Alexandre Dumas: Die drei Musketiere

»Nun«, sprach Rochefort, »das ist abermals so ein Zufall, der dem anderen die Stange halten kann. […]«

Dieser Fortsetzungsroman entstand 1844 unmittelbar vor „Der Graf von Monte Christo“, und fällt im direkten Vergleich mit diesem deutlich ab. Zwar nimmt das Buch im letzten Viertel deutlich an Fahrt auf, und seine Konstruktion wird subtiler, aber es erreicht nicht die dichte Verflechtung seines Personals in die zentrale Intrige (hier sind es am Ende gleich zwei Intrigen, die über die Strecke helfen müssen), die „Der Graf …“ auszeichnet. Es fehlt ein sich über den gesamten Text erstreckender Plan; der Mittelteil der Erzählung besteht in der Hauptmasse aus rein anekdotischem Füllstoff, der die Leser unter- und hinhalten soll, bis es Zeit ist, das durchaus furiose Ende auszupacken.

Mit „Die drei Musketiere“ liefert Dumas ein französisches Pendant zu dem in England von Walter Scott erfolgreich begründeten Historischen Roman, der eine sogenannte spannende Handlung vor einen historischen Hintergrund setzt, der den Lesern mehr oder weniger vertraut ist. Bei Dumas dient dazu die Regierungszeit Ludwig XIII., den er ganz traditionell als einen schwachen König unter der Fuchtel des intriganten Kardinals Richelieu vorführt. Der Handlungszeitraum sind die Jahre 1625 bis 1628; der zweite Teil der Handlung fällt in die Zeit der Belagerung von La Rochelle.

Im Zentrum der Handlung steht der junge Gascogner d’Artagnan, der sich aufmacht, um in Paris Musketier zu werden, und dessen hauptsächliche Charaktereigenschaft ist, sich bei jeder Gelegenheit zu duellieren. Auf diese Weise macht er auch Bekanntschaft mit dem titelgebenden Trio Athos, Porthos und Aramis, mit denen zusammen er sogleich in eine staatsumstürzende Intrige verwickelt wird. Besonders dieser erste Teil der Erzählung ist zahlreich verfilmt worden; auf eine Verfilmung des zweiten, dunkleren und voraussetzungsreicheren Teils hat man in der Regel klugerweise verzichtet. Allerdings muss man Dumas einräumen, dass seine Einbeziehung der Ermordung des Herzogs von Buckingham in die Handlung, so unwahrscheinlich seine Konstruktion auch immer sein mag, ein kleines schriftstellerisches Meisterstück bildet. Ansonsten ist auch diesem Buch die Geschwindigkeit anzumerken, mit der Dumas arbeiten musste, so dass es Flüchtigkeitsfehler – so wird etwa d’Artagnan gleich zweimal zum Musketier gemacht (S. 360 und 544) – bis in die Buchausgabe geschafft haben.

Dumas hat zu diesem Erfolgsroman gleich zwei Fortsetzungen von jeweils etwa gleicher Länge geliefert – „Zwang Jahre später“ (1845) und „Der Vicomte von Bragelonne“ (1847) –, mit denen er dem Interesse des Publikums des 19. Jahrhunderts an Historischen Romanen entgegenkam. Ob ich diese Teile, die ich nicht bereits gelesen habe, ebenfalls hier besprechen werde, ist derzeit noch nicht entschieden.

Es ist in jedem Fall zu empfehlen, „Die drei Musketiere“ vor oder mit einigem Abstand zu „Der Graf von Monte Christo“ zu lesen; man kann alternativ auch die Kapitel 29 bis 42 getrost querlesen, ohne viel zu versäumen. Auch dieser Ausgabe liegt die Übersetzung von August Zoller (1845) zugrunde, die hier ebenfalls modernisiert, aber nicht gekürzt wurde.

Alexandre Dumas: Die drei Musketiere. Aus dem Französischen von August Zoller. Neu überarbeitet von Michaela Meßner. dtv 14765 (Neuausgabe 2020). München: dtv, 22024. Broschur, 748 Seiten. 15,– €.

David Gerrold / Larry Niven: Die fliegenden Zauberer

Purpur stand außerhalb aller menschlichen Erfahrung. Das Unglück war geschehen, weil wir ebenso falsche Vorstellungen über ihn hatten wie er über uns.

Bei der Suche nach einer der nächsten Lektüren bin ich in einer zweiten Reihe auf lang vergessene Science-Fiction-Bücher gestoßen, die ich offensichtlich beim letzten Umzug vor über 20 Jahren nicht entsorgen wollte, die aber auch nicht in den Vorzug kamen, in der ersten Reihe des Regals aufgestellt zu werden. Darunter finden sich auch vier Romane von David Gerrold, der – als ich so etwas noch hatte – einer meiner liebsten Science-Fiction-Autoren gewesen ist. Gerrolds Bücher, oft mit Co-Autoren verfasst, zeichnen sich fast immer durch ungewöhnliche Themen oder zumindest ungewöhnliche Perspektiven auf klassische Themen der Science-Fiction aus; bei dem hier besprochenen „Die fliegenden Zauberer“ kommt hinzu, dass es sich um einen der seltenen humoristischen Romane des Genres handelt.

Erzählt wird aus der Ich-Perspektive eines Bewohners eines wahrscheinlich weit von der Erde entfernten Planeten. Der Planet befindet sich in einem Doppelsternsystem, das wiederum von einer dichten Wolke kosmischen Staubs umgeben ist, so dass die Bewohner des Planeten über ihr Planetensystem hinaus nichts vom Universum wissen. Erzählanlass ist die Landung einer Raumfähre, die einen einzelnen Menschen auf den Planeten bringt, vorgeblich einen Anthropologen, der sich allerdings als das dümmstmögliche Exemplar seiner Zunft erweist. Purpur, wie die Eingeborenen den Menschen aufgrund eines Übersetzungsfehlers von dessen Universalübersetzer nennen (der Witz wird auf den letzten 50 Seiten dann noch erklärt), wird aufgrund seiner technischen Überlegenheit sogleich der Zunft der Zauberer zugeordnet, was ihn dummerweise in direkte Konkurrenz mit dem lokalen Zauberer Shoogar bringt. Dieser sieht sich durch die Tradition zu einem Zauber-Duell genötigt, in dessen Verlauf er die Raumfähre Purpurs zerstört; Purpur verschwindet in der stark beschädigten Fähre Richtung Süden.

Als unangenehmer Nebeneffekt des Duells wird auch das Dorf der Einheimischen und dessen Umgebung weitgehend unbewohnbar, und die Dorfbewohner ziehen ebenfalls nach Süden, vor dem in dieser Jahreszeit stetig steigenden Meer fliehend. Nach langer Zeit treffen sie auf ein Dorf und – was für ein Zufall! – Purpur, der mit seiner abstürzenden Fähre den Dorf-Zauberer getötet und seine Stelle eingenommen hat. Purpur spricht inzwischen die lokale Sprache einigermaßen fließend; sein Hauptproblem besteht darin, dass er sich zu weit südlich befindet, um sein Mutterschiff zur Landung zu veranlassen (offenbar befindet er sich komplett allein auf einer interstellaren Forschungsreise!). Da sich nach Norden hin inzwischen das Meer ausgebreitet hat, kommt er zu der Einsicht, dass er ein Fluggerät bauen muss, um weit genug in den Norden zurückkehren zu können. (Alle diese Voraussetzungen sind etwas dünn, denn die Einheimischen verfügen durchaus schon über Boote; diese entsprechend weiterzuentwickeln, wäre sicherlich einfacher als das, was Purpur nun unternimmt.) Die fortgeschrittenste Maschine, die Purpur vorfindet, ist das Fahrrad. So beginnt er zusammen mit den beiden Fahrradbauern Wilville und Orbur (die Wortspiele sind Absicht!) eine steuerbares, durch Wasserstoff-Ballons in der Luft gehaltenes Luftschiff zu entwickeln, für dessen Herstellung aber die gesamte lokale Kultur industrialisiert werden muss. Dies ist das eigentliche Thema des Romans.

Der genaue Ablauf und die zu überwindenden Schwierigkeiten müssen hier nicht geschildert werden. Der Roman arbeitet nach dem nur zu verbreiteten Muster „was wahrscheinlich passiert, wenn etwas Unwahrscheinliches passiert“, führt sein Thema aber leicht und angenehm durch und ist auch nach über 50 Jahren immer noch eine witzige und intelligente Lektüre für ein Wochenende. Das englische Original ist lieferbar; die deutsche Übersetzung derzeit bloß als eBook bzw. antiquarisch. Für alle, die Gerrold nicht oder nur als Script-Autor des Star-Trek-Univers kennen, auf jeden Fall ein Tipp.

David Gerrold & Larry Niven: Die fliegenden Zauberer. Übersetzt von Yoma Cap. Heyne SF 3489. München: Heyne, 1976. Broschur, 352 Seiten. Derzeit nur als eBook für 7,99 € lieferbar.

Alexandre Dumas: Der Graf von Monte Christo

»Merken Sie sich Herr Intendant«, entgegnete er, »daß alles und immer an denjenigen verkauft wird, der den rechten Preis zu bezahlen vermag.«

Dass dieser Roman hier frech unter der Rubrik Wiedergelesenes angezeigt wird, ist wahrlich eine Übertreibung. In der mütterlichen Bibliothek fand ich eine Ausgabe des Romans, die so um die 400 Seiten gehabt haben dürfte und die von einem Burkhard Busse angeblich „in Sprache u. Orthographie in e. zeitgemäße Form gebracht“ worden war. Die hier vorgestellte „vollständige Ausgabe“ – ob diese Beschreibung tatsächlich zutrifft, ist bei dtv auf Anhieb nicht immer zu entscheiden – verfügt über knapp 1.500 und noch dazu eng bedruckte Seiten. Grundlage ist wohl die Zollersche Übersetzung von 1846, die also unmittelbar nach dem Erscheinen des Romans im französischen „Journal de Débats“ erfolgte, was noch heute eine Vorstellung davon gibt, was für eine Sensation der Roman bei seinem Erscheinen gemacht haben muss.

Was das Buch erzählt, ist einerseits rasch zusammenzufassen: Der Seemann Edmond Dantès aus Marseilles gerät aufgrund seiner Naivität ungewollt in die Verschwörung um Napoleons Rückkehr von der Insel Elba und wird durch ein Zusammentreffen boshaft herbeigeführter Umstände vom stellvertretenden Staatsanwalt in Marseilles ohne Prozess zu einer zeitlich unbegrenzten Haft auf einer Gefängnisinsel verurteilt. Als er nach 14 Jahren endlich fliehen kann, gerät er durch einen weiteren Zufall in den Besitz eines potenziell unbegrenzten Vermögens, mit dessen Hilfe er seine Rache in Szene zu setzen beginnt. Nach etwa einem Drittel erreicht Dantès als Graf von Monte Christo, einer seiner drei hauptsächlichen Tarnidentitäten, Paris, wo der mehr als erfolgreiche Vollzug seiner Rache an den vier Hauptbeteiligten beinahe den kompletten Rest des Romans füllt. Andererseits müsste man, um den zum Teil haarsträubenden Beziehungen und Verwicklungen der Figuren und Ereignisse zu- und untereinander gerecht zu werden, zahlreiche Seiten füllen. Das Buch strotzt nur so von Unwahrscheinlichkeiten – selbst Dumas macht sich auf den letzten Seiten über diese Zumutung lustig –, die als ein von Dantès’ langer Hand ausgetüftelter Plan verkauft werden. Dantès versteht seine Rache dabei als Mission from God (dies dürfte einer der offensichtlichen Gründe gewesen sein, weshalb Dumas’ Schriften 1863 auf dem Index gelandet sind), woran ihm zwar zwischenzeitlich Zweifel kommen, von denen ihn aber sein Autor glücklich gleich wieder befreien kann.

Der Umfang des Buches ergibt sich nicht nur aus den Verwicklungen der Handlung, sondern auch daraus, dass sich Dumas als ein Meister der Retardation erweist: Immer wieder tauchen neue Figuren im Text auf, denen auf umständlichste Weise erklärt werden muss, was bisher geschah (manche Episoden der Fabel werden gleich vier- oder fünfmal erzählt); alle Gespräche werden auf die umständlichste aller möglichen Weisen geführt (die Spitze stellt wahrscheinlich das Gespräch zwischen Dantès und Maximilien in Kapitel 94 dar, in dem der junge Liebhaber Maximilien von seiner vergifteten Liebe Valentine zu Monte Christo um Hilfe eilt, nur um zuerst seitenweise belangloses Gewäsche zu erzeugen, bis er auf den Punkt kommen kann); Handlungsfäden werden auf komplizierteste Weise in Gang gesetzt, nur um dann kurz vor ihrem Abschluss noch einmal umgebogen und in eine andere Richtung weiterentwickelt zu werden und was der Späße mehr sind. Wenn man als Leser nicht atemlos dem Abenteuer folgt, sondern sich den Spaß macht, die Absicht all dieser Verzögerungen und Windungen zu verstehen – immer noch mehr Seiten und damit Honorar aus der ohnehin schon viel zu langen Handlung zu schlagen! –, ist das Ganze nicht ohne Vergnügen zu lesen, wie trivial und unwahrscheinlich es auch sein mag. In summa: Einerseits eine hanebüchene Handlung, die im Detail immer wieder unter der notwendigen Flüchtigkeit ihres zu viel und viel zu schnell schreibenden Autors leidet, andererseits eine auch entgegen aller Wahrscheinlichkeit faszinierende Konstruktion.

Neben diesem formalen Aspekt dürften der Anschluss an die historischen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit und Dumas’ karikierende Zeichnung der Pariser besseren Gesellschaft wesentlich zu dem Erfolg des Romans beigetragen zu haben: Dantès wird unmittelbar Opfer einer Gesellschaft, die die Verwerfungen ihrer eigenen Zeitgeschichte so weit wie möglich unter den Teppich kehren möchte, um den Ablauf ihrer Geschäfte und Karrieren nicht zu stören. Und er benutzt für seine Rache die Strukturen eben dieser Gesellschaft, in der es an der Oberfläche um Ehre und Ansehen, im Wesentlichen aber immer nur um Geld geht. Dumas erfüllt mit diesem Zeitportrait die beinahe schon moderne Maxime, Kunst gerade dort zu machen, wo man sie am wenigsten erwartet.

Der Roman verdient, in seiner ganzen Komplexität und Trivialität gelesen zu werden. Ich rate daher dringlich davon ab, eine der gekürzten bzw. bearbeiteten Ausgaben zu lesen oder sich mit einer der wirklich zahlreichen Verfilmungen zufrieden zu geben. Wer ein echtes Meisterstück des Fortsetzungsromans – einer der wichtigsten Romanformen des 19. Jahrhunderts – erleben will, greife zu einer möglichst vollständigen Ausgabe wie dieser.

Alexandre Dumas: Der Graf von Monte Christo. dtv 13955. München: dtv, 72019. Broschur, 1495 Seiten. 20,– €.

Joseph Conrad: Nostromo

Jedem sein eigenes Schicksal, geformt von Leidenschaft und Empfindung.

Zum 100. Todestag Joseph Conrads legt Manesse seinen Roman „Nostromo“ (1904) in einer neuen Übersetzung vor. Bereits Conrad selbst hatte das Gefühl, der Roman habe eine neue Epoche in seinem Erzählen eingeleitet, und viele Kritiker sind dieser Einschätzung gefolgt. Der Roman ist denn auch ungewöhnlich genug geraten und braucht eine ganze Weile, bis er in Fahrt kommt, nur um dann seine rattlin’ good story plötzlich wieder abzubrechen und zu einem mehr historisierenden Erzählen zurückzukehren.

Erzählt wird im Wesentlichen von den Ereignissen in und um Sulaco herum, einer fiktiven Hafenstadt im ebenso fiktiven südamerikanischen Staat Costaguana (was soviel wie Palmenküste heißen kann; allerdings hat guano auch noch eine andere Bedeutung). Costaguana zerfällt in eine Zentral- und eine Westprovinz, die durch einen hohen, unwegsamen Gebirgszug voneinander getrennt sind. Sulaco ist zu Zeiten der Segelschiffe aufgrund seiner sehr windstillen Bucht ein eher verschlafener Hafen von untergeordneter Bedeutung, bekommt aber durch die aufkommende Dampfschifffahrt und die erfolgreiche Wiedereröffnung einer lokalen Silbermine eine ganz neue Bedeutung. Die Lizenz zur Ausbeutung der Mine hat Charles Gould, der als Kind in Europa erzogen worden ist und dort auch studiert hat, von seinem englischstämmigen costaguanischen Vater geerbt, und die Mine zu einem Erfolg zu machen, ist ihm ein wenig zur fixen Idee geworden.

Doch Costaguana ist politisch instabil, und die in der Zentralprovinz ansässige rechtsliberale, republikanische Regierung, die selbst durch den Umsturz einer Tyrannei an die Macht gekommen ist, wird wiederum vom Militär gestürzt. In der Westprovinz bricht bei den Landbesitzern und Charles Gould eine milde Panik aus. Zwar schickt man eine zusammen­gewürfelte Armee aus, um sich der Bedrohung entgegenzustellen, aber die revolutionären Truppen halten sich nicht an den Plan der Verteidiger, sondern steuern über See und Berge Sulaco und seinen vermeintlichen Schatz an Silber direkt an. Diesen hat man allerdings kurz vor Ankunft der feindlichen Truppen auf einen Leichter verladen und in stockfinsterer Nacht hinaus in die Bucht geschickt, auf dass er in einen Nachbarstaat gerettet und von dort aus zur Finanzierung der Konterrevolution, vielleicht sogar zum Erringen der staatlichen Unabhängigkeit der Westprovinz dienen möge.

Erst mit diesem Rettungsversuch des Schatzes bekommt nach ca. 240 von 520 Seiten der Titelheld Nostromo endlich seine entscheidende Rolle zugeschrieben. Es handelt sich um einen genuesischen Seemann namens Giovanni Battista Fidanza, der in Sulaco gestrandet ist. Dort ist er aufgrund seines großspurigen und freigiebigen Auftretens und auch wegen seines Erfolgs bei Frauen zu einer Art Volksheld geworden (bei seinem ersten größeren Auftritt gestaltet Conrad ihn als einen Operetten-Don-Juan), der allgemein nur unter seinem Spitznamen Nostromo (einem verschliffenen nostro uomo) bekannt ist. Nostromo, der alles kann und alles wagt, ist der rechte Mann um den Silberschatz in der Nacht herauszuschmuggeln; er hat außerdem noch Martín Decoup an Bord, einen Journalisten und politischen Schwärmer, dem von den heranziehenden Truppen sicher der Tod droht, und einen Blinden Passagier, der an sich nicht weiter von Bedeutung ist, aber noch eine entscheidende Nebenrolle zu spielen hat.

Es ist nicht nötig, die eigentliche Handlung zu referieren und so den Erstlesern die Spannung zu rauben. Wichtig ist nur, dass der Abenteuerroman Episode bleibt. Vorangegangen ist eine gründliche Historie der jüngsten Vergangenheit Costaguanas sowie eine ausführliche Schilderung der Hauptcharaktere und ihrer Vorgeschichten (mit Ausnahme Nostromos, der, wie schon gesagt, in der ersten Hälfte des Buches beinahe nur als Randfigur vorkommt). Dabei ist diese erste Hälfte in einer mäandernden Erzählweise verfasst, die sich von Figur zu Figur hangelt und dabei weder Rücksicht auf eine strenge Chronologie, noch auf Vollständigkeit zu nehmen scheint. Trotzdem entwickelt sich mit der Zeit ein reiches und komplexes Bild Sulacos und seines politischen und gesellschaftlichen Umfeldes. Wie ebenfalls bereits gesagt, endet das Buch ähnlich historisierend wie es anfängt, wenn auch mit einer dramatischen, kaum vorhersehbaren Schlusspointe.

Alles in allem ein außergewöhnlicher Roman, der zwischen Fiktion und alternativer Geschichte, wie man das heute wohl nennt, seinen Weg sucht; ein geadelter Räuberroman, wenn man so will. Die Neuübersetzung ist angenehm zu lesen; an keiner Stelle merkt man ihr an, dass sie von zwei Übersetzern erstellt wurde. Auch haben sich Verlag und Übersetzer nicht dem herrschenden Zeitgeist gebeugt und heute politisch inkorrekte Ausdrücke, die Conrad wie selbstverständlich verwendete, abgeschwächt oder gar überschrieben. Auch sind die den Text durchsetzenden spanischen Wörter stehen geblieben (ein kleines Glossar am Ende hilft jenen, denen das Spanische fremd ist). Einzig, dass man den Untertitel “A Tale of the Seaboard” hat entfallen lassen, hat mich ein wenig irritiert.

Ein durchweg gelungenes Memento zur Feier Conrads!

Joseph Conrad: Nostromo. Aus dem Englischen von Julian und Gisbert Haefs. Zürich: Manesse, 2024. Bedruckter Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, 536 Seiten. 38,– €.

Dieter Kühn: Der Parzival des Wolfram von Eschenbach

Cover

Angeregt durch die Lektüre des Buches von Frank Rexroth habe ich nach langer Zeit wieder einmal Dieter Kühns biographischen Entwurf zu Wolfram aus dem Regal gezogen. Ich bin während des Studiums auf Kühn aufmerksam gemacht worden, und mein stets waches, aber großteils doch vernachlässigtes Interesse an Kultur und Geschichte des Mittelalters rührt wesentlich aus der Lektüre dieses Buches her.

Kühns Buch hat zwei Teile: Im ersten liefert er auf etwa 330 Seiten – wie bereits gesagt – einen biographischen Entwurf des Lebens und Werks Wolframs, während der zweite, deutlich umfangreichere Teil eine Übersetzung von ungefähr 80 % des Wolframschen „Parzival“ enthält. (Die komplette Übersetzung liegt in der zweisprachigen Ausgabe beim Deutschen Klassiker Verlag leider nur noch als Taschenbuch vor.)

Wie immer, wenn es über die zu verbiographierende Person nur wenig Konkretes zu sagen gibt, liefert auch Kühns Entwurf ersatzweise ein Panorama der zeitgenössischen Kultur und – wenigstens in groben Zügen – Geschichte. Kühn macht dabei an allen Stellen klar, wo er gezwungen ist zu extrapolieren, wo nur Vermutungen möglich sind, was sich nur erraten lässt. Er erfindet zwei Figuren, um in ihnen das vermutliche gesellschaftliche und wirtschaftliche Lebensumfeld Wolframs zu unterschiedlichen Zeiten seines Lebens zu spiegeln. Natürlich nimmt auch die Besprechung der Werke Wolframs – nicht nur des „Parzival“, sondern auch des „Willehalm“ und des „Titurel“ – breiten Raum ein; alle Werke sind in ausführlichen Zitaten auch schon in diesem ersten Teil präsent. Was das Buch über all das hinweg auszeichnet, ist Kühns äußerst angenehmer Erzählstil, der die unterschiedlichsten Themen und Fiktionen elegant miteinander verbindet.

Kühns Buch über Wolfram ist der erste Teil seines Mittelalter-Quartetts, das mit „Neidhart und das Reuental“, „Tristan und Isolde des Gottfried von Straßburg“ und „Ich Wolkenstein“ vervollständigt wurde. Das hier besprochene und derzeit auch noch vorliegende Taschenbuch enthält eine Überarbeitung des ersten Teils von 1997; da ich das Buch erstmals in der 80-er Jahren gelesen habe, muss dies damals noch die ursprüngliche Fassung gewesen sein; ich kann mich aber an die erste Lektüre leider nicht mehr gut genug erinnern, um einen Vergleich der beiden Fassungen auch nur versuchen zu können.

Dieter Kühn: Der Parzival des Wolfram von Eschenbach. Fischer Taschenbuch 13336. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 42006. Broschur, 939 Seiten. 29,– €. – Zur Information: Meine Ausgabe hat im Jahr 2006 12,95 € gekostet.

Isaac Asimov: Foundation Trilogy

The Seldon Plan is neither complete nor correct.

Diese Erzählungen, die den für sogenannte Science Fiction eher seltenen Ruf eines Klassikers erlangt haben, sind in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entstanden und veröffentlicht und dann zwischen 1951 und 1953 zu drei Büchern zusammengefasst worden. Während die einzelnen Erzählungen durchaus traditionellen Erzählmustern des Genres folgen, erzählt der Gesamtzyklus eher die Geschichte einer Idee, was für viele andere Science-Fiction-Zyklen vorbildhaft werden sollte.

Erzählt werden knapp vierhundert Jahre in der Entwicklung des Galaktischen Reichs, einer staatlichen Organisation, die zu Beginn der Erzählungen seit mehr als 10.000 Jahren existiert und auf der Höhe ihrer Macht zu sein scheint. Einzig der Psychohistoriker Hari Seldon, ein Soziologe mit einer sehr fortschrittlichen statistischen Methode, erkennt, dass sich das Reich bereits in einem unaufhaltsamen Prozess des Verfalls befindet. Er sagt den Niedergang innerhalb der nächsten 100 Jahre voraus und zugleich, dass es 30.000 Jahre dauern werde, bis sich ein Nachfolgestaat gleichen Umfangs wieder wird etablieren können. Um diesen Zeitraum auf nur 1.000 Jahre zu verkürzen, entwickelt er einen Plan, der wesentlich die Gründung zweier wissenschaftlicher Kolonien – der Foundations – vorsieht.

Inhalt der Erzählungen ist hauptsächlich die Entwicklung der naturwissenschaftlich geprägten Foundation, die in den Außenbezirken der Galaxie angesiedelt ist, und aufgrund ihrer technischen Überlegenheit das Machtvakuum füllen kann, das das verfallende Empire hinterlässt. Diese Entwicklung ist der Hauptinhalt des ersten Bandes “Foundation”. Der zweiten Band “Foundation and Empire” schildert die letzte Konfrontation zwischen den Kräften der Zentralmacht und der ersten Foundation sowie das Auftauchen einer außergewöhnlichen Einzelperson – des Mule –, der wegen einer Mutation eine ernsthafte Gefährdung des Plans von Hari Seldon darstellt, der mit seiner statistischen Methode nur die Entwicklung großer Menschenmassen voraussagen und den Einfluss eines außerordentlichen Individuums nicht mit einberechnen kann. Jedoch kann auch diese Krise durch das Eingreifen der zweiten Foundation überwunden werden. Der dritte Band “Second Foundation” schließlich schildert zum einen den Versuch des Mules, die zweite Foundation zu finden, und zum anderen einen Versuch der ersten Foundation, dasselbe Ziel zu erreichen. Zugleich ist die zweite Foundation bemüht, die vom Mule verursachten Störungen auszugleichen und die Galaxis auf den Weg von Seldons Plan zurückzusteuern. Diese letzten beiden Erzählungen sind leider die schwächsten Teile der Trilogie, aber unvermeidlich, um die Geschichte der Foundations einigermaßen zu einer Abrundung zu bringen.

Diese drei Bände sind für Science-Fiction-Erzählungen erstaunlich gut gealtert, wenn man von Kleinigkeiten absieht (Rauchen ist immer noch weit verbreitet, es gibt noch Zeitungen und was der Späße mehr sind), und ragen aufgrund der narrativen Spannung zwischen genretypischen Einzelerzählungen und dem ideologischem Gesamtkonzept immer noch weit über die breite Masse des Genres weit hinaus. Ich habe diese Bücher noch einmal angeschaut, weil sie zu meinen frühen prägenden Leseerfahrungen gehört haben (ich habe als Science-Fiction-Leser begonnen) und ich lange schon nachschauen wollte, wie sich die Bücher zu meiner Erinnerung stellen würden. Es ist keine Enttäuschung gewesen, sie noch einmal gelesen zu haben.

Asimov hat sich leider in den 80-er Jahren dazu überreden lassen, vier weitere Bände zu dieser Trilogie hinzuzufügen, die allerdings, falls denn der eine Band “Foundation’s Edge”, den ich gelesen habe, typisch ist, den Charme und die Dichte der ursprünglichen Trilogie auch nicht annährend erreichen.

Isaac Asimov: Foundation / Foundation and Empire / Second Foundation. Everyman’s Library. New York u. a.: Alfred A. Knopf, 2010. Leinenband, Fadenheftung, Lesebändchen, LII + 612 Seiten. Etwa 15,– €.

Platon: Apologie des Sokrates

Wer mehr als dreimal hintereinander «warum?» sagt, muss entweder Sokrates sein oder ein Idiot.

Ludwig Hohl

Die Platonische „Apologie“ ist wahrscheinlich der meistgelesene philosophische Primärtext überhaupt: Nicht nur wird er seit langem als einer der Einführungstexte in die Philosophie gebraucht, sondern zusätzlich dient er als Lektüre im Unterricht des Altgriechischen. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass er bereits in zahlreichen Übersetzungen vorliegt und in regelmäßigen Abständen neu übersetzt wird. So auch hier durch den seit einigen Jahren sehr aktiven Kurt Steinmann für die Manesse Bibliothek.

Wie den meisten Lesern bekannt sein dürfte, handelt es sich bei der „Apologie“ um die Wiedergabe dreier Reden, die Sokrates im Jahr 399 v.u.Z. bei dem gegen ihn geführten Prozess wegen Gottlosigkeit und Verführung der Jugend gehalten hat. Es besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass die Reden von seinem Schüler Plato zwar nicht wörtlich, aber doch weitgehend authentisch aufgezeichnet wurden. Da von einer recht zeitnahen Publikation der platonischen Schrift nach Prozessende ausgegangen werden darf, hätte es zahlreiche direkte Beobachter des Prozesses gegeben, die auf eine grobe Verfälschung der sokratischen Reden hätten hinweisen können.

Die längste Rede ist die erste, direkt gegen die Anklage und die Ankläger gerichtete. Hier findet sich Sokrates berühmteste Auseinandersetzung mit der problematischen Natur menschlichen Wissens, die sich im Volksmund ebenso pauschal wie falsch in dem Pseudo-Zitat „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ zusammengefasst findet. Etwas ausführlicher gesagt: Ausgangspunkt ist die Behauptung des Orakels von Delphi, Sokrates sei der Weiseste der Sterblichen, was diesen dazu veranlasst habe, das Wissen seiner Mitmenschen zu prüfen, um das Orakel zu widerlegen. Leider habe nun aber seine Aktivität nur dazu geführt, dass er, bei wem er auch nachgefragt habe, nur auf unzureichendes Wissen gestoßen sei. Daher sei die Aussage des Orakels so zu verstehen sei, dass Sokrates deswegen der Weiseste sei, weil er, obwohl auch er nicht wirklich etwas wisse, sich im Gegensatz zu seinen Mitmenschen nicht einbilde, über wirkliches Wissen zu verfügen. Allerdings habe er sich mit seinem insistierenden Nachfragen viele Feinde geschaffen, er sei sogar zu einer Karikatur in der Komödie des Aristophanes geworden, und dies sei es, was ihm diese Anklage eingebracht habe. Doch diene er mit seiner Suche nach der Wahrheit nur dem Gott und werde das auch in Zukunft so tun.

Streng betrachtet ist die Sokratische Argumentation windig: Natürlich hat ihn der Spruch des Orakels zu nichts verpflichtet; natürlich ist es schlicht Hybris, seinen Zeitgenossen auf dem Markt und anderen öffentlichen Plätzen zum Vergnügen der Umstehenden ihre Inkompetenz oder wenigstens ihre mangelnde Schlagfertigkeit nachzuweisen. Aber ebenso natürlich sollte dies nicht die Grundlage für einen Gerichtsprozess mit einem möglichen Todesurteil als Ergebnis sein.

Es ist in der Rezeptions-Tradition zu Recht darauf hingewiesen worden, dass es sich Sokrates erst mit der zweiten Rede mit seinen Richtern verdirbt. Nachdem er nach der ersten Rede mit einem recht knappen Ergebnis für schuldig befunden wurde, konnte der Angeklagte in der zweiten Rede zum Strafmaß sprechen. Er macht dabei klar, dass er eine staatlich finanzierte Speisung für die angemessenste Strafe für seine Dienste am Athener Volk halte, er lässt sich aber letztendlich dazu herab, eine Geldstrafe zu beantragen, von der er sagt, seine reichen Freunde hätten zugesagt, sie zu entrichten. Erst diese Rede, so die allgemeine Auffassung, habe die Richter bewogen, das Todesurteil zu verhängen.

Zur Rezeption der „Apologie“ gehören zwei weitere Platonische Dialoge: „Kriton“, in dem die Gründe des Sokrates ausgeführt werden, warum er das Urteil der Richter annimmt und sich der Exekution nicht durch Flucht entzieht und warum es besser ist, Unrecht zu erleiden als auszuüben. Und „Phaidon“, in dem die Hinrichtung Sokrates’ geschildert wird verbunden mit einer Diskussion über die Unsterblichkeit der Seele und darüber, dass das Leben des Philosophen eines auf den Tod hin sei. Es wäre sehr schön, wenn Kurt Steinmann auch diese beiden Dialoge neu übersetzte und so die kleine Trilogie dieser wichtigen Grundtexte für die europäische Tradition auch in den schönen Ausgaben der Manesse-Bibliothek zu Verfügung stünde.

Wie zu erwarten war, ist Steinmanns Übersetzung tadellos (an einer einzigen Stelle habe ich einen sprachlichen Lapsus gefunden), gut lesbar und in einem modernen, aber durchaus nicht nachlässigem Deutsch verfasst. Die Anmerkungen zum Text sind vereinzelt etwas überflüssig, da sie nur das paraphrasieren, was ohnehin im Text steht, insgesamt aber durchaus hilfreich für den Leser, der sich ohne Kenntnisse der kulturellen und juristischen Voraussetzungen des Prozesses an die Lektüre macht. Das Nachwort hat man mit Otto Schily einen Juristen schreiben lassen, was angesichts des philosophischen Sumpfes keine schlechte Idee ist, aber nur dazu führt, dass Schily die zu diskutieren Kernfrage „Was ist Wahrheit?“ (Pontius Pilatus) zwar anspricht, sich aber gleich anschließend den üblichen Ausreden zuwendet. Hier wäre eventuell eine Einordnung durch einen Althistoriker oder Philologen glücklicher gewesen.

Platon: Apologie des Sokrates. Übersetzt von Kurt Steinbach. Manesse Bibliothek. Zürich: Manesse, 2023. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 182 Seiten. 24,– €.

Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig

Der zweite und, wie er bereits im Vorwort explizit schreibt, letzte Band von Fontanes Autobiographie erschien in seinem Todesjahr 1898. Mit seinem 70. Geburtstag Ende 1889 wurde Fontane ein deutschlandweit bekannter und besprochener Romanautor, wodurch ihn auch Anfragen nach seiner Autobiographie – einem damals immer beliebter werdenden Genre – erreichten. Als er nach einer überstandenen Lungenerkrankung unter einer Depression litt, riet auch sein Arzt als Heilmittel zur Beschäftigung mit seiner Jugend und Kindheit. So erschien 1894 zuerst Meine Kinderjahre, dem dann vier Jahre später der hier vorgestellte Band folgte.

Die erzählte Zeitspanne verrät bereits der Titel, wobei als äußerliche Ereignisse Fontanes Eintritt in die Ausbildung zum Apothekergehilfen einerseits und seine Heirat und der Übergang in den beruf des Journalisten andererseits die Grenzen bilden. In diese Zeitspanne fällt nicht nur Fontanes Bekanntschaft mit zahlreichen Literaten seiner Zeit, die durch eine literarische Gesellschaften vermittelt werden, sondern auch sein Erleben der Revolution von 1848 in Berlin. Beiden Bereichen werden ausführliche Abschnitte gewidmet, während Fontane was seine familiären Umstände und auch seine Liebe zu Emilie Kummer eher zurückhaltend ist. So ist ein Gutteil des Buches mit Portraits mehr und weniger bekannter Persönlichkeiten aus dem Tunnel über der Spree gewidmet, die für Literaturinteressierte auch heute noch gewinnbringend zu lesen sind.

Eher ein locker und entspannt erzähltes Zeitbild als eine Autobiographie im engeren Sinne, dem natürlich aufgrund des anekdotischen Stoffes die Dichte der Fontaneschen Romane fehlt. Für Fontane selbst war es wohl wichtiger, dass die Beschäftigung mit seiner eigenen Vergangenheit ihm wieder zum Schreiben zurück verhalf.

Wie alle Bände der Große Brandenburger Ausgabe ist auch dieser Band mit einem umfangreichen, vorzüglichen Anhang versehen, der den Band erläuternd, kommentierend und durch ein ausführliches Register erschließt.

Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Große Brandenburger Ausgabe. Das autobiographische Werk. Bd. 3. Berlin: Aufbau, 2014. Geprägtes und bedrucktes Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 967 Seiten. 68,– €.

Theodor Fontane: Die Poggenpuhls

»Arme Verwandte,« sagte Therese mit halblauter Stimme vor sich hin.

Die Poggenpuhls entstanden zwischen 1891 und 1894, was für den sehr effizienten Arbeiter Fontane eine lange Zeit für die etwa 120 Seiten darstellt, die das Buch umfasst. Das liegt wohl in der Hauptsache daran, dass Fontane parallel dazu an seiner Autobiographie arbeitete (Meine Kinderjahre (1893) und Von Zwanzig bis Dreißig (1898)), was ihm von seinem Arzt als Mittel gegen seine Depressionen empfohlen worden war. Es lässt sich diskutieren, ob es sich nach dem Verständnis der Zeit überhaupt um einen Roman handelt, da es dafür recht kurz ist. Andererseits ist der Sammelbegriff „Erzählung“ sehr unspezifisch und eher eine germanistische Notlösung als einen hilfreiche Einordnung. Von Der Stechlin aus betrachtet, handelt es sich bei Die Poggenpuhls um eine Art von Handübung für den späteren Roman: Auch hier wird auf eine spannende Handlung verzichtet, auf Konflikte oder eine Liebesgeschichte, wie es von Romanen der Zeit gern erwartet wurde. Ersetzt wird dies durch eine Art von Panorama – nicht umsonst wird diese populäre zeitgenössische Kunstform gleich zweimal erwähnt – der gesellschaftlichen Schnittstelle zwischen Bürgertum und Adel.

Im Mittelpunkt steht die Familie von Poggenpuhl, genauer der verwitweten Albertine von Poggenpuhl, die allerdings bürgerlich geboren wurde und sich nie so recht in die Rolle als Adelige eingefunden hat. Sie hat fünf Kinder, zwei Söhne, die beide gemäß der Familientradition beim Militär dienen, und drei Töchter, die zusammen mit der Mutter in eher bescheidenen Verhältnissen in Berlin leben. Therese, die Älteste der Töchter, versucht das Adelsbewusstsein der Familie aufrecht zu erhalten, was sie zu einer leicht skurrilen Figur macht, während die bei jüngeren Töchter, Sophie und Manon, sich eher handfest und bürgerlich orientieren. Keine der Töchter hegt Heiratspläne, da die Familie über keinerlei Vermögen verfügt, das sich in eine Mitgift verwandeln ließe. Von den Söhnen hat nur der Ältere, Wendelin, Aussichten auf eine militärische Karriere; demgegenüber entspricht der jüngere Leo dem typischen literarischen Offiziers-Klischee der Zeit: Er gibt sich „schneidig“, schwätzt viel Unfug, macht Schulden (wenn auch nur mäßig) und langweilt sich im Dienst. Offenbar denkt er ernsthaft darüber nach, als Abenteurer nach Afrika zu ziehen, um dort sein Glück zu suchen.

Aus dieser Grundkonstellation entwickelt Fontane ein Nichts von Handlung: Leo besucht seine Mutter zu Ihrem Geburtstag, man trifft den Onkel Eberhard (den Schwager der Mutter), der als Deus ex machina Leos Rückfahrt zu seinem Standort finanziert, Sophie fährt mit Onkel Eberhard nach Hause, um seiner Frau Josephine – ebenfalls einer Bürgerlichen, die in die Familie Poggenpuhl eingeheiratet hat – Gesellschaft zu leisten. Sophie bricht sich ein Bein, bemalt die Wände der örtlichen Kirche und erlebt, wie ihr Onkel binnen weniger Tage an der Tuberkulose verstirbt. Nach der Beerdigung eröffnet Josephine Albertine, dass sie den privaten Teil ihres Vermögens zugunsten von deren Töchtern einsetzen wird, so dass alle drei Schwestern nun Aussicht auf eine Ehe haben werden. Auch Leo soll geholfen werden (Wendelin wird natürlich auch nicht vergessen, aber der spielt ohnehin im Roman kaum eine wirkliche Rolle), auf dass er nicht nach „Afri- od- Ameriko“ entfliehen muss. Insgesamt wird viel geredet, und sonst passiert kaum etwas.

Was im Gegensatz zu Der Stechlin fehlt, sind echte Charaktere: Zwar gehen Onkel Eberhard und seine Gattin gerade noch dafür durch, aber ansonsten ist vieles einfach nur Markierung einer Position oder Karikatur: Therese als eingebildete Adelige, die weder über Einfluss noch Land noch anderes Vermögen verfügt, ist nur eine lächerliche Figur, Leos Status als Klischee ist schon festgestellt worden, Sophie ist leider etwas zu frühklug und volksreligiös geraten und Manon ist eigentlich kaum etwas Eigenständiges und dient nur dazu, den neuen, jüdischen Geldadel wenigstens am Rande mit in den Roman zu bringen. Wer Fontane mag, wird sich unterhalten; alle anderen, so fürchte ich, werden sich langweilen.

Theodor Fontane: Die Poggenpuhls. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 16. Berlin: Aufbau, 2006. Geprägtes und bedrucktes Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 292 Seiten. 28,– €.

Theodor Fontane: Der Stechlin

ein Feuerwerk von Anzüglichkeiten und kleinen Witzen

Niemand, der über dieses letzte Buch Fontanes (Mathilde Möhring ist aus dem Nachlass herausgegeben worden) spricht oder schreibt, kommt um das Bonmot herum, mit dem Fontane den Inhalt dieses Buch umriss: „Zum Schluß stirbt ein Alter, und zwei Junge heiraten sich; – das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Von Verwicklungen und Lösungen, von Herzenskonflikten oder Konflikten überhaupt, von Spannungen und Überraschungen findet sich nichts.“ (Brief-Entwurf an Adolf Hoffmann, Mai/Juni 1897.) So ganz ohne „Konflikte“ ist das Buch zwar nicht, aber es sind weniger persönliche als gesellschaftliche, die tatsächlich nur zu beschreiben, nicht zu lösen sind.

Die Handlung spielt in der Hauptsache am und um den Stechlinsee herum sowie in Berlin. Im Zentrum steht der alternde Dubslav von Stechlin, der als Major a. D. auf Schloss Stechlin residiert. Sein einziger Sohn Woldemar ist als Dragoner in Berlin stationiert und verkehrt viel im Hause des Grafen von Barby, ebenso alt wie Dubslav von Stechlin, weil er die beiden Töchter des Hauses umwirbt – Melusine und Armgard, die schließlich seine Braut werden wird. Die eigentliche Handlung beschränkt sich auf einen Besuch Woldemars zusammen mit zwei Regimentskameraden bei seinem Vater und seiner Tante, der Vorsteherin des nahe gelegenen Kloster Wutz, die Werbungszeit um Armgard, die Hochzeit, die eher summarisch abgehandelt wird, und abschließend die Zeit der Krankheit und des Todes von Dubslav von Stechlin.

Den sozialen Hintergrund bilden die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts mit den religiösen und sozialen Verwerfungen der Zeit: der immer noch starke Gegensatz zwischen Protestanten und Katholiken sowie der zwischen den konservativen Kräften (zu denen Dubslav ebenso zählt wie Graf Barby) und den aufkommenden sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegungen (mit denen Woldemar zumindest sympathisiert, ohne als deren politischer Anhänger zu erscheinen). Quasi quer zu diesen Kräften wird immer erneut das Verhältnis der Geschlechter zueinander thematisiert, wobei die Sexualität immer wieder mit einer für die Zeit überraschenden Deutlichkeit thematisiert wird:

»Ich verheiratete mich, wie Sie wissen, in Florenz und fuhr an demselben Abende noch bis Venedig. Venedig ist in einem Punkte ganz wie Dresden: nämlich erste Station bei Vermählungen. Auch Ghiberti – ich sage immer noch lieber ›Ghiberti‹ als ›mein Mann‹; ›mein Mann‹ ist überhaupt ein furchtbares Wort – auch Ghiberti also hatte sich für Venedig entschieden. Und so hatten wir denn den großen Apennintunnel zu passieren.«
»Weiß, weiß. Endlos.«
»Ja, endlos. Ach, liebe Baronin, wäre doch da wer mit uns gewesen, ein Sachse, ja selbst ein Rumäne. Wir waren aber allein. Und als ich aus dem Tunnel heraus war, wußt’ ich, welchem Elend ich entgegenlebte.«
»Liebste Melusine, wie beklag’ ich Sie; wirklich, teuerste Freundin, und ganz aufrichtig. Aber so gleich ein Tunnel. Es ist doch auch wie ein Schicksal.«

S. 351

Das Buch lebt ganz und gar von seinen Charakteren – neben Dubslav von Stechlin bilden Melusine von Barby-Ghiberti und der lokale Pastor Lorenzen den Kernbestand, der von zahlreichen Nebenfiguren umstellt ist (auch Woldemar und Armgard müssen unter diese Nebenfiguren eingeordnet werden). Es verzichtet auf jeden Versuch, die zahlreichen anekdotischen Szenen durch irgendeine Form von artistischer Konstruktion einzubinden, sondern gibt sich mit einem lockeren Faden des Nacheinanders vollständig zufrieden (hierin ist der alte Fontane vielen zeitgenössischen Kollegen weit voraus). Es erscheint im formalen Sinne als künstlerisch schlicht und anspruchslos, doch könnte nicht besser sein, als es geworden ist. Ein Zeitbild, wie man es selten findet, aus der Feder eines der besten melancholischen Chronisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Theodor Fontane: Der Stechlin. Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 17. Berlin: Aufbau, 2001. Geprägtes und bedrucktes Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 716 Seiten. 48,– €.