf eine gewisse Heiterkeit.

nabokov_werke_02Da ich »Lushins Verteidigung« bereits mehrfach gelesen und hier auch schon besprochen habe, bin ich in meiner chronologischen Nabokov-Lektüre gleich zu seinem kurzen, vierten Roman »Der Späher« gesprungen. Das Buch ist 1929/1930 entstanden und in mehreren Folgen in einer Pariser Emigrantenzeitschrift erschienen. Wie auch bei den anderen Romanen der russischen Phase Nabokovs liegt der deutschen Übersetzung innerhalb der Werkausgabe die spätere, von Nabokov überarbeitete englische Fassung zugrunde, wobei die zahlreichen kleinen Differenzen im Anhang sorgfältig dokumentiert sind. Ob das schmale Büchlein tatsächlich als Roman einzuordnen ist, kann getrost offen bleiben; da in der russischen Erzähltradition mit der Noveletta eine Zwischenform zwischen Erzählung und Roman existiert, bliebe eine Zuordnung ohnehin willkürlich.

Der nur etwa 100 Seiten umfassende Text enthält die Ich-Erzählung des jungen russischen Emigranten Smurow, der, nachdem er vom jähzornigen Ehemann einer ihm eigentlich gleichgültigen Geliebten aufs Übelste verprügelt wurde, einen Selbstmordversuch unternimmt. Nachdem er den Revolverschuss in seine Brust überlebt hat, findet er sich als Beobachter seiner selbst vor: Durch seinen Tod seiner vorherigen Identität anscheinend beraubt, sucht er sein Bild von sich, so wie es anderen erscheint. Ganz identitätslos scheint er dennoch nicht geworden zu sein, da er sich im Kreis seiner neuen Bekannten in die junge Wanja (eigentlich Warwara; der Diminutiv von Iwan ist nur ihr familiärer Kosename) verliebt, die allerdings schon mit einem anderen verlobt ist. Die Selbstbeobachtung Smurows im Spiegel der Bilder, die sich seine Mitmenschen von ihm machen, und die Krise seiner unerwiderten Liebe machen im Wesentlichen den Gehalt des Büchleins aus. Wie immer fällt auch ein mild-satirisches Porträt der Kultursphäre der Exilrussen dabei ab.

Interessant für die Entwicklung des Autors ist das Buch, weil hier einerseits zum ersten Mal das Thema der Identität im Spannungsfeld von Selbst- und Fremdbild abgehandelt wird, das sich später in zahlreichen Variationen wiederfindet, und andererseits und eng damit verbunden die unaufhebbare und unüberbrückbare Spannung von Realität und Innenwelt ausgespielt wird – Nabokovs Erbe der Romantik, das ihn immun gemacht hat gegen die moderneren Glaubensbekenntnisse des 20. Jahrhunderts.

Vladimir Nabokov: Der Späher. Aus dem Englischen von Dieter E. Zimmer. In: Gesammelte Werke II. Frühe Romane 2. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 22008. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 132 (von 777) Seiten. 29,– €.

Vladimir Nabokov: König Dame Bube

Jemand hatte am Strand einen kleinen roten Eimer vergessen, und schon stand er bis zum Rand voll mit Regenwasser. Die Photographen bliesen Trübsal; die Gastwirte frohlockten.

nabokov_werke_01Nabokovs zweiter Roman, auf Russisch im Jahr 1928 in Berlin erschienen und 1930 erstmals auf Deutsch bei Ullstein. Die Werkausgabe bei Rowohlt druckt allerdings eine Übersetzung der englischen Ausgabe von 1968, die von Nabokov, anlässlich der Übersetzung des Textes ins Englische durch seinen Sohn, sehr gründlich und umfangreich überarbeitet worden ist, was, wenn man den textvergleichenden Auszügen im Anhang glauben darf, dem Roman sehr gut getan hat.

»König Dame Bube« ist ein für Nabokov eher ungewöhnlicher, leichter Unterhaltungsroman, der die Dreiecksgeschichte des Ehepaars Martha und Kurt Dreyer und des Neffen von Kurt Dreyer, Franz Bubendorf, erzählt. Franz kommt, nach bewährtem Vorbild des 19. Jahrhunderts, als junger Mensch aus der Provinz nach Berlin, um im Kaufhaus seines Onkels zu arbeiten. Der familiäre Umgang im Haus der Dreyers macht die Gelegenheit, dass Martha eine Affäre mit ihm beginnt, die ihr als reicher und von ihrem Ehemann angewiderter Großbürgerin endlich zusteht, wie sie meint. Leider verliebt sie sich dabei in Franz und plant daher, gemeinsam mit ihm ihren Gatten umzubringen und zu beerben, um so ein unbeschwertes Glück leben zu können. Alles weitere ergibt sich mit erzählerischer Notwendigkeit aus dieser Grundkonstellation.

Bis auf das schon recht nabokovsche Ende bleibt alles im Rahmen des für einen humoristischen, leicht parodistischen Roman Erwartbaren. Wenn ich meinem Gefühl trauen darf, ohne die frühe Fassung des Textes zu kennen, so hat Nabokov sich bereits mit diesem Roman im Wesentlichen freigeschrieben und seinem ihm später so ganz eigenen Ton angenähert, der ihn zu dem außergewöhnlichen Autor macht, der er war.

Alles in allem eine sehr angenehme, nicht sehr anspruchsvolle Lektüre.

Vladimir Nabokov: König Dame Bube. Aus dem Englischen von Hanswilhelm Haefs. In: Gesammelte Werke I. Frühe Romane 1. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 21999. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 407 (von 591) Seiten. 27,– €.

Philip-Roth-Edition abgeschlossen

Philip Roth ist der einzige lebende Autor, dessen erzählerische Werke in einer Edition der Library of America herausgegeben wurden und der so in gewisser Weise schon zu Lebzeiten offiziell zu einem Klassiker der US-amerikanischen Literatur geworden ist.

Enthalten sind in den nun neun Bänden alle erzählerischen Buchveröffentlichungen des Autors; was fehlt, sind einige Erzählungen, die nur in Zeitschriften veröffentlicht wurden, zudem ein Einakter von 1965 und seine Essays und Besprechungen. Da Roth bekanntlich seine Karriere als Schriftsteller beendet hat, dürfte die Ausgabe der LoA für lange Zeit die Referenzausgabe des erzählerischen Werks von Philip Roth bleiben. Ich werde, nachdem mein Zola-Projekt nun unmittelbar vor dem Abschluss steht, in den nächsten Jahren diese Ausgabe chronologisch lesen und natürlich hier besprechen.

Die Bände kosten, je nach Bezugsquelle und Seitenzahl, zwischen 23,– und 30,– €. Dafür erhält man Leinenbände im Umfang zwischen 450 und 850 Seiten, auf gutem Papier gedruckt, fadengeheftet und mit Lesebändchen versehen. Alle Bände der LoA sind für eine lebenslange Lektüre geeignet.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 4

Von Zeit zu Zeit, so scheint es, entlässt die historische Evolution Hechte in die stillen Wasser der Gesellschaft, damit die fetten Karauschen, die sich am Grund von Plankton nähren, aufgestört werden.

Strugatzki_Werke_4Der vierte Band der Gesammelten Werke schließt thematisch an den ersten Band an und bringt fünf Texte, die fast alle um Probleme der menschlichen, zivilisatorischen Entwicklungshilfe auf anderen Planeten kreisen. Wie zuvor schon erwähnt, entspricht die Kindle-Edition dieses Buches nicht dem Standard, da sie über kein Inhaltsverzeichnis verfügt.

»Fluchtversuch« (1962) stellt die Erfindung des Themas dar: Die Freunde Wadim und Anton planen im Jahr 2250 einen Jagdausflug zum Planeten Pandora, als kurz vor dem Abflug der ihnen unbekannte, vorgebliche Historiker Saul zu ihnen stößt und sie kurzerhand überredet, ihn auf irgend einen unbesiedelten, erdähnlichen Planeten zu bringen. Der von Wadim anscheinend zufällig ausgewählte Planet erweist sich dann aber als durchaus besiedelt, und die drei Kosmonauten finden dort eine sehr merkwürdige Lage vor: Der Planet wird offenbar von einer hochstehenden, nichtmenschlichen Zivilisation als eine Art Umschlagbahnhof für ihre Technologie benutzt. Dies hat die einheimische humanoide Zivilisation, die sich auf dem Niveau eines kriegerisch geprägten Mittelalters befindet, in eine tiefe Krise gestoßen. Einer der lokalen Herrscher versucht, sich die fremde Technologie zunutze zu machen. Obwohl die drei Erdenmenschen selbst mehr oder weniger Zweifel an der Richtigkeit ihres Handelns haben, versuchen sie sich in die Geschehnisse auf dem Planeten einzumischen, müssen am Ende aber die Zwecklosigkeit all ihrer Versuche einsehen und kehren unverrichteter Dinge zur Erde zurück.

»Es ist schwer, ein Gott zu sein« (1964) ist einer der bekanntesten Romane der Brüder Strugatzki und 1989 auch mit einigem Aufwand und Erfolg verfilmt worden. Im Mittelpunkt steht der Adelige Rumata, der in Wirklichkeit der irdische Agent Anton ist, der auf einem Planeten in einer humanoiden, spätmittelalterlichen Zivilisation als historischer Beobachter eingesetzt ist. Rumata befürchtet das Entstehen einer faschistischen Diktatur und versucht seine Kollegen dazu zu überreden, dagegen aktiv Widerstand zu leisten. Doch sind seine Mithistoriker weder von der drohenden Gefahr überzeugt, noch davon, dass sie berechtigt sind, in den Lauf der lokalen Geschichtsentwicklung einzugreifen. Aus diesem Konflikt heraus entwickelt sich eine ordentliche Mantel- und Degen-Klamotte mit Faust- und Florettkämpfen, Liebesgeschichte, Kerkerbefreiung und allem, was sonst noch dazu gehört. Man muss zugeben, dass dieser Teil des Textes von den beiden Autoren mit großer Lust am Genre geschrieben wurde und offenbar für seine Popularität verantwortlich ist. Es gibt sonst nicht viele Passagen bei den Brüdern Strugatzki, die vergleichbar unbeschwert daherkommen.

»Unruhe« (entstanden Mitte der 60er Jahre, veröffentlicht erst 1990) ist eine frühe, laut dem Herausgeber stark abweichende Fassung von »Die Schnecke am Hang«. Da ich aber wenig Lust hatte, weite Teile dieses Textes noch einmal zu lesen, habe ich vorerst auf eine Lektüre verzichtet.

»Die dritte Zivilisation« (1971) erzählt die Geschichte einer kleinen Gruppe von Kosmonauten, die einen scheinbar weitgehend leblosen Planeten für die Übersiedlung einer von einer Katastrophe bedrohten Spezies vorzubereiten versucht. Ich-Erzähler ist der Kybertechniker Stas Popow, dessen erster Einsatz im All es ist und der in der Hauptsache für die Wartung und den Betrieb der mitgeführten Roboter zuständig ist. Die erste Überraschung für die Gruppe ist der Fund eines abgestürzten irdischen Raumschiffs, dessen beide Kosmonauten beim Absturz ums Leben gekommen sind. Kurz darauf erweist es sich aber, dass offenbar noch ein dritter Mensch an Bord war, ein kleines Kind, das entgegen aller Wahrscheinlichkeit auf dem Planeten nicht nur überlebt hat, sondern sowohl anatomisch als auch psychisch an den unwirtlichen Gastplaneten angepasst wurde. Die Kosmonauten entwickeln die Theorie, dass der Planet von einer introvertierten Spezies bewohnt wird, die in Höhlen unter der Planetenoberfläche existiert und das kleine Kind, so gut sie konnte, gerettet hat, das auf diese Weise zum einzigen Vertreter einer dritten Zivilisation auf dem Planeten geworden ist. Am Ende bleibt auch hier den Menschen nichts, als sich tatenlos zurückzuziehen und auf eine spätere Gelegenheit zum Kontakt zu hoffen.

»Der Junge aus der Hölle« (1974) schildert den Prozess und die Folgen der zivilisatorischen Entwicklungshilfe aus der Perspektive eines der Wilden. Der junge Gagh stammt aus einer militaristischen Zivilisation und ist im soldatischen Sinne erzogen worden. Er wird aber von Menschen vor dem Tod gerettet und zur Heilung auf die Erde gebracht. Dort wird er zwar freundlich behandelt, aber weitgehend sich selbst überlassen, so dass er sich gegenüber der ihm fremden irdischen Kultur abkapselt und versucht, auf seinen Heimatplaneten zurückzukehren, was er schließlich auch mit einer selbstgebauten Waffe erzwingt. Die Geschichte wird kapitelweise abwechselnd in personaler und Ich-Perspektive erzählt, was sie aber nur mäßig interessanter macht. Sie leidet wohl am deutlichsten darunter, dass hier die Wahrscheinlichkeit der Fabel der Absicht der Autoren geopfert werden muss, darzustellen, dass es nicht genügt, Angehörige einer fremden Kultur mit den Segnungen der eigenen, fortgeschrittenen Zivilisation zu überschütten, sondern dass eine prinzipielle Umerziehung stattfinden muss, wenn ein kultureller Fortschritt erreicht werden soll. – »So fühlt man Absicht und man ist verstimmt.«

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 4. Deutsch von Dieter Pommerenke (Fluchtversuch), Arno Specht (Es ist schwer, ein Gott zu sein), David Drevs (Unruhe), Aljonna Möckel (Die dritte Zivilisation) und Erika Pietraß (Der Junge aus der Hölle). Die beiden ersten Texte nach den ungekürzten und unzensierten Originalversionen ergänzt von Erik Simon. München: Heyne, Kindle-Edition, 2012. 880 Seiten (Buchausgabe). 9,99 €.

Vladimir Nabokov: Maschenka

Morgen kam seine ganze Jugend, kam sein Rußland wieder zu ihm zurück.

nabokov_werke_01Nachdem ich in den letzten Tagen nebenher das Hörbuch von Nabokovs »Pnin« noch einmal angehört habe, bekam ich Lust, auch wieder etwas von ihm zu lesen. Seit einiger Zeit kaufe ich peu à peu die deutsche Werkausgabe Nabokovs zusammen und habe vor, sie in den nächsten Jahren systematisch durchzulesen. Es bot sich also an, mit seinem ersten Roman »Maschenka« anzufangen.

»Maschenka« ist im Jahr 1925 auf Russisch entstanden und im Jahr darauf in einem Berliner Exilverlag für russische Literatur erschienen, der zu Ullstein gehörte. Durch diese Verbindung erschien bereits 1928 auch eine erste deutsche Übersetzung im Mutterverlag, was für den Erstling eines russischen Exilautors kein kleiner Erfolg gewesen sein dürfte. Der Roman spielt an einigen wenigen Tagen im Jahr 1924 in Berlin und erzählt die Geschichte Lew Glebowitsch Ganins (Ganin ist allerdings nur sein nom de guerre, den er sich im Widerstand gegen die Bolschewisten zugelegt hat; seinen echten Namen erfährt der Leser nicht), der zusammen mit einer kleinen Gruppe von russischen Exilanten in einer russischen Pension lebt. Ganin schlägt sich wie viele seiner Schicksalsgenossen mit Gelegenheitsarbeiten – etwa als Filmstatist – durch. Ihn treibt es fort aus Berlin, aber er kann sich nicht entschließen abzureisen, da er eine erotische Affäre mit einer jungen Frau, Ljudmila, hat und sich nicht durchringen kann, diese zu beenden.

Erzählanlass ist, dass Ganins Zimmernachbar Alexej Iwanowitsch Alfjorow ihm erzählt, dass am Ende der Woche seine Frau aus Russland nach Berlin kommen wird, die er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat. Als Alfjorow Ganin ein Bild seiner Gattin zeigt, erkennt der in ihr seine erste Jugendliebe Maschenka wieder. Augenblicklich fasst er den lange aufgeschobenen Entschluss: Schon am nächsten Tag trennt er sich von Ljudmila und bereitet seine Abreise aus Berlin vor. Er will Maschenka bereits am Bahnhof abfangen und umgehend mit ihr nach Süden abreisen, bevor sie überhaupt Gelegenheit hatte, ihren Ehemann wiederzusehen.

Die wenigen Tage bis zu Maschenkas Ankunft verbringt Ganin hauptsächlich damit, sich an seine Liebe zu ihr zu erinnern. Es handelt sich zuerst um eine Sommerverliebtheit, die im folgenden Jahr noch einmal kurz auflebt, aber erst nach der erneuten Trennung der beiden unerwartet ernst wird. Ganin befindet sich bereits beim Militär, als er von Maschenka Briefe erhält, in denen sie ihm ihre immer noch bestehende Liebe und ihre Sehnsucht nach ihm gesteht. Ganin aber wird als Kriegsverwundeter eher zufällig aus Russland herausgespült, landet zuerst in Istanbul und reiht sich in den Strom der Exilrussen ein, der vor der bolschewistischen Revolution nach Westeuropa flieht. Und nun findet er aus purem Zufall seine Geliebte als Ehefrau seines Zimmernachbarn wieder.

Am Samstagmorgen wird Maschenka ankommen, und Ganin macht sich eine kleine Feier in der Pension am Vorabend zunutze, um den Alfjorow betrunken zu machen, sorgt dann dafür, dass er verschlafen wird, und verlässt mit seinen gepackten Koffern das Haus, um Maschenka am Bahnhof abzufangen. Ich werde hier nicht verraten, wie der Roman endet, denn ein wesentlicher Teil seiner Wirkung beruht auf der Spannung, wie der Autor seinen Protagonisten wohl aus dieser Zwickmühle der eigenen Phantasie wieder herauszuführen gedenkt.

Vieles an diesem Roman ist konventionell und nicht weiter erwähnenswert, und es ist gut, dass er nur ungefähr 180 Seiten lang ist. Dabei wirkt vieles nur resümiert, und es zeugt von einiger Disziplin des jungen Autors, dass er nicht in selbstverliebtes Schwärmen verfallen ist, sondern eine schlanke, adrette Erzählung abgeliefert hat. An einer einzigen Stelle aber kann man schon den späteren Meister herausspüren: Am Tag, bevor Maschenka eintreffen wird, begleitet Ganin den alten Dichter Podtjagin, der ebenfalls in der Pension lebt und seit Wochen verzweifelt versucht, eine behördliche Ausreisegenehmigung nach Frankreich zu erhalten, aufs Amt und erreicht es tatsächlich, dass der Alte den ersehnten Stempel in seinen Pass bekommt. Anschließend fahren die beiden auf dem offenen Oberdeck eines Busses zum französischen Konsulat, und Podtjagin legt, um den Fahrschein zu lösen, seinen Pass für einen Moment auf die Sitzbank. Und dann schreibt Nabokov nur noch diesen einen Satz:

Podtjagin rollte erstaunt mit den Augen, und plötzlich griff er nach seinem Hut – es wehte ein heftiger Wind.

Das ist alles, was es braucht, um eine Katastrophe eintreten zu lassen – der Hergang der Katastrophe selbst bleibt ungeschildert!

Die vorliegende deutsche Übersetzung benutzt als Vorlage die von Nabokov begleitete englische Übersetzung aus dem Jahr 1970. Sie weicht nur in wenigen Einzelheiten vom alten russischen Original ab. Was bei mir ein wenig Irritation ausgelöst hat, ist, dass der erste Band der deutschen Werkausgabe, der die ersten beiden Romane Nabokovs enthält, kein Inhaltsverzeichnis hat und die Nachworte von Autor und Herausgeber nicht am Ende des Bandes zusammengefasst sind, sondern unmittelbar auf die Texte folgen. Ansonsten ist der Band sorgfältig gemacht und bringt mit einem Leineneinband und Fadenheftung eine für diesen Preis sehr ordentliche Ausstattung mit.

Vladimir Nabokov: Maschenka. Aus dem Englischen von Klaus Birkenhauer. In: Gesammelte Werke I. Frühe Romane 1. Hg. v. Dieter E. Zimmer. Reinbek: Rowohlt, 21999. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 183 (von 591) Seiten. 27,– €.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 3

Ich lebe in einer Welt, die sich jemand ausgedacht hat, ohne sich die Mühe zu machen, sie mir zu erklären – oder sie sich selbst zu erklären …

Strugatzki_Werke_3Der Band versammelt fünf Erzählungen, darunter zwei Romane. Zur Werkausgabe insgesamt ist bereits bei der Besprechung des ersten Bandes etwas gesagt worden, das hier nicht wiederholt werden muss.

»Die Schnecke am Hang« (entstanden 1965) erzählt zwei paralelle Handlungen, die auf einem nahezu gänzlich von Wald bedeckten Planeten spielen. Hintergrund der beiden Handlungsstränge bilden einerseits die von Menschen zum Zweck der Ausbeutung errichtete sogenannte Verwaltung, andererseits die Welt der Eingeborenen des Planeten, die sich wenigstens äußerlich von den Erdenmenschen nicht groß zu unterscheiden scheinen. Protagonist des in der Verwaltung spielenden Handlungsstrangs ist der Philologe Pfeffer, den es wohl aufgrund einer existenziellen Sehnsucht auf den Planeten verschlagen hat. Er hatte sich offenbar eine Art Erleuchtung von der Begegnung mit dem Wald erhofft, ist aber inzwischen angesichts der Absurdität der Anstrengungen der Verwaltung frustriert und möchte den Planeten wieder verlassen. An seinen vergeblichen, oft wie traumhaft wirkenden Bemühungen fortzukommen, offenbaren sich die Desorganisation und Ziellosigkeit aller Tätigkeiten der Verwaltung.

Im zweiten Handlungsstrang steht der Pilot Kandid im Zentrum. Er ist vor längerer Zeit mit seinem Helikopter über dem Wald abgestürzt und von Eingeborenen gefunden und gesund gepflegt worden. Kandids Ziel ist es, zur irdischen Verwaltung zurückzukehren, doch da die Eingeborenen, bei denen er lebt, nicht mehr als die nächste Umgebung ihres Dorfes einigermaßen kennen und den Wald fürchten, ist dies leichter gesagt als getan. Kandid macht sich trotz dieser Schwierigkeit zusammen mit einer eingeborenen Frau auf den Weg zur sogenannten Stadt, von der aus er den weiteren Weg zu finden hofft. Während er unterwegs ist, kommt er wenigstens zu einem rudimentären Verständnis der sozialen Struktur des Planeten: Offenbar existieren zumindest zwei verschiedene menschliche Spezies auf dem Planeten, eine hochentwickelte, rein weibliche, sich parthenogenetisch fortpflanzende, telepathisch begabte, die sich offenbar in einer Art Kriegszustand entweder untereinander oder mit einer weiteren Spezies befindet, und jene unter primitivsten Umständen existierende, die Kandid gerettet haben. Die erste scheint eine evolutionäre Weiterentwicklung der zweiten darzustellen. Zwar gelingt es Kandid, kurz die Aufmerksamkeit der höher entwickelten Art zu erregen, aber er findet sich doch schließlich in seinem Dorf wieder, wo er wie zu Anfang Pläne schmiedet, zur Stadt zu gelangen.

»Die Schnecke am Hang« wurde von der sowjetischen Zensur offenbar als Satire auf die sowjetischen Verhältnisse verstanden und dementsprechend wurde eine komplette Veröffentlichung des Romans vorerst nicht gestattet. So mussten die beiden Teile zuerst als eigene Erzählungen erscheinen, bevor das Werk 1968 erstmals komplett erscheinen konnte. Der Roman hat deutliche Längen, da er sich über weite Strecken absichtlich in Scheinbewegungen erschöpft, die die Protagonisten zu nichts führen. Die Hinweise darauf, was wirklich vorgeht, sind dünn gesät und drohen unter den albtraumartigen Erlebnissen der beiden Helden verloren zu gehen. So kann etwa vermutet werden, dass die mangelnde Effizienz der Verwaltung und ihr absurdes Abarbeiten an der offenbar nicht zu bewältigenden Aufgabe, den Wald auszubeuten, eine Folge von Interventionen der telepathischen Spezies der Eingeborenen ist; ebenso gut könnten es aber auch Einflüsse der Natur des Planeten selbst sein, die für die Orientierungslosigkeit der Menschen verantwortlich ist. All das und vieles mehr bleibt dem Leser so unklar wie den Menschen auf dem Planeten. Für diese erzählerische Technik scheint der Text zu lang geraten zu sein.

»Die zweite Invasion der Marsmenschen« (1967) ist eine längere Erzählung, die einerseits eine parodistische Fortsetzung von H. G. Wells’ »The War of the Worlds«, andererseits eine milde Satire auf bürgerliche Selbstzufriedenheit, Bequemlichkeit und Beschränktheit ist. Die Erzählung spielt in einer nicht näher bestimmten Gegenwart offenbar in Griechenland, was allein daran deutlich wird, dass alle Figuren Namen aus der griechischen Mythologie tragen. Das Land – und man darf vermuten der gesamte Planet – wird offenbar von den Marsmenschen erobert, wobei im ganzen Text kein einziger Marsmensch leibhaftig auftritt. Innerhalb kürzester Zeit stellen die Eroberer die Weltwirtschaft auf die Produktion von Magensaft um, dessen Qualität sie durch die Einführung einer neuen, schnell wachsenden, blauen Getreideart beeinflussen. Die Menschen werden weltweit offensichtlich zu einer Art Zuchtvieh umfunktioniert, dem regelmäßig sein Magensaft abgemolken wird.

Erzählt wird all dies aus der Perspektive eines pensionierten Lehrers in einem Dorf, in dem das Leben im Großen und Ganzen ungestört fortgeht. Zwar gibt es kurzzeitig einen Widerstand von vereinzelten Partisanengruppen, doch wird dieser bald von den Menschen selbst niedergeschlagen, da er den reibungslosen Ablauf der neuen Geschäfte mit blauem Getreide und Magensaft stört. Im Gegensatz zu Wells’ großer Schlacht um die Existenz der Menschheit, fügen sich die Menschen hier klaglos in die neuen Verhältnisse. Ihnen ist es ganz gleich, von wem sie beherrscht werden, und solange sie ihr Auskommen haben, sind ihnen auch Marsmenschen recht.

Auch der Roman »Die Last des Bösen« (1988) ist aus zwei Erzählsträngen zusammengefügt. Autor des Tagebuchs, das die Rahmenerzählung bildet, ist der Pädagogik-Student Igor Mytarin, der im Jahr 2033 in der fiktiven Stadt Taschlinsk an seiner Abschluss-Arbeit schreibt und seinen Pädagogik-Lehrer Georgi Analtoljewitsch Nossow tief verehrt, wenn er auch nicht immer einer Meinung mit ihm ist. Nossow hat seinem Studenten ein Manuskript in die Hand gedrückt, das von Ereignissen berichtet, die sich ungefähr 40 Jahre zuvor in derselben Stadt zugetragen haben sollen. Mytarin hält das Manuskript für eine offensichtliche Fiktion, ist sich aber nicht sicher, ob er Nossow die Autorenschaft an der seltsamen Erzählung zuschreiben soll.

Die Rahmenhandlung umfasst nur elf Tage, in denen sich in der Stadt Taschlinsk von offizieller Seite Widerstand gegen eine vor der Stadt lebende Jugendbewegung formiert. Die Jugendlichen verweigern die Teilnahme am bürgerlichen Leben und nehmen sich das vegetative Leben der Pflanzen zum Vorbild ihres Lebensentwurfs. Da immer mehr Jugendliche aus der Stadt zu den »Kindern der Flora« entlaufen, wächst der Druck auf die Stadtverwaltung, etwas gegen die Gruppierung zu unternehmen. So plant man, die Jugendlichen mit Hilfe der Polizei gewaltsam aus dem Stadtbezirk zu entfernen. Der Pädagoge Nossow ist der einzige unter den Honoratioren der Stadt, der sich für die »Kinder der Flora« einsetzt, auch weil – wie wir erst spät im Verlauf des Romans erfahren – sein Sohn einer der Führer der Gruppe ist. Trotz seines engagierten Einsatzes findet die Aktion statt, die selbst aber nicht mehr geschildert wird; jedoch deutet eine Bemerkung im Vorwort des Erzählers an, dass Nossow dabei wahrscheinlich ums Leben gekommen ist.

Das Manuskript im Manuskript, das peu à peu so wiedergegeben wird, wie es Mytarin während der Rahmenhandlung gelesen haben will, erzählt von der Wiederkehr Jesu auf die Erde. Begleitet wird er vom Evangelisten Johannes, der das Schicksal des »ewigen Juden« Ahasver hat übernehmen müssen, nachdem er diesen im Zorn getötet hatte. Er lebt zurzeit unter dem Namen Ahasver Lukitsch und gibt vor, ein Vertreter staatlicher Versicherungen zu sein, kauft aber in Wirklichkeit Menschen ihre Seele für die Erfüllung eines Wunsches ab. Die Binnenerzählung kommt nie bis zu einer Handlung im traditionelles Sinne, sondern gerät mehr und mehr ins Phantastische. Nach dem offensichtlichen Vorbild von Bulgakows »Der Meister und Margarita« wird einmal mehr die Geschichte Jesu und – in der Hauptsache – des Evangelisten Johannes neu erzählt. Der wiedergekehrte Jesus spielt nur eine Nebenrolle; überhaupt bleibt seine Rückkehr zur Erde ohne erwähnenswerte Folgen. In dem Moment, als der junge Nossow in der Binnenhandlung auftritt, bricht die Erzählung unvermittelt ab.

Der Roman ist offensichtlich sowohl eine unmittelbare Reaktion auf die politische Liberalisierung in der Sowjetunion unter Gorbatschow als auch ein Spiel mit der phantastischen Tradition der russischen Literatur. Was die politische Eben angeht, so ist es mehr als verständlich, dass die Strugatzkis die tatsächliche dramatische Entwicklung nicht voraussehen konnten, sondern von einer weit zahmeren gesellschaftlichen Veränderung ausgehen. Dabei steht im Vordergrund, dass das politische Establishment auch weiterhin Störungen der bürgerlichen Ordnung mit massiven Maßnahmen entgegentreten wird. Zugleich befürchten sie das Aufkommen latent vorhandener faschistischer Einstellungen. Der Gegenentwurf Nossows ist eine empathische Menschlichkeit, deren christliche Inspiration angedeutet wird, die sich aber jeder konkreten ideologischen Einbindung verweigert. Der Roman liefert so einen sowohl gesellschaftlich als auch literarisch höchst anspruchsvollen Kommentar zum tagespolitischen Geschehen. Es ist kein Wunder, dass die Brüder trotz den sehr verhaltenen Reaktionen von Kritik und Leserschaft auf diesen Roman sehr stolz waren.

Der Band wird ergänzt von zwei Erzählungen, die unter dem Pseudonym S. Jaroslawzew veröffentlicht wurden, das für eine relativ lange Zeit nicht gelüftet wurde. In »Aus dem Leben des Nikita Woronzow« (1984) unterhalten sich ein Moskauer Staatsanwalt und ein befreundeter Schriftsteller über einen merkwürdigen Todesfall: Ein älterer Mann, der eine Gruppe jugendlicher Rowdys zurecht weist, wird von einem der Jugendlichen niedergeschlagen und bleibt tot auf der Straße liegen. Bei der Autopsie stellt sich allerdings heraus, dass er Sekunden vor dem Schlag an einem Herzschlag gestorben ist und der Junge nur einen toten Mann geschlagen hat. Im Nachlass des Mannes findet sich ein Schulheft, in dem sein Todesdatum auf die Minute genau vorausgesagt wird. Weitere Befragungen Bekannter des Mannes durch den Staatsanwalt ergeben, dass der Tote wohl sein Leben immer und immer wieder durchleben muss: Nach jedem Tod findet er sich wieder als Jugendlicher nach einer schweren Erkrankung und durchläuft sein Leben erneut, wobei er sich an alle anderen Durchgänge erinnern kann. Die Erzählung ist eine harmlose Variation auf Schauergeschichten, wie man sie allenthalben finden kann.

Die längere Erzählung »Ein Teufel unter den Menschen« (entstanden 1991, jedoch erst 1993, zwei Jahre nach dem Tod Arkadi Strugatzkis veröffentlicht) verbindet eine nicht verwendete Idee für eine Nebenfigur in »Die Last des Bösen« mit der Katastrophe von Tschernobyl, die dabei allerdings nur eine nebensächliche Rolle spielt. Erzähler ist der Arzt Alexej Andrejewitsch Kornakow, der die Geschichte seines Schulfreundes Kim Sergejewitsch Woloschin aufschreibt: Kim, der im Zweiten Weltkrieg zur Waise wird, wächst in ärmlichen Verhältnissen in Taschlinsk auf und macht nach der Schule eine Ausbildung zum Mechaniker. Als sich die Tochter eines Moskauer Journalistik-Professors in ihn verliebt, macht er kurzfristig eine Karriere als Journalist in Moskau, fällt dann aber in Ungnade und durchläuft eine Reihe von Gulags. Nach seiner Entlassung kehrt er zusammen mit seiner Frau nach Taschlinsk zurück, wo sie aber bald verstirbt. Als sich der Unfall in Tschernobyl ereignet, meldet er sich freiwillig als Hilfskraft, allerdings in der Absicht, von den dortigen Verhältnissen anschließend als Journalist berichten zu können.

Aus Tschernobyl zurückgekehrt, erkrankt er an den Folgen der radioaktiven Strahlung, doch stirbt er nicht. Er entwickelt stattdessen die unwillkürliche Fähigkeit, Lebewesen, die seinen Zorn erregen, auf telepathischem Weg zu töten. Nachdem er selbst diese Fähigkeit verstanden hat, gelingt es ihm, sie zu beherrschen und gezielt einzusetzen, was in der kleinen Stadt verständlicherweise zu einiger Aufregung führt. Am Ende verschwindet Woloschin spurlos aus Taschlinsk; in drei kurzen Epilogen versuchen die Strugatzkis, dieser etwas ziellosen Geschichte eine Wendung in eine Satire der Macht zu geben.

Alles in allem ein recht uneinheitlicher Sammelband, dessen Texte literarisch durchaus nicht alle auf gleicher Höhe sind. Inhaltlich und formal herausragend ist ohne Frage der Roman »Die Last des Bösen«, der besonders allen Liebhabern von Bulgakows »Der Meister und Margarita« als dunkles Gegenstück ans Herz gelegt sei.

Arkadi und Boris Strugatzki: Gesammelte Werke 3. Deutsch von Hans Földeak (Die Schnecke am Hang), Thomas Reschke (Die zweite Invasion der Marsmenschen), Kurt Baudisch (Die Last des Bösen), Edda Werfel (Aus dem Leben des Nikita Woronzow) und Erik Simon (Ein Teufel unter den Menschen). Nach den ungekürzten und unzensierten Originalversionen ergänzt von Erik Simon. Kindle-Edition, 2012. 897 Seiten (Buchausgabe). 9,99 €.