Philip Roth: Der menschliche Makel

Und so hatte all dies begonnen: Ich stand in der Abenddämmerung allein auf einem Friedhof und ließ mich auf einen beruflichen Wettkampf mit dem Tod ein.

Roth-Makel„Der menschliche Makel“ (2000) ist der dritte Roman der sogenannten Amerika-Trilogie von Philip Roth, der zweiten Trilogie von Romanen, in denen der fiktive Schriftsteller Nathan Zuckerman als Erzähler auftritt. Die Jetzt-Zeit des Romans ist das Jahr 1998, und Zuckerman beginnt seine Erzählung mit einer emotionalen Suada über die bigotten Reaktionen weiter Teile der US-amerikanischen Öffentlichkeit auf die Lewinsky-Affäre. Damit ist mit einem wahrscheinlich allen Lesern Roth’ bekannten Beispiel das Hauptthema des Buches bezeichnet, das Zuckerman an späterer Stelle als „Tyrannei der Schicklichkeit“ (S. 175) benennen wird.

Im Zentrum der Erzählung steht das Leben des emeritierten Professors für klassische Literatur Coleman Brutus Silk. Silk hat eine erfolgreiche akademische Karriere hinter sich, wurde bereits als relativ junger Professor Dekan seiner Fakultät am Athena-College und war federführend dafür verantwortlich, diese Fakultät zu modernisieren und die Professuren mit jungen, motivierten Lehrkräften neu zu besetzen. Er entschließt sich im Jahr 1993, seine Stelle als Dekan aufzugeben und sich in seinen letzten Semestern noch einmal der Lehre zu widmen. Jedoch bereits im ersten Semester, das er wieder unterrichtet, kommt es zu einem Vorfall, der Silk in der Konsequenz dazu bringt, seine Stelle aufzugeben und einen privaten Kleinkrieg gegen seine alte Fakultät zu beginnen: Silk bezeichnet zwei seiner Studenten, die er nie gesehen hat, weil sie an keiner seiner Veranstaltungen teilgenommen haben, obwohl sie auf der Teilnehmerliste stehen, scherzhaft als „spooks“, also in etwa als „Gespenster“ (der Übersetzer Dirk van Gunsteren übersetzt „spooks“ hilfsweise mit „dunkle Gestalten“). Es erweist sich im Nachhinein, dass es sich bei den beiden Studenten um Schwarze handelt, und eine der beiden beschwert sich bei der neuen Dekanin über den von Silk verwendeten Ausdruck, den sie – historisch durchaus begründet – als rassistisch empfindet. Diese Kleinigkeit, die sich von Silk mit ein wenig Demut und einer entschuldigenden Erklärung wahrscheinlich hätte ausräumen lassen, eskaliert, da Silk darauf beharrt, er könne diesen Ausdruck nicht rassistisch verwendet haben, da er die fraglichen Studenten nie gesehen und daher auch nicht gewusst habe, dass es sich um Schwarze handelt.

Wie bereits gesagt führt die Zuspitzung dieser Konfrontation dazu, dass Silk vom College emeritiert; als zudem überraschend auch noch seine Frau stirbt – Silk versteigt sich zu der Auffassung, die ihn verleumdenden bzw. nicht unterstützt habenden Kollegen hätten den Tod seiner Frau zu verantworten–, verbeißt sich Silk in ein Buchprojekt, in dem er seine Unschuld und die ungerechte Behandlung durch sein College entlarven will. In dieser Zeit entfremdet sich Silk von seinen Kindern und lebt allein und gesellschaftlich isoliert. Einzig zu Nathan Zuckerman scheint er sporadischen, freundschaftlichen Kontakt zu pflegen. Nach weiteren zwei Jahren – und damit ist die Jetztzeit der Erzählung erreicht – scheint er seine Krise endlich überwunden zu haben: Er hat sein Buch abgeschlossen und anschließend als gescheitert verworfen. Er hat eine Affäre mit Faunia Farley begonnen, einer Frau, die nur halb so alt ist wie er und unter anderem an seinem alten College als Putzfrau arbeitet. So sehr sich die beiden auch bemühen, ihre sexuelle Beziehung geheim zu halten, sie werden bald entdeckt: Zum einen von Faunia Ex-Ehemann Lester, einem Vietnam-Veteranen, der seine Aggressionen und seine Wut der Welt und besonders seiner Ex-Frau gegenüber, der er die Verantwortung für den Tod zweier gemeinsamer Kinder zuschreibt, nur unvollkommen unter Kontrolle hat; zum anderen von der Dekanin Delphine Roux, die Colemans Beziehung zu der angeblich analphabetischen Putzfrau nur als einen Akt der abscheulichsten sexuellen Ausbeutung begreifen kann.

Coleman und Faunia kommen schließlich in einem ungeklärten Autounfall ums Leben – Nathan Zuckerman hegt die nicht zu beweisende Theorie, dass dieser Unfall von Lester verursacht wurde –, und Zuckerman trifft auf Colemans Beerdigung dessen Schwester, die ihm den eigentlichen Skandal von Coleman Silks Leben offenbart: Bei Silk handelt es sich nämlich nicht, wie seine Familie, alle Kollegen am College und auch Zuckerman angenommen hatten, um einen Juden, sondern tatsächlich um einen Schwarzen, der sich bei seinem Eintritt in die Marine nicht nur ein falsches Geburtsdatum, sondern auch eine falsche Rassenzugehörigkeit zulegt hatte.

Coleman Silk ist allerdings nicht die einzige Figur, die versucht ihrer Herkunft und den sich aus ihr ergebenden Folgen zu entfliehen: Auch Delphine Roux ist aus Frankreich nach Amerika gegangen, um sich dem Einfluss einer übermächtigen Mutter zu entziehen und sich neu zu erfinden, und auch für Faunia Farley gilt, dass sie zumindest ihr Analphabetentum nur vortäuscht, um in der Gesellschaft eine Nische einnehmen zu können, die sie von ihrer eigenen Vergangenheit isoliert. Diese Scheinexistenzen, die sich gegenseitig auf merkwürdige Weise spiegeln und zugleich verhindern, dass diese drei Personen wirklich verstehen, wer der jeweils andere ist, bilden das Widerlager zu der Welt des Klatsches und der Gerüchte, die das Leben der Figuren beherrscht. Selbst für Lester gilt das, den der Erzähler Zuckerman zu einem Mörder macht, ausschließlich weil er gegen ihn ein Vorurteil hegt. Selbst die auf den letzten Seiten geschilderte, einzige persönliche Begegnung zwischen Nathan und Lester führt nicht dazu, dass Zuckerman sein Vorurteil aufgibt; am Ende ist auch er in denselben Strukturen gefangen, die er mit dem Erzählen der Geschichte Coleman Silks anklagt.

„Der menschliche Makel“ ist eine hoch komplexe Erzählung, der es auf eine außergewöhnliche Art und Weise gelingt, die Beziehungen einer Handvoll von Menschen zueinander zu thematisieren. Dabei gelingt es Roth seinen Erzähler als „Mensch mit Menschen“ erscheinen zu lassen, ohne auch nur den Anschein zu erwecken, Nathan Zuckerman verfüge über eine erhabene Moral oder sonst einen seinen Figuren überlegenen Standpunkt. Alles, womit er ihn ausstattet, ist ein moralischer Affekt, dem man zwar nur zu gerne zustimmt, ohne dabei aber über das hinauszukommen, was das Buch kritisiert: ein unbegründetes Ressentiment, das sich überlegen glaubt.

Philip Roth: Der menschliche Makel. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. rororo 23165. Reinbek: Rowohlt 252012. Broschur, 400 Seiten. 9,99 €.

Vladimir Nabokov: Das wahre Leben des Sebastian Knight

Aber ich wüßte keinen anderen Dichter zu nennen, der von seiner Kunst einen so verwirrenden Gebrauch macht – verwirrend für mich, der ich versuche, hinter dem Autor den wahren Menschen zu sehen.

Nabokov-Sebastian-KnightDer erste Roman, den Nabokov von Anfang an in Englisch verfasst hat. Die Entscheidung, die Sprache zu wechseln, kann für einen Schriftsteller und noch dazu für einen so sprachbewussten und eigenwilligen wie Nabokov niemals leicht sein. Nabokov sah sich dazu aus ganz praktischen Gründen gezwungen: Er hatte 1937 Deutschland endgültig verlassen und lebte zu der Zeit, als der „Das wahre Leben des Sebastian Knight“ schrieb, mit seiner Familie unter kargen Bedingungen im Süden Frankreichs und später in Paris. Es war ihm klar, dass er das von den Deutschen bedrohte Europa wohl würde verlassen müssen und dass die USA für ihn und seine Familie der sich anbietende Fluchtpunkt sein würden.

Ein US-amerikanischer Verlag hatte sich 1937 an „Gelächter im Dunkel“ interessiert gezeigt, und Nabokov hatte die Gelegenheit genutzt, nach „Verzweiflung“ ein weiteres seiner Bücher selbst ins Englische zu übertragen. Da der deutsche und deutsch-russische Buchmarkt in Zukunft für einen russischen Autor mit einer jüdischen Ehefrau wohl eher eine unsichere Sache darstellen würde, konnte Nabokov nur hoffen, sich auf dem englischsprachigen Markt etablieren zu können. Dazu war es aber allein schon aus Gründen der Effizienz notwendig, die Doppelbelastung von Niederschrift eines russischen Originals und anschließender Übersetzung in die Sprache seiner hauptsächlichen Leserschaft zu vermeiden. Nabokov musste also wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und ein englischer bzw. amerikanischer Autor werden.

So entstand um die Jahreswende 1938/1939 herum der kleine Roman „Das wahre Leben des Sebastian Knight“ auf Englisch. Sein Ich-Erzähler ist ein namenlos bleibender Exilrusse, der versucht, eine Biographie seines früh verstorbenen, als Schriftsteller erfolgreichen Halbbruders zu verfassen. Treibendes Motiv ist sein Schuldbewusstsein, dass er sich zu Lebzeiten nicht ausreichend um seinen Halbbruder gekümmert hat, der ihm das allerdings durch seine distanzierte Haltung auch nicht einfach gemacht hatte. Sebastian Knight war der Sohn der ersten Frau des Vaters des Ich-Erzählers, einer eher flatterhaften Frau, die sich vom gemeinsamen Vater der Brüder rasch wieder getrennt hatte. Sebastian und der sechs Jahre jüngere Erzähler waren gemeinsam aufgewachsen, nach dem Tod des Vaters zusammen mit der Mutter bzw. Stiefmutter aus dem kommunistischen Russland nach Finnland und Dänemark geflohen, von wo aus Sebastian zum Studium nach England, die Mutter mit dem Erzähler nach Paris gegangen waren. Seit dieser Zeit ist der Kontakt zwischen den Brüdern immer nur sporadisch, auch wenn sich Sebastian um den finanziellen Unterhalt des Erzählers nach dem Tod von dessen Mutter kümmert.

Sebastian wird ein relativ bekannter Schriftsteller, der alles in allem fünf Bücher veröffentlicht. Er lebt eine gute Weile mit Clare Bishop zusammen – Knight ist das englische Wort nicht nur für den Ritter, sondern auch für den Springer im Schachspiel, Bishop heißt dort der Läufer; Sebastian und Clare gehören also offensichtlich zum selben Spiel (vielleicht gar zu derselben Farbe), müssen aber ebenso offenbar zwangsläufig getrennte Wege gehen –, verliebt sich dann aber bei einem Kuraufenthalt in eine andere Frau, die wahrscheinlich durch ihr emotionale Gleichgültigkeit ihm gegenüber wesentlich mit zu seinem frühen Tod beiträgt; Sebastian Knight leidet – wie sich das für einen anständigen allegorischen Autor gehört – an einem ererbten Herzleiden. Der von einem mit der Familie befreundeten Arzt benachrichtigte Erzähler eilt von Marseille aus an das Krankenbett seines Bruders, kommt aber am Ende doch zu spät. Vom schon erwähnten Schuldgefühl angetrieben, versucht er nun, die Biographie seines Bruders zu rekonstruieren. Der Bericht von diesem letztendlich scheiternden Unterfangen bildet im Wesentlichen den Inhalt des Buches. Ganz am Ende findet sich noch eine zusätzliche, romantisch-nabokovsche Wendung, wenn der Erzähler sich mit seinem Halbbruder für identisch erklärt; man kann dies – wie der Übersetzer und Herausgeber des Bandes – tiefsinnig interpretieren wollen, man kann aber auch schlicht die Schultern zucken und es als das zur Kenntnis nehmen, was es ist: eines der üblichen Spielchen, wie Nabokov sie geliebt hat, um seinen Lesern unter die Nase zu reiben, dass es sich bei allen seinen Büchern immer um Fiktionen handelt. Wir hätten es auch ohne das bemerkt.

Das Buch ist recht witzig geraten: Es ist natürlich kein Zufall, dass Nabokov für seinen ersten englischen Roman einen russischen Möchtegern-Autor erfindet, der ebenfalls dabei ist, sein erstes Buch auf Englisch zu schreiben. Es bietet sich ausgiebig Gelegenheit, prinzipielle poetologische Überlegungen auszubreiten, sich sowohl über eigene Marotten, Vorlieben und Eitelkeiten als auch die anderer Autoren lustig zu machen usw. usf. Dass der Autor in seinem Vorhaben wesentlich scheitert – „Das wahre Leben des Sebastian Knight“ ist weit mehr ein Buch über den namenlosen Erzähler als über das obskure Objekt seiner Liebe –, lässt sich als eine Parodie auf die Parodie einer Biographie in „Die Gabe“ lesen, was, ins Ernste gewendet, nicht weniger als die Zuspitzung von Nabokovs Zweifel daran ist, ob sich die Komplexität des Lebens eines wirklichen Menschen überhaupt angemessen in ein Buch bannen lässt. All das wird mit anscheinend leichter Geste vorgetragen, und selbst dort, wo der Erzähler die moralische Keule zur Verteidigung seines Bruders schwingt, weiß der Leser inzwischen genug, um die für das Verständnis dieser Stellen notwendige Ironie selbst aufzubringen.

Vladimir Nabokov: Das wahre Leben des Sebastian Knight. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Gesammelte Werke VI. Reinbek: Rowohlt, 1996. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 299 Seiten. 21,– €.

Novalis: Heinrich von Ofterdingen

Kein Mensch weiß, wo das Land hingekommen ist.

Novalis-Ofterdingen

Angeregt durch die erneute Lektüre von Heinrich Heines „Die romantische Schule“ habe ich auch den Band Novalis wieder einmal aus dem Schrank genommen. Novalis war mir zum ersten Mal zu Schulzeiten bei der Lektüre von Hesses „Der Steppenwolf“ begegnet, der den hübschen Aphorismus zitiert „Die meisten Menschen wollen nicht eher schwimmen, bis sie es können“, in das er seinen Harry Haller zudem noch ein gänzlich unnötiges „als“ einschmuggeln lässt. Damals habe ich zum ersten Mal versucht, den „Heinrich von Ofterdingen“ (1802) zu lesen, ihn aber bald zur Seite gelegt. In den kleinen „Fragmenten“ war das eine oder andere Anregende zu finden, aber der „Ofterdingen“ war mir zu phantastisch und ziellos in seinem Erzählen. Während des Studiums habe ich die gesamte Erzählung dann als Pflichtlektüre hinter mich gebracht, ohne dass davon bis heute viel mehr geblieben wäre als eine sehr vage Erinnerung an eine märchenhafte Reise- und Liebesgeschichte.

Novalis-Werke

So war ich gespannt, was mir begegnen würde, doch ich muss eingestehen, dass es mir auch diesmal – mit dem Abstand von vielen Jahren und einem ungleich größeren Wissen über die Romantik als Stil- und historische Epoche – nicht gelungen ist, das Buch mit wirklichem Vergnügen zu lesen. Der erste Teil, der den Hauptteil des Fragment gebliebenen Romans ausmacht, ist im Wesentlichen genau das, was ich erinnert habe: Der gerade erwachsen gewordene Heinrich reist zusammen mit seiner Mutter von Eisenach aus zu deren Vater nach Augsburg. Man schließt sich zu diesem Zweck einer Gruppe reisender Kaufleute an, mit denen der bis dahin als Gelehrter erzogene Heinrich einige altkluge Gespräche führt. Man tauscht Lieder und Geschichten aus, entdeckt unterwegs einen Einsiedler in einer Höhle, in dessen Büchern einem der junge Heinrich auf geheimnisvolle Weise sein zukünftiges Leben vorgebildet findet. All dies dient wahrscheinlich zur Vorbereitung des zweiten Teils, von dem dann nur der Anfang niedergeschrieben wurde.

In Augsburg angekommen, lernt Heinrich nicht nur seinen Großvater kennen, er trifft bei ihm auch gleich eine der Figuren aus dem Buch des Einsiedlers, den Dichter Klingsohr, der ihn sofort als Schüler unter seine Fittiche nimmt und ihn mit seiner Tochter Mathilde verheiratet. Auch Klingsohr und Heinrich führen wieder jene künstlichsten Gespräche, die in ihrer Abstrusität nur vom Geturtel der beiden Liebenden Mathilde und Heinrich noch übertroffen werden. Den Abschluss des ersten Teils bildet ein von Klingsohr einer Abendgesellschaft vorgetragenes Märchen, eigentlich nichts als eine leere Allegorie, die Tiefe vorspiegelt, jedoch kaum liefert.

Dieses Märchen, das sicherlich nicht zufällig an Goethes „Das Märchen“ (1795) erinnert, dient der Vorbereitung des ganz und gar auf jeglichen Realismus verzichtenden zweiten Teil, von dem nur wenige Seiten des Anfangs niedergeschrieben wurden. Hier begegnet uns Heinrich als Pilger wieder, ohne dass der Leser in der Lage wäre, eine auch nur ungefähre zeitliche Relation zum Geschehen des ersten Teils herzustellen, die über die Feststellung hinausginge, dass Heinrich erheblich gealtert ist. Er scheint Mathilde auf eine nicht näher erklärte Weise verloren zu haben, wandert durch einen Wald irgendwo in der Umgebung Augsburgs, trifft dort auf eine geheimnisvolle Figur mehr, mit der noch weitere abgehobene Gespräche geführt werden, bis ein gnädiges Schicksal dem Schwätzen ein Ende macht. Ergänzt wird der Text Novalis’ traditionell durch einen editorischen Nachbericht des ersten Herausgebers Ludwig Tieck, der aus Erinnerungen an Gespräche mit dem Dichter und aus dessen nachgelassenen Papieren die weitere Handlung rekonstruiert, die umfangreiche phantastische Fahrten an wirkliche und erfundene Örtlichkeiten und sicherlich ausgiebiges weiteres Geschwätz präsentiert hätte. Tieck bedauert sehr, dass der Literatur dieses Werk der reinsten Phantasie verloren gegangen ist; ich kann dem nur in einem sehr abstrakten, poetologischen Sinne zustimmen, wirklich teilen kann ich dieses Bedauern nicht.

Es ist sicherlich überflüssig, sich über Novalis’ phantastisches und im Detail anachronistisches Mittelalter lustig zu machen, in dem Wanduhren ticken und was der Späße mehr sind. Auch Tieck weist in seinem Nachbericht schon darauf hin, dass es dem Autor nicht um ein auch nur wahrscheinliches Abbild des Lebens des historisch ohnehin nicht greifbaren Heinrich von Ofterdingen gegangen ist. Das von Novalis vorgeführte Mittelalter des 13. Jahrhunderts ist schnell als ein ideal überhöhtes 18. Jahrhundert zu durchschauen, das nur dazu dient, in seiner Schlichtheit die Folie für Novalis’ idealen Dichter zu liefern. Ärgerlicher sind aber vollständig von jeglicher menschlichen Wirklichkeit abgehobene Stellen wie etwa diese:

„Der Krieg überhaupt“, sagte Heinrich, „scheint mir eine poetische Wirkung. Die Leute glauben sich für irgendeinen armseligen Besitz schlagen zu müssen, und merken nicht, daß sie der romantische Geist aufregt, um die unnützen Schlechtigkeiten durch sich selbst zu vernichten. Sie führen die Waffen für die Sache der Poesie, und beide Heere folgen einer unsichtbaren Fahne.“
„Im Kriege“, versetzte Klingsohr, „regt sich das Urgewässer. Neue Weltteile sollen entstehen, neue Geschlechter sollen aus der großen Auflösung anschießen. Der wahre Krieg ist der Religionskrieg; der geht geradezu auf Untergang, und der Wahnsinn der Menschen erscheint in seiner völligen Gestalt. Viele Kriege, besonders die vom Nationalhaß entspringen, gehören in die Klasse mit, und sie sind echte Dichtungen. Hier sind die wahren Helden zu Hause, die das edelste Gegenbild der Dichter, nichts anders, als unwillkürlich von Poesie durchdrungene Weltkräfte sind. Ein Dichter, der zugleich Held wäre, ist schon ein göttlicher Gesandter, aber seiner Darstellung ist unsere Poesie nicht gewachsen.“

Wollen wir hoffen, dass wir in diesem Urgewässer nie werden baden müssen!

Novalis: Heinrich von Ofterdingen. In: Werke und Briefe. Hg. von Rudolf Bach. Leipzig: Insel, 1942. S. 113–292. Flexibler Leinenband, Fadenheftung, Dünndruckpapier. (Bücher dieser Art werden heute nicht mehr hergestellt.)

Selbstverständlich ist der Text in diversen Ausgaben lieferbar und auch online verfügbar.

Heinrich Heine: Die romantische Schule

Die Literaturgeschichte ist die große Morgue, wo jeder seine Toten aufsucht, die er liebt oder womit er verwandt ist.

Nachdem sich Heinrich Heine 1831 dem immer drohenden staatlichen Zugriff auf seine Person durch eine Auswanderung nach Frankreich, genauer nach Paris entzogen hatte, sah er sich vor die Aufgabe gestellt, seinen Lebensunterhalt wenigstens teilweise durch seine Schriftstellerei zu finanzieren. Er verfiel auf den naheliegenden Gedanken, seine Kenntnisse der deutschen Kultur den Franzosen und sein wachsendes Wissen über die französische Kultur den Deutschen nahe zu bringen. Er verfasste daher eine ganze Reihe von Essays für französische und deutsche Zeitungen, die später als Zweitverwertung auch in Buchform erschienen, so auch „Die romantische Schule“ aus dem Jahr 1836.

Heine versteht seinen Text als Ergänzung und Korrektur des Bildes von der neuesten deutschen Literatur, das Franzosen aus Germaine de Staëls „Über Deutschland“ (1813), der allein schon aufgrund des napoleonischen Verbotes einflussreichsten französischen Darstellung der deutschen Gesellschaft und Kultur, beziehen konnten. Abgesehen von der publizistischen Wirksamkeit eines Widerspruchs gegen diese Autorität, genügt schon Heines eher kritische Haltung den Brüdern Schlegel gegenüber, um eine ausreichende polemische Distanz zu Staëls Urteilen zu erzeugen.

Heine thematisiert nicht nur die Romantische Schule – darunter versteht er im Wesentlichen das, was Germanisten heute zumeist als Jenaer Romantik bezeichnen –, sondern liefert eine breitere deutsche Literaturgeschichte, deren zweiter und dritter Teil sich auf die Autoren der Romantik konzentriert. Im ersten Teil finden sich Reflexionen über die bis dahin edierte mittelalterliche deutsche Literatur, die Anfänge der bürgerlichen Literatur im 18. Jahrhundert (besonders gelobt werden Lessing und Herder) und Goethe. Zusätzlich gibt es im dritten Teil ein maßvolles Lob Jean Pauls, den Heine mit Laurence Sterne vergleicht:

Wie Lorenz [!] Sterne hat auch Jean Paul in seinen Schriften seine Persönlichkeit preisgegeben, er hat sich ebenfalls in menschlicher Blöße gezeigt, aber doch mit einer gewissen unbeholfenen Scheu, besonders in geschlechtlicher Hinsicht. Lorenz Sterne zeigte sich dem Publikum ganz entkleidet, er ist ganz nackt; Jean Paul hingegen hat nur Löcher in der Hose.

Heinrich von Kleist oder Friedrich Hölderlin kommen als Außenseiter der großen Literaturströmungen in Deutschland beide nicht vor.

Im großen und Ganzen folgt Heine eher der Tendenz, mehr über die Autoren im allgemeinen als über bestimmte Werke zu reden. Zwar erwähnt er immer wieder einzelne Titel, insbesondere vermerkt er für die französischen Leser, welche davon ins Französische übersetzt wurden, aber die Darstellung liefert meist nicht mehr als eine grobe Übersicht der Fabel und vielleicht einige Glanzpunkte, wie sie einem auch nach länger zurückliegender Lektüre noch gewärtig sind. Hauptsächlich aber schreibt Heine mehr oder weniger spitze, aber immer zugespitzte Portraits der behandelten Autoren und eine in beinahe allen Fällen auch heute noch als ziemlich präzise anzusehende literargeschichtliche Einordnung. Heines salopp erscheinende, aber immer exakte Sprache, seine Kunst des Ab- und Ausweichens – so erzählt er etwa über Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“, den er möglicherweise nicht einmal gelesen hat, eine halb sentimentale, halb ironische Liebesgeschichte um ein junges, engelsgleiches Mädchen, in dessen Händen er das Buch immer gesehen habe – bereiten den eigentlich trockenen, akademischen Stoff einer Literaturgeschichte zu einer vergnüglichen Lektüre für den französischen Zeitungsleser auf.

Was mir bei dieser erneuten Lektüre allerdings zum ersten Mal so deutlich aufgefallen ist, ist Heines rabiate Opposition gegen den deutschen Katholizismus (den seines Gastlandes beurteilt er aus verständlichen Gründen weit milder), die sich natürlich aus Heines Konfrontation mit katholischen Kreisen in München erklärt, die gegen die Professur eines protestantisch getauften Juden erfolgreich intrigiert hatten. Heine lässt zwar erkennen, dass er die Motive wohl nachvollziehen kann, aus denen heraus sich die Romantiker der anscheinend dem Mittelalter noch näher stehenden Glaubenswelt des Katholizismus anschlossen, doch lässt er am deutschen Katholizismus selbst kein gutes Haar. Es mag nicht zuviel gesagt sein, dass am Ende die Neigung zum Katholizismus den Haupteinwand Heines gegen die „romantische Schule“ bildet, ja, eventuell sogar das Hauptmotiv dafür liefert, warum Heine sich selbst nur sehr eingeschränkt als Erbe dieser Literaturtradition begreifen möchte.

Wie ich selbst beim Wiederlesen feststellen durfte, taugt Heines „romantische Schule“ nur bedingt für den diejenigen, die sich zum ersten Mal dieser – frei nach Elias Canetti – „Hölle der deutschen Literatur“ nähern und ein solides Bild gewinnen wollen (was insofern keine kleine Kritik darstellt, als der Essay primär für ebensolche Leser geschrieben wurde), aber für alle, die sich selbst dort schon umgetan haben, ist es ein großes Vergnügen, Heine als Führer zu folgen.

Heinrich Heine: Die romantische Schule. In: Sämtliche Schriften, Bd. 3. Hg. v. Klaus Briegleb. u. Karl Pörnbacher. München: Hanser, 31996. S. 357–504. Leinen, Fadenheftung, zwei Lesebändchen. 54,– €.

Selbstverständlich auch in diversen anderen Ausgaben lieferbar.

Jaroslav Hašek: Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg

Das menschliche Leben ist, melde gehorsamst, Herr Oberleutnatnt, so kompliziert, dass das Leben des einzelnen Menschen dagegen ein Witz ist.

Hasek-SvejkEinhundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs und neunzig Jahre nach der bis dahin ersten und einzigen Übersetzung von Hašeks weltberühmten Roman legt Reclam eine lange überfällige Neu­über­set­zung des „Švejk“ vor. Die frühe Übersetzung durch Grete Reiner, die bis dato die deutsche Rezeption des Romans geprägt hat, war bereits von Kurt Tucholsky unter den Verdacht gestellt worden, das Original zu verfälschen.

Die neue Übersetzung durch Antonín Brousek räumt den deutschen Text jedenfalls umfassend auf: Das Böhmakeln Švejks wird komplett beseitigt (mit dem berechtigten Hinweis, dass sich im Original nichts findet, was diesem Dialekt entsprechend würde), Austriazismen und veraltete Wendungen werden ersetzt, die deutsche Umschrift tsche­chi­scher Eigennamen rückgängig gemacht, einige antideutsche Passagen wieder hergestellt und der Text insgesamt für den heutigen Leser zugänglicher gemacht. Eine tatsächliche Beurteilung der Übersetzung muss ich aber jenen überlassen, die sie mit dem Original vergleichen können.

Unabhängig von der Frage nach der Übersetzung wurde mir die er­neu­te Lektüre des „Švejk“ aber an einigen Stellen lang. Es wird doch sehr deutlich, dass Hašek eigentliches Talent bei den kurzen literarischen Formen lag, und er einen Roman im Wesentlichen dadurch erzeugte, dass er anekdotische Stücke schlicht aneinanderklebte. Zwar gibt es den großen Plan, das Buch mit der Ermordung des Erzherzogs Franz-Ferdinand beginnen und „nach dem Krieg um sechs Uhr abends“ enden zu lassen, aber bis auf diesen großen Rahmen (der tausende von Seiten hätte füllen müssen, hätte Hašek ihn jemals ausführen können) sind nur Rudimente einer erzählerischen Struktur erkennbar. Mehr als verzeihlich ist dies nur wegen des die formlose Geschwätzigkeit des Textes widerspiegelnden Protagonisten, der dem Leser in einer nicht anders als genial zu nennenden Weise zugleich auf die Nerven geht und ihn in seinen Bann schlägt. Švejk ist eine einzige, sich per­pe­tu­ie­ren­de Variation des Unfug sprechenden Menschen. Der spezifische Unfug Švejks ist eine unendliche Folge von Anekdoten, die alle mit dem Ereignis, das sie auslöst, nichts, aber auch rein gar nichts zu tun haben. Ich habe mich am Ende gewundert, dass ich es tat­säch­lich geschafft habe, die knapp 900 Seiten des Romans zu lesen, ja, dass es gegen Ende sogar wieder mit zunehmendem Vergnügen war.

Abgesehen von diesem beherrschenden Mangel an Struktur enthält der Roman eine scharfe Kritik sowohl der k.u.k. Monarchie als auch ihres Militärs und des Krieges. Der überall vorherrschende Grundtypus ist der des Idioten, wobei das Bild durch einige wenige halbwegs der Vernunft gehorchende Figuren abgemildert wird: der Oberleutnant Lukaš, der Einjährigfreiwillige Marek, vielleicht gerade noch der Hauptmann Ságner – alle anderen Figuren scheinen mehr oder weniger vom wilden Affen gebissen zu sein. Insofern sind „Die Abenteuer des guten Sol­da­­ten Švejk im Weltkrieg“ eines der großen pessimistischen und mis­­an­thro­pi­schen Bücher des 20. Jahrhunderts.

Ergänzt wird der Text in der Reclam-Ausgabe um ein sehr informatives Nachwort des Übersetzers und einen lesenswerten Essay von Jaroslav Rudiš. Ich kann daher nur jedem die Anschaffung und Lektüre dieses Buches empfehlen: Es ist hier ein bedeutender literarischer Klassiker des letzten Jahrhunderts zu entdecken und wieder zu entdecken.

Jaroslav Hašek: Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg. Aus dem Tschechichen übersetzt von Antonín Brousek. Stuttgart: Reclam, 2014. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1008 Seiten. 29,95 €.

Lew Tolstoi: Anna Karenina

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Zum ersten Mal habe ich „Anna Karenina“ noch zu Schulzeiten gelesen, so habe ich damals wenigstens geglaubt. Es handelte sich um eine Ausgabe des Lingen-Verlages, der damals schon preiswerte Lizenzausgaben für Zeitungsverlage herstellte. Unter anderem gab es auch eine ganze Reihe von Klassikern der Weltliteratur, alle in sehr hässliches grünes Kunstleder eingebunden und auf sehr handfestem Papier gedruckt. Die Ausgabe der „Anna Karenina“ hatte in dieser Reihe knapp 430 Seiten. Als ich das Buch dann zum zweiten Mal während des Studiums las – ich versuchte, mir einen Überblick über die wichtigen Ehe-Romane des 19. Jahrhunderts zu verschaffen – war es der Text der Winkler-Ausgabe, übersetzt von Fred Ottow, im Einband der dtv-Weltliteratur. Hierbei handelte es sich angeblich um eine vollständige Ausgabe und sie hatte immerhin gut 970 Seiten, also deutlich mehr als das Doppelte an Text. Damals ist mir die Lektüre ungewöhnlich schwer gefallen, denn in Ottows Übersetzungen erschienen mir alle Hauptfiguren wie Karikaturen wirklicher Menschen und so die gesamte Konstruktion des Romans wenig überzeugend. Ob das an meiner damaligen Verfasstheit oder tatsächlich an der Übersetzung lag, habe ich nicht noch einmal geprüft. Bei der jetzigen, dritten Lektüre habe ich die Neuübersetzung durch Rosemarie Tietze gelesen, in der es der Roman auf stattliche 1227 Seiten bringt. Dieser Ausgabe glaube ich nun auch, dass sie tatsächlich vollständig ist.

Allerdings muss ich gleich eingestehen, dass ich mich mit dieser dritten Lektüre recht schwer getan habe und sie, läge ihr nicht eine didaktische Verpflichtung zugrunde, wahrscheinlich nicht abgeschlossen hätte. Es lag nicht allein an der Länge des Buches, aber auch. Denn es erscheint mehr als verständlich, dass gerade „Anna Karenina“ ein massives Opfer der Textbearbeitung bzw. -kürzung geworden ist: Tolstoi verschränkt in diesem Buch zwei Romane miteinander, von denen nur einer zu Recht den Titel „Anna Karenina“ trägt. Die Fabel um Konstantin Lewin, die den anderen Roman ausmacht, kann für sich allein kaum einen berechtigten Anspruch auf Interesse machen und ist zudem so mit Reflexionen über Religion, Ökonomie und Philosophie überladen – immer durch den nicht wirklich umfassenden Horizont Tolstois beschränkt –, dass die meisten Leser sicherlich dankbar sind, nur den Roman um die Titelfigur vorgelegt zu bekommen und von all dem anderen weitgehend verschont zu bleiben. Andererseits muss man natürlich respektieren, dass Tolstoi die tragische Skandalgeschichte um Anna als Vehikel benutzt hat, um eine ihm wichtige Position zum Prozess der Säkularisierung der europäischen Kultur zu thematisieren. Dass gerade dieser Anteil für den überwiegenden Teil seiner heutigen Leser eher obsolet geworden ist, hat er zwar ahnen, aber nicht wirklich berücksichtigen können.

Es werden also eigentlich zwei Geschichten erzählt: Die bekanntere und vielfach verfilmte ist die der Ehebrecherin Anna Karenina. Anna verliebt sich wider Willen in den jungen, noch etwas unreifen Offizier Wronski, der eigentlich ihrer Nichte Kitty den Hof macht. Auch Wronski, der zu Anfang glaubt, sich auf ein gewöhnliches Abenteuer einzulassen, wird bald von seinen Gefühlen überwältigt. Die Affäre gerät zum Skandal, als Anna schwanger wird und in einem Moment emotionaler Aufgeregtheit ihrem Mann bestätigt, was dieser längst vermutet. Was folgt, ist das lange Leiden und schließlich der Zusammenbruch Annas: Sie stirbt beinahe bei der Geburt ihrer Tochter mit Wronski, erholt sich aber wieder, geht mit Wronski nach Italien, kehrt nach Russland zurück, versucht von ihrem Mann die Scheidung zu erreichen, leidet immer mehr daran, dass sie Wronski nicht durch eine Heirat an sich binden kann und tötet sich schließlich in einem sich wahnhaft zuspitzenden Anfall von Eifersucht und Verzweiflung, indem sie sich unter einen Zug wirft.

Die Geschichte Konstantin Lewins dagegen hängt mit der Annas nur darüber zusammen, dass Lewin wie Wronski einer der Bewerber um Kittys Gunst ist. Sein Antrag wird von Kitty abgewiesen, die zu dem Zeitpunkt noch glaubt, sie werde Wronski heiraten. Als diese Hoffnung in der Affäre Wronskis mit Anna untergeht, erkrankt Kitty ernsthaft und wird von ihrer Familie zur Erholung nach Westeuropa gebracht. Es dauert sehr lange, bis sich Kitty und Lewin wiedersehen; in dieser Zeit lässt der Autor seinen Zweithelden auf seinem Gut ökonomischen Theorien nachhängen und diese mit anderen Gutsbesitzern diskutieren. Als sich die beiden vom Autor für einander Bestimmten endlich erneut treffen, einigt man sich rasch. Anschließend muss die Hochzeit vorbereitet und abgehalten werden, und dann müssen die Eheleute ein Eheleben für sich finden. Zwischzeitlich stirbt ein Bruder Lewins, was ihn auf die Frage nach dem Leben nach dem Tode stößt. Schließlich durchläuft Lewin eine intensive Phase von Selbstzweifel und Sinnsuche, die sich am Ende des Romans in eine Epiphanie christlicher Einsicht auflöst. Es kann wenig Zweifel daran bestehen, dass Tolstoi gerade dieser letzte Teil, der seine eigene Rückwendung zum Christentum thematisiert, der wichtigste Teil des Romanes war. Es kann ebensowenig Zweifel daran bestehen, dass er schon 1878 obsolet und wenig überzeugend war und bis heute nicht an Kraft gewinnen konnte. Natürlich ist die Säkularisierung der europäischen Kultur eines der gewichtigsten Themen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber Tolstois Lösung ist letztlich resigantiv und rückwärtsgewandt. Es nimmt wenig Wunder, dass Tolstoi mit dieser Position einer der säkularen Heiligen des späten 19. Jahrhunderts geworden ist.

Die neue Übersetzung von Rosemarie Tietze ist gut zu lesen und bietet einem Leser wie mir, der das Original nicht zum Vergleich heranziehen kann, kaum Widerstände. Der Gesamteindruck hat sich – sieht man von der oben bereits gemachten Einschränkung ab – um Welten von dem der Übersetzung Ottows unterschieden; nur ist der Roman eben unmäßig lang geraten. Was kein Plädoyer für die gekürzten Ausgaben darstellt; wer Tolstoi lesen will, muss schlicht in den sauren Apfel der ausschweifenden Philosopheme beißen, sonst soll er sich eben eine der zahlreichen Verfilmungen des Stoffs ansehen oder etwas anderes lesen.

Lew Tolstoi: Anna Karenina. Übersetzt von Rosemarie Tietze. München: Hanser, 2009. Leinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 1285 Seiten. 39,90 €. Auch als Taschenbuch (dtv 13995) lieferbar.

Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa

„Ach Sch…“ Er sprach, sich bückend, das Wort nicht zu Ende; der Kamerad verstand ihn ohnehin. Es war das populärste Wort des ganzen Krieges.

Zweig-GrischaMit diesem 1927 erschienenen (auf 1928 vordatierten) Roman legte Arnold Zweig den Grundstein seines Zyklus „Der große Krieg der weißen Männer“, der damals erst nur eine „Trilogie des Übergangs“ werden sollte. „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ sollte vermeintlich das Mittelstück werden und an einem Einzelschicksal jene Wandlung sichtbar werden lassen, die Zweig durch den Ersten Weltkrieg in Deutschland hervorgerufen sah. Ob er die von ihm erzählte Geschichte, der angeblich eine wahre Begebenheit zugrunde liegen sollte, nicht überfrachtet, bleibt zu erörtern.

Erzählt wird das Schicksal des russischen Kriegsgefangenen Grischa Iljitsch Paprotkin, der um den Frühlingsanfang des Jahres 1917 herum in einem Güterzug versteckt aus einem in Polen befindlichen deutschen Gefangenenlager nach Osten flieht. Als er den Zug verlässt, findet er sich in Litauen wieder, wo er nach einigen Tagen, die er sich in den Wäldern durchschlägt, von einer kleinen Gruppe von Widerständlern gegen die deutschen Besatzer aufgelesen und beherbergt wird. Rasch entspinnt sich ein Liebesverhältnis zwischen Grischa und Babka, der Anführerin der Gruppe, was Grischa aber nicht von seinem Plan abbringt, nach Russland zu Frau und Kind zurückzukehren. Als er nach einigen Wochen seine Flucht fortsetzt, rät ihm Babka, sich im Falle der Gefangennahme als der Versprengte Ilja Bjuschew auszugeben, der in der Obhut der Gruppe verstorben war. Grischa fürchtet sonst, in dem Fall einer erneuten Gefangenschaft als Geflohener zu einer längeren Haft verurteilt zu werden und  so seine Chance einzubüßen, bei Kriegende mit den anderen Kriegsgefangenen ausgetauscht zu werden.

Leider erweist sich gerade diese Finte als tragischer Fehler: Als Grischa nämlich von den Deutschen in der Nähe des kleinen Ortes Merwinsk aufgegriffen wird, beharrt er auf seiner Geschichte, der Versprengte Bjuschew zu sein, der bereits wochenlang versuche, in die russischen Linien zurückzukehren. Zum Verhängnis wird Grischa eine neue Weisung der militärischen Führung, die zum Zweck der Aufrechterhaltung der Disziplin angeordnet hat, alle sich nicht sogleich in deutsche Gefangenschaft begebenden russischen Versprengten und Deserteure als Spione zum Tode zu verurteilen. Als Grischa das Todesurteil des Bjuschew verlesen wird, besinnt er sich seiner wahren Identität und erzählt die Geschichte seiner Flucht.

Es scheint nun vorerst einmal alles seinen rechtmäßigen Gang zu gehen: Der Schreiber Bertin, inzwischen Gehilfe des Kriegsgerichtsrats Posnanski, macht das Lager ausfindig, aus dem Grischa geflohen ist. Das Lager entsendet zwei Soldaten, um Grischa zu identifizieren, was denn auch unter großem Hallo des gegenseitigen Wiedererkennens geschieht, und anschließend gibt die Division in Merwinsk die Akten an das Hauptquartier des  Oberbefehlshabers Ost, Generalmajor Schieffenzahn, damit dort festgestellt werde, welches Militärgericht für den Gefangenen Paprotkin denn nun zuständig sei. Leider erfährt dort der Generalmajor zufällig selbst von der Sache und beschließt, sie als einen politischen Fall zu behandeln. Er lässt also seinen Juristen die Akten nach Merwinsk zurückgeben mit dem Vermerk, dass das Todesurteil des Bjuschew an Grischa zu vollstrecken und ihm der Vollzug zu melden sei.

Mit diesem Befehl des Oberbefehlshabers kommt die Kommandantur in Merwinsk mit ins Spiel, die nun für die Exekution Grischas zuständig geworden ist. Dem der Kommandantur vorstehende Rittmeister von Brettschneider sind sowohl der rechtliche Standpunkt des Kriegsgerichtsrates als auch die Identität des Gefangenen Paprotkin gänzlich gleichgültig. Er wittert nur eine Gelegenheit dem Divisionschef von Lychow eine Niederlage beibringen und sich gleichzeitig beim Generalmajor lieb Kind machen zu können. Dagegen versuchen General von Lychow, sein Adjutant und Neffe Oberleutnant Winfried, Kriegsgerichtsrat Posnanski und Schreiber Bertin – zudem unterstützt von zwei Krankenschwestern, die als Liebesobjekte in Kriegsgeschichten offenbar unumgänglich sind – die Ausführung des Hinrichtungsbefehls zu verzögern, bis der General Gelegenheit hat, mit dem Generalmajor persönlich den eigentlich nichtigen Fall zu erörtern.

Doch kurz bevor es zu diesem persönlichen Treffen kommt, ordnet Schieffenzahn die Vollstreckung des Todesurteils nochmals an mit dem Zusatz, dass er binnen 24 Stunden den Vollzug gemeldet haben möchte. Das Gespräch zwischen Schieffenzahn und von Lychow endet zwar kläglich für den Letzteren, aber in einem Anflug von Mitleid mit dem alten Preußen ist Schieffenzahn anschließend für einen Moment geneigt nachzugeben. Doch leider bricht gerade in diesem Augenblick durch einen geschickt erfundenen Schneesturm die Telefonverbindung nach Merwinsk zusammen.

In Merwinsk werden noch verzweifelte Pläne geschmiedet, Grischa zu retten: Sowohl die inzwischen nach Merwinsk gekommene Babka, die von Grischa schwanger ist, als auch die Gruppe um Oberleutnant Winfried versuchen Grischa vor dem Tode zu bewahren, doch scheitern schließlich beide am Widerstand Grischas. Ihm ist es genug, er will nicht durch eine weitere Episode von Hoffnung, Gefangenschaft oder Flucht und Verstecken, sondern will nur noch seine Ruhe haben, die er am ehesten im Grab zu finden hofft. Die minutiöse und eindringliche Beschreibung des letzten Tages Grischas mit Ausheben des eigenen Grabs, Rasieren, Henkersmahlzeit, Aufsetzen des Testaments, Marsch zur Hinrichtungsstätte und Exekution gehört mit Sicherheit zum Bewegendsten und Beeindruckendsten im Werk Arnold Zweigs. Allein für diese Passage lohnt sich die Lektüre des Romans. Darüber hinaus glänzt dieses Auftaktstück des Zyklus mit der im Vergleich sachlichsten und angemessensten Sprache und überzeugt insgesamt auch durch seine durchweg ökonomische erzählerische Konstruktion.

Fraglich aber scheint mir, wie oben schon angedeutet, ob Zweigs Intention, an diesem Einzelfall exemplarisch den Wertewandel zwischen der deutschen Vor- und Nachkriegsgesellschaft festmachen zu wollen, zu überzeugen vermag. Zweig reduziert damit die hochkomplexe Wandlung der europäischen Gesellschaft in den ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts auf die Frage nach der Gerechtigkeit bzw. dem Verhältnis von Recht und Unrecht im Staate. Zwar scheint eine Passage wie diese nahezu prophetisch:

»Tja«, räusperte sich Posnanski endlich, »wie sagten Sie, Deutschland? Was will das heißen, mein Lieber? Wer hochsteigt und ein gemischtes Wesen ist, trampelt auf seiner Seele herum und sinkt also innerlich. Deutschland an Macht geht auf wie ein Napfkuchen, Deutschland als Sittlichkeit schrumpft ein zur Fadendünne. Wen wundert das? So geht es den Staaten. Und es macht auch nicht viel Erst wenn der Faden risse, wenn Rechtlosigkeit als Zustand allgemeine Billigung und ein Siegerbehagen fände, sähe es etwas schlimmer aus.

Doch hieße es, dies Zitat überzustrapazieren, wollte man Zweig hier bereits das Verbrecherregime der Nationalsozialisten vorausahnen lassen. Vielmehr setzt Posnanski optimistisch fort:

Aber da werden immer Leute sein, die ihre Hand zwischenlegen. So kleine Klicken wie wir hier; und wenn sie sich Mühe geben, können sie den ganzen dicken Kloß soweit als lebensnötig wieder durchsäuern. Und wenn nicht — Deutschland ist nicht unentbehrlich, und wenn es jetzt eine Zeitlang abträte, hätte es sich mit diesem Johann Sebastian [Bach] allein schon ein ehrendes Gedenken gesichert.

Zweig selbst lässt denn auch wiederholt keinen Zweifel daran, dass sich die Geschichte des Sergeanten Grischa vollständig ausreichend daraus erklärt, dass im Krieg die Rechte des Individuums und noch dazu eines feindlichen Individuums nur ein bedingt schützenswertes Gut sind. Wo Tod und Zufall die lebensbeherrschenden Prinzipien werden, wird Gerechtigkeit noch mehr zum Glücksfall als ohnehin. Man könnte also den Verdacht hegen, dass „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ entgegen der Absicht des Autors nur eine Illustration mehr der altrömischen Einsicht „silent enim leges inter arma“ darstellt. Als solche ist sie allerdings durch und durch gelungen.

Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa. Berlin: Aufbau-Verlag, 2006. Kindle-Edition. 481 Seiten (gedruckte Ausgabe). 7,99 €.

P.S.: Da ich in der Zeit der Lektüre viel unterwegs war, habe ich aus Gründen der Bequemlichkeit diesmal auf die Kindle-Edition des Romans im Aufbau-Verlag zurückgegriffen. Ich habe mir aber nicht die Mühe gemacht, diese Ausgabe, die auf den Text der Erstausgabe zurückgreift, systematisch mit meiner DDR-Ausgabe aus dem Jahr 1980 zu vergleichen und kann daher auch keine Auskunft geben, inwieweit die ältere Ausgabe zensiert bzw. verändert wurde. Wo ich zufällig einmal Anlass hatte, die beiden Texte miteinander zu vergleichen, habe ich keine Abweichung entdecken können.

Patricia Highsmith: Der talentierte Mr. Ripley

Irgend etwas fand sich immer. Das war Toms Credo.

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Wie die regelmäßigen Leser meiner Nachtwachen sicherlich schon bemerkt haben, werden hier ausgesprochen selten Kriminalromane besprochen: Friedrich Dürrenmatt etwa ist eine Ausnahme, auch Arthur Conan Doyle wird seit langer Zeit in der Randspalte mitgeschleppt, aber sonst sind Mörderromane eher spärlich vertreten. Natürlich bleibt man in einem langen Leseleben nicht gänzlich unbeleckt: Chestertons Pfarrer Brown kenne ich ebenso vollständig wie Glausers Wachtmeister Studer, aber eine systematische oder auch nur ein wenig umfassendere Kenntnis des Genres fehlt mir. Das liegt wohl in der Hauptsache daran, dass es mir wie Marcel Reich-Ranicki ergeht – den ich sonst nicht gerne als Eideshelfer anführe:

Ich mag nämlich Kriminalromane nicht, es gibt einen Fehler bei mir, es liegt nur an mir, ich will gar nicht wissen, wer ermordet hat. Wer der Mörder ist, es ist kein Problem für mich.

Doch bin ich kürzlich zufällig erneut über Matt Damons Talentierten Mr. Ripley gestolpert, der mich neugierig darauf gemacht hat, die Serie der Ripley-Romane noch einmal zu lesen. Ich konnte dann auch noch erfreut feststellen, dass Diogenes die fünf Bücher inzwischen von guten Übersetzern hat neu übersetzen lassen, so dass es heute losgeht mit einer kleinen Ripley-Lesereihe:

„Der talentierte Mr. Ripley“ eröffnete 1955 die Serie. Die Handlung setzt ein in einem nicht genauer bestimmten Jahr der 1950er in New York: Der junge Tom Ripley, der sich zuvor mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen hatte, hat gerade eine Karriere als Gesetzesbrecher begonnen: Bei seinem letzten Job für die Steuerbehörde hat er sich eine Liste von Namen verschafft und versucht nun mit mäßigem Erfolg, fiktive Steuernachzahlungen einzutreiben. Doch bekommt er eine Chance, sich zu verbessern: Der Reeder Herbert Greenleaf will ihn nach Europa schicken, damit er seinen in Italien befindlichen Sohn Richard (Dickie), mit dem Tom eher flüchtig bekannt ist, überredet, nach Amerika zurückzukehren. Dickie, der sich aus einem eigenen, kleinen Vermögen finanziert, lebt als Maler ein sorgenfreies Leben in einem kleinen süditalienischen Küstenort namens Mongibello. Er ist dort mit der US-amerikanischen Schriftstellerin Marge Sherwood befreundet, die sich von dieser Beziehung wohl vergeblich eine Ehe erhofft. Als Tom bei ihm eintrifft wird schnell klar, dass Dickie keinerlei Neigung hat, sein bequemes Leben in Italien aufzugeben.

Tom gelingt es vergleichsweise rasch, sich mit Dickie zu befreunden und ihn von Marge mehr und mehr zu isolieren. Je mehr Zeit die beiden Männer miteinander verbringen, desto mehr identifiziert sich Tom mit Dickie und versucht ihn zu imitieren. Schließlich überredet er ihn zu einer Reise zu zweit nach Norditalien, wo er auf Dickies immer größer werdende Distanziertheit mit einem Mordplan reagiert, den er in Sanremo während einer Bootsfahrt dann umsetzt: Er erschlägt Dickie mit einem Ruder, versenkt seine Leiche mit dem Anker des Bootes und anschließend in Ufernähe auch das Boot. Nachdem er Dickie beseitigt hat, schlüpft er in dessen Rolle und lebt eine Zeitlang ungestört als Dickie Greenleaf in Rom.

Zur Krise des Romans kommt es, als mit Fredie Miles ein Freund Dickies auftaucht, der Toms Hochstapelei zu enttarnen droht. Tom weiß sich in seiner Überrumpelung nicht anders zu helfen, als Fredie umgehend zu erschlagen. Natürlich wird die Leiche schnell entdeckt, und Tom gerät in seiner Rolle als Dickie einerseits mehr und mehr in den Verdacht, in den Mord wenigstens verwickelt zu sein und droht andererseits durch eine Begegnung mit der um Dickie besorgten Marge aufzufliegen. Er setzt sich daher zuerst nach Palermo ab, gibt dann aber Dickies Identität auf und reist als Tom Ripley nach Venedig. Als dann auch noch Dickies Vater und ein von diesem engagierter Privatdetektiv in Venedig auftauchen, ist Tom einem Nervenzusammenbruch nahe. Es sollen die letzten Wendungen der Geschichte hier nicht ausgeplaudert werden, aber man kann sich aufgrund der nachfolgenden Bände schon denken, dass es nicht ganz und gar vernichtend für Tom Ripley endet.

Tom Ripley ist ein paradimatisch negativer Protogonist: Er ist narzistisch – und bestreitet übrigens wahrscheinlich zu Recht, homosexuell zu sein, da er nur sich selbst wirklich zu lieben in der Lage ist –, unsympathisch, rücksichtslos und ihm fehlt jegliche Moral. Er kennt kein Mitleid, weder für seine Opfer noch für sonst jemanden außer sich selbst. Ihm fehlt es an Persönlichkeit und Kultiviertheit, weshalb ihn Dickies ungekünstelte Selbstsicherheit fasziniert und er dessen Persönlichkeit zu imitieren versucht. Er ist überheblich bis zur Dummheit und hat mehr als einmal schlicht Glück, mit seinen Plänen und Intrigen durchzukommen. Trotz dieser ungewöhnlich umfangreichen Ansammlung negativer Eigenschaften, gelingt es einem als Leser nicht, sich von der Faszination für diese Figur vollständig freizumachen. Das liegt zum einen natürlich an der von Highsmith sehr wirkungsvoll eingesetzten personalen Erzählperspektive, die alle Ereignisse aus Ripleys Perspektive schildert und an seine Einschätzungen bindet. Zum anderen ist es natürlich die immer wach gehaltene Frage, ob es ihm tatsächlich gelingen wird, seine Verbrechen und Hochstapelei durchzusetzen. Und man muss Highsmith zugute halten, dass sie ihr Geschäft als Kriminalautorin versteht; nur an einer einzigen Stelle ist wenigstens mir ein Detail unklar geblieben, nämlich wo Ripley das Gepäck Dickies lässt, als er aus Sanremo flüchtet. Aber es mag sein, dass ich da etwas überlesen habe.

[Nachtrag 21.07.2014: Wie man dem Kommentar von Sven entnehmen kann, habe ich in der Tat etwas überlesen.]

Patricia Highsmith: Der talentierte Mr. Ripley. Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz. Lizenzausgabe: SZ-Bibliothek, Bd. 16. München: Süddeutsche Zeitung, 2004. Pappband, 333 Seiten. Lieferbar als Diogenes Taschenbuch, detebe 23404. Zürich: Diogenes, 72003. Broschur, 426 Seiten. 11,90 €.

Ludwig Hohl: Die Notizen

Faust hat er gelesen, Spinoza hat er gelesen. Auch Wallace hat er gelesen, und den hat er auch verstanden.

Hohl-NotizenLudwig Hohl (1904–1980) ist wahrscheinlich der unbekannteste unter den unbekannten, aber immerhin gedruckten Schweizer Schriftstellern. Unter seinen Werken gelten „Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung“ als sein Hauptwerk. Die Bücher Hohls sind immer nur sporadisch im Druck; seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kümmert sich Suhrkamp um den Autor. Die letzte Welle von Veröffentlichungen gab es vor etwa 10 Jahren; jetzt hat Suhrkamp fünf Titel in der Bibliothek Suhrkamp wieder aufgelegt.

„Die Notizen“ sind zwischen 1934 und 1936 in den Niederlanden niedergeschrieben worden. Sie sind thematisch organisiert und die einzelne Notiz umfasst in den meisten Fällen nur wenige Zeilen, einige wenige haben die Länge kurzer Essays. Nicht alle Themen erscheinen dem heutigen Leser gleich wichtig oder auch nur gleich gewichtet. Aber Abschnitte wie zum Beispiel „Der Leser“ (IV) oder „Literatur“ (IX) enthalten Aphorismen und Essays, die sich mit dem Besten der Literatur des 20. Jahrhunderts messen können.

Wer einen der großen Unbekannten der deutschsprachigen Literatur kennen und schätzen lernen möchte, der lege sich „Die Notizen“ für eine blätternde und zufällige Lektüre auf den Nachttisch.

Ludwig Hohl: Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung. bs 1483. Berlin: Suhrkamp, 2014. Pappband, Fadenheftung, Lesebändchen, 832 Seiten. 24,95 €.

Uwe Johnson: Jahrestage 4

Nun fing ich an, wegzugehen.

Johnson-Jahrestage-4Erst 1983, also zehn Jahre nach dem dritten Band, erschien der Abschluss der „Jahrestage“. Wahrscheinlich wäre der Roman aufgrund Lebenskrise Johnsons nicht zu Ende geschrieben worden, hätten den Autor nicht massive finanzielle Probleme zu dem Versuch gezwungen, an den Erfolg der früheren Bände anzuschließen. Das Erscheinen des Bandes wurde denn auch entsprechend aktiv vom Verlag beworben, so dass der Band als eine der wichtigsten Neuerscheinungen der Buchmesse 1983 wahrgenommen wurde.

Inhaltlich schließt auch dieser Band nahtlos an den Vorgänger an. Allerdings ist festzustellen, dass das Thema des Kriegs in Viet Nam (um Johnsons Schreibweise zu übernehmen) in den Hintergrund tritt. Ob dies einer bewussten poetologischen Entscheidung des Autors geschuldet ist oder schlicht der Tatsache, dass dieser Krieg nach 10 Jahren im Bewusstsein des Autors schlicht an Bedeutung verloren hat, kann auf die Schnelle nicht entschieden werden. Die Erzählung der Nachkriegszeit setzt den Schwerpunkt auf die Schulkarriere Gesines unter den politischen und ideologischen Bedingungen der frühen DDR – hier ist ein Glanzstück die Behandlung von Fontanes „Schach von Wuthenow“ im Deutschunterricht der „Elf A Zwei“ (2. August 1968 ff.) –, die alles andere als harmlos verläuft, sondern gleich mehrere politische Prozesse gegen Schüler umfasst. Heinrich Cresspahl, der im Mai 1948 als körperlich gebrochener, kranker Mann aus russischer Gefangenschaft zurückkehrt, bleibt im letzten Teil der Erzählung nur eine Nebenfigur. Die Chronologie des Lebens Gesines in der Nachkriegszeit wird gegen Ende des Buches in einem eher summarischen Verfahren bis an den Beginn der erzählerischen Jetztzeit herangeführt und so das Ende mit dem Anfang des Buches zu einem Zirkel geschlossen.

Die zwei Monate des Jahres 1968, die erzählt werden, sind hauptsächlich bestimmt vom Näherrücken des 21. August, an dem Gesine in Prag ihrer neue Stelle antreten soll. Die Entwicklung hin zur Zerschlagung des Prager Frühlings wird täglich der New York Times entnommen, wobei Gesine bis zum Ende optimistisch bleibt, dass das Prager Experiment eines humanen, demokratischen Sozialismus gelingen könnte.

Allerdings hat auch dieser Band seinen zentralen Todesfall: Gesines Geliebter D.E., den zu heiraten sie sich inzwischen entschlossen hatte, stirbt bei einem Absturz mit einer Cessna, die er selbst flog, in Finnland. Gesine verheimlicht diesen Todesfall ihrer Tochter, da sie befürchtet, Marie würde sich ansonsten weigern, mit nach Europa zu kommen. Sie selbst beherrscht ihre Trauer nach wenigen Tagen; von ihrer Bank wegen des Trauerfalls freigestellt, reist sie mit Marie in einer Art Abschiedstournee durch verschiedene Städte der USA.

Das Buch endet mit einem Treffen zwischen Gesine und Dr. Kliefoth, ihrem ehemaligen Lehrer und Schulrektor, am 20. August 1968 in Kopenhagen. Johnson lässt offen, ob Gesine tatsächlich am nächsten Tag in Prag in die Wirren des beginnenden Endes des Prager Frühlings gerät. Spekulieren darf der Leser aber, dass ihr die Wiederholung auch dieses Musters (man bedenke die Rückkehr ihres Vaters ins nationalsozialistischen Deutschland) nicht erspart bleiben wird.

Auch nach der zweiten Lektüre, die diesmal in wesentlich kürzerer Zeit abgeschlossen wurde als beim ersten Mal (von den Veränderungen des Lesers in 30 Jahren wollen wir schweigen), bleibt dies einer der ganz großen Zeitromane der deutschen Literatur. Johnsons Fähigkeit, nicht nur das Leben der Einzelnen, sondern zugleich seine Verflechtung mit und Bedingtheit durch die politische und gesellschaftliche Entwicklung zu erzählen, macht die „Jahrestage“ nicht nur zu einem bedeutenden Roman, sondern auch zu einem einmaligen Dokument deutscher Lebenswirklichkeit.

Uwe Johnson: Jahrestage 4. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. Juni 1968 – August 1968. Frankfurt: Suhrkamp, 1983. Leinen, Fadenheftung, 502 Seiten. Kindle-Edition. Berlin: Suhrkamp, 2013. 814 KB. 11,99 €.