Zum Tod von Hans Magnus Enzensberger

Weitere Gründe dafür, daß die Dichter lügen

Weil der Augenblick,
in dem das Wort glücklich
ausgesprochen wird,
niemals der glückliche Augenblick ist.
Weil der Verdurstende seinen Durst
nicht über die Lippen bringt.
Weil im Munde der Arbeiterklasse
das Wort Arbeiterklasse nicht vorkommt.
Weil, wer verzweifelt,
nicht Lust hat, zu sagen:
»Ich bin ein Verzweifelnder.«
Weil Orgasmus und Orgasmus
nicht miteinander vereinbar sind.
Weil der Sterbende, statt zu behaupten:
»Ich sterbe jetzt«,
nur ein mattes Geräusch vernehmen läßt,
das wir nicht verstehen.
Weil es die Lebenden sind,
die den Toten in den Ohren liegen
mit ihren Schreckensnachrichten.
Weil die Wörter zu spät kommen,
oder zu früh.
Weil es also ein anderer ist,
immer ein anderer,
der da redet,
und weil der,
von dem da die Rede ist,
schweigt.

Hans Magnus Enzensberger: Der Untergang der Titanic (S. 61)

Zum Tod von Frank Günther

Die Stücke wurden in Wirklichkeit von Königin Elisabeth geschrieben. Aber Elisabeth war nicht Elisabeth. Die richtige Elisabeth ist von ihrer Schwester, der Bloody Mary, ermordet und durch einen jungen Schauspieleleven ersetzt worden. Daraus ergibt sich alles andere schlagend: Der Schauspieler in seiner Lebensrolle als falsche Königin hat in seiner Einsamkeit und auch sexuellen Verzweiflung, weil er ja nicht mehr an die Weiber rankam, diese ganzen eskapistischen Stücke geschrieben, in denen transsexuell verkleidete Menschen aus den Zwängen des Hoflebens in idealische Ardenner Wälder fliehen. Bitte! Warum hat Elisabeth 300 Perücken hinterlassen? Warum hat sie die Schminke so dick aufgetragen? Warum diese Stilisierung zur jungfräulichen Ikone? Warum war Königin Shakesbeth immer so sauer, wenn eine der Hofdamen ein Techtelmechtel mit einem der Earls hatte? Warum kamen die sofort in den Tower? Und warum hat Elisabeth niemals geheiratet? Na, sie konnte nicht, weil sie ein Kerl war. Und warum wurden so viele dieser Stücke von Shakespeare am Hofe aufgeführt? Weil die Königin bei ihrer eigenen Premiere dabei sein wollte, sie konnte ja schlecht ins Puffviertel nach Southwark fahren. Shakespeare war Elisabeth, und Elisabeth eine Drag-Queen aus dem Londoner Schmierentheater. Und jetzt soll mir mal einer das Gegenteil beweisen.

Frank Günther

Zum Tod von William Goldman

»Erstes Kapitel. Die Braut.« Er hielt das Buch hoch. »Ich lese es dir vor. Zur Aufheiterung.« Er rieb mir das Buch fast unter die Nase. »Von S. Mor­gen­stern. Großer florinesischer Schrift­steller. Die Brautprinzessin. Er ist auch nach Amerika gekom­men. S. Mor­gen­stern. Ist jetzt gestorben, in New York. Das Englische ist von ihm. Er konnte acht Sprachen.« Hier legte er das Buch hin und streckte alle Finger aus. »Acht. Einmal, in Flo­rin, war ich in seinem Café.« Nun schüttelte er den Kopf; so machte er es immer, mein Vater, wenn er etwas falsch gesagt hatte, er schüttelte dann den Kopf. »Nicht in seinem Café. Er war drin, ich auch, zur gleichen Zeit. Ich sah ihn. S. Mor­gen­stern. So einen Kopf, so groß«, und er zeigte mit seinen Händen, was für ein dicker Ballon es war. »Großer Mann in Florin, nicht so sehr in Amerika.«
»Kommt auch Sport drin vor?«
»Fechten. Ringkämpfe. Folter. Gift. Wahre Liebe. Haß. Ra­che. Riesen. Jäger. Böse Menschen. Gute Menschen. Bildschöne Damen. Schlangen. Spinnen. Wilde Tiere jeder Art und in man­nigfaltigster Beschreibung. Schmerzen. Tod. Tapfere Männer. Feige Männer. Bärenstarke Männer. Ver­fol­gungs­jag­den. Ent­kommen. Lügen. Wahrheiten. Leidenschaften. Wunder.«
»Klingt gut«, sagte ich und machte ein bißchen die Augen zu. »Ich will sehen, daß ich wach bleibe … aber ich bin furchtbar schläfrig, Papa …«

William Goldman
Die Brautprinzessin

Zum Tod von Philip Roth

(Thus, with only a moment’s more insanity on his part—a moment of insane excitement—he throws everything into his bag—except the unread manuscript and the used Lonoff books—and gets out as fast as he can. How can he not [as he likes to say]? He disintegrates. She’s on her way and he leaves. Gone for good.)

Philip Roth
Exit Ghost

Zum Tod von Paul Wühr

3. Juni 1986, München

Diana Kempff ruft an. Ich hätte zu ihr einmal gesagt, nach meinem Tod soll sie anderen sagen: ich habe Gott geliebt. Ein anderer Ausbruch: Scheißkonjunktive, ScheißGötter. Aussprüche eines Richtigen? – Ich nütze nichts aus in diesem Leben. Das ist der Rest von Tugend. Sonst war ich immer bemüht, mich aus unguten, peinigenden oder auch belästigenden Empfindungen zu befreien. – Was ich Diana erzählte: Heute im Luitpoldpark ein Augenblick großer Ruhe, auch im Zusammenhang mit der Empfindung des Augenblicks (mehr kann ich darüber nicht sagen: vergessen). Meine Formulierung noch im Park: Das einzige aktuelle Erfassen dieser Welt ist mystisch. Man muß Mystiker werden. Ich werde es mir nicht erlauben. Diana sagte noch viel Gutes, Liebes zu mir.

Paul Wühr
Der faule Strick

Zum Tod von Marcel Reich-Ranicki

Ich finde dieses Buch unerträglich, das ist ein unerträgliches Buch! Es ist – ich spüre es, da ist was Poetisches, was Balladeskes, was Bemühtes. Es sind lauter Mythen, die da konstruiert, zitiert und erfunden werden, mit Frauen, aus denen Pferde werden, mit der großen Einsamkeit und dem einsamen Dorf im Norden. Es wird immer gesagt, 1.100 Kilometer nördlich von Stockholm. Mir ist das vollkommen fremd! Es lässt mich ganz kalt! Es langweilt mich! Ich spüre, das ist keine schlechte Literatur, aber es ist mir gänzlich fremd.

Zum Tod von Herbert Rosendorfer

Prinz Garibald zählte. Er zählte nicht Fliegen, Fenster, Autos oder was immer; er zählte abstrakt. Er hatte sich, als er achtzehn Jahre alt war, zur Lebensaufgabe gestellt, zu zählen. Das war 1922 gewesen. Er zählte manchmal laut, manchmal zählte er nur innerlich für sich; meist zählte er ganz leise und bewegte dabei ein wenig die Lippen. Aber immer zählte er gewissenhaft. In einem kleinen Notizbuch vermerkte er, mit welcher Zahl er aufgehört hatte. Am nächsten Tag (genauer gesagt: am nächsten Werktag) fing er mit der darauffolgenden Zahl weiterzuzählen an. Er habe keine anderen Interessen und Neigungen, sagte der Prinz. Zum militärischen oder geistlichen Stand fühle er keine Berufung. Wissenschaftliche oder künstlerische Betätigung langweile ihn. Die Jagd sei ihm zu unbequem. Das Zählen fülle ihn aus.

Herbert Rosendorfer
Deutsche Suite

Zum Tod von Ágota Kristóf

In Berlin haben wir am Abend eine Lesung. Leute werden kommen, um mich zu sehen, um mich zu hören, um mir Fragen zu stellen. Über meine Bücher, über mein Leben, über meinen schriftstellerischen Werdegang. Hier die Antwort auf die Frage: Man wird Schriftsteller, indem man geduldig und hartnäckig schreibt, ohne je den Glauben an das, was man schreibt, zu verlieren.

Ágota Kristóf
Die Analphabetin