Aus gegebenem Anlass (XV) – Allein die Welt!

WAGNER. Verzeiht, es ist ein groß Ergetzen,
Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen,
Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
Und wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht.
FAUST. O ja, bis an die Sterne weit!
Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit
Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln.
Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.
Da ist’s denn wahrlich oft ein Jammer!
Man läuft euch bei dem ersten Blick davon.
Ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer,
Und höchstens eine Haupt- und Staatsaktion
Mit trefflichen pragmatischen Maximen,
Wie sie den Puppen wohl im Munde ziemen.
WAGNER. Allein die Welt! Des Menschen Herz und Geist!
Möcht jeglicher doch was davon erkennen.
FAUST. Ja, was man so erkennen heißt!
Wer darf das Kind beim rechten Namen nennen?
Die wenigen, die was davon erkannt,
Die töricht g’nug ihr volles Herz nicht wahrten,
Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten,
Hat man von je gekreuzigt und verbrannt. –

Goethe
Faust

Allen Lesern ins Stammbuch (73)

Die blassen Organismen literarischer Helden nähren sich unter Aufsicht des Autors vom Herzblut des Lesers und schwellen nach und nach davon an; so daß die Genialität eines Schriftstellers darin bestünde, daß er sie mit der Fähigkeit ausstattet, sich an diese – nicht sehr appetitliche – Speise zu gewöhnen und dabei zu blühen und zu gedeihen, mitunter jahrhundertelang.

Vladimir Nabokov
Verzweiflung

Eine böse Entdeckung

Heute ist mir die „Kleine Weltgeschichte des demokratischen Zeitalters“ von Stefan Bajohr (Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2014) in die Hände gekommen. Ich schlug das Buch zufällig auf S. 221 auf und las:

Um den osmanischen Riegel zu umgehen und nach Japan und China zu gelangen, trotzte Cristóbal Colón (1451–1506) den spanischen Königen eine Expedition zur See in Richtung Westen ab. 71 Tage nach seinem Ablegen von Palos de la Frontera in Andalusien erreichte er mit einer kleinen Flotte eine für Europäer Neue Welt (12.10.1492), die ungeheure Chancen bot; doch »der erste Amerikaner, der Kolumbus begegnete, machte eine furchtbare Entdeckung«,2 denn die Europäer kamen nicht als Touristen, sondern als goldgierige, völkermordende Eroberer.

Das Zitat im Zitat stammt von Lichtenberg, aber es konnte nicht so ganz stimmen: Nicht nur ist der Prosarhythmus untypisch schlapp, sondern auch das Wort „begegnete“ kann nicht stimmen; da stand ganz sicher „entdeckte“ bei Lichtenberg. Und auch die semantisch blasse „furchtbare Entdeckung“ wollte nicht zu meiner Erinnerung an Lichtenbergs Stil passen.

Daher zuckte mein Blick nach unten auf die Seite, wo sich der folgende Nachweis in der Fußnote 2 fand: „Georg C. Lichtenberg: Aphorismen, Schriften, Briefe, hrsg. von Wolfgang Promies, München 1974, S. 144.“ Nun hat man ja bekanntlich immer die falsche Ausgabe im Haus, wenn man ’mal eine bestimmte benötigt, aber in diesem Fall wird es schon gehen, denn meine Ausgabe ist die Grundlage der oben zitierten, nämlich die von Wolfgang Promies ab 1967 bei Hanser herausgegebene Ausgabe der „Schriften und Briefe“ (4 Bände in 6), die auch heute noch die verbindliche Lichtenberg-Ausgabe darstellt. Hier findet sich in Band II auf S. 166 folgender Aphorismus:

Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung. [G 183]

Ja, so muss das heißen!

Die Webseite des Spinger-Verlages Heidelberg informiert uns: „Der Autor Prof. Dr. Stefan Bajohr lehrt Politikwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.“ Zitieren lehrt er hoffentlich nicht.

Aber sicherlich ist der Rest des Buches ganz toll!

Aus meinem Poesiealbum (XXII) – Boshafte Tiere

Ich schäme mich der Menschheit; ich erröte über das Jahr­hun­dert. Lasset uns die Wahrheit gestehen: Philosophie und Künste verbreiten sich nur auf eine geringe Zahl Menschen. Die große Masse, das Volk und der gemeine Adel bleiben das, wozu sie die Natur gemacht hat, boshafte Tiere.

Friedrich II.
(zitiert nach Herders „Briefen
zur Beförderung der Humanität“)

Allen Lesern ins Stammbuch (72)

Eine Regel beim Lesen ist die Absicht des Verfassers, und den Hauptgedanken sich auf wenig Worte zu bringen und sich unter dieser Gestalt eigen zu machen. Wer so liest ist beschäftigt, und gewinnt, es gibt eine Art von Lektüre wobei der Geist gar nichts gewinnt, und viel mehr verliert, es ist das Lesen ohne Ver­glei­chung mit seinem eigenen Vorrat und ohne Vereinigung mit seinem Meinungs-System.

Georg Christoph Lichtenberg

Aus meinem Poesiealbum (XXI) – Laokoon

„Laocoon Pio-Clementino Inv1059-1064-1067“ von Hagesandros, Athanadoros, und Polydoros - Marie-Lan Nguyen (2009). Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons - http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Laocoon_Pio-Clementino_Inv1059-1064-1067.jpg#mediaviewer/Datei:Laocoon_Pio-Clementino_Inv1059-1064-1067.jpg
„Laocoon Pio-Clementino Inv1059-1064-1067“ von Hagesandros, Athanadoros und Polydoros – Marie-Lan Nguyen (2009). Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.

Sausages are human history. Laocoön, who tried to stop the Trojans from hauling the wooden horse inside the walls of Troy, was a prominent sausage merchant of the town who got into an argument with two of his sons about the flavouring in a couple of long links of liverwurst the boys had made and the whole argument ended up with not only the three of them all tangled up in the liverwurst but as a statue, possibly by Athenodorus or maybe Agesander, in the Vatican in Rome. It is an absolute masterpiece of anatomical knowledge.

Richard Condon
The Final Addiction

Allen Lesern ins Stammbuch (71)

Ich habe mitunter schon von sogenannter schädlicher Lektüre reden hören, wie z. B. von berüchtigten Schauerromanen. Auf dieses Kapitel näher einzugehen möchten wir uns verbieten, aber so viel können wir sagen: das schlechteste Buch ist nicht so schlecht wie die völlige Gleichgültigkeit, die überhaupt nie ein Buch zur Hand nimmt. Das Schundbuch ist lange nicht so gefährlich, wie man vielleicht meint, und das sogenannte wirklich gute Buch ist unter Umständen durchaus nicht so gefahrlos, als man allgemein annehmen möchte. Geistige Dinge sind nie so harmlos wie etwa Schokoladeessen oder wie der Genuß eines Apfelkuchens. Grundsätzlich muß eben der Leser nur immer das Lesen vom Leben säuberlich zu trennen wissen.

Robert Walser
Lesen

Aus gegebenem Anlass (XIV) – Das Mitmachen Englands

Den vierten August, Eintritt Englands in den Krieg, feierte man in der Division und nicht den zweiten, den unserer eigenen Kriegserklärung an Rußland und Frankreich, weil, wie von Lychow augenfunkelnd sagte, erst durch das Mitmachen Englands die Geschichte den nötigen Schick bekommen habe. Er schätze, legte er behaglich dar, indes er den gelben Käsebissen auf sammetschwarzem Pumpernickel zurechtschnitt, die militärische Kraft und Schulung der Franzosen, der Russen gewiß nicht gering ein. »Das sind alte Kriegervölker wie wir, ich meine die Preußen«, krächzte er fröhlich, bequem in seinen großen Stuhl zurückgelehnt, zu Generalmajor von Heßta, dem Artilleriekommandeur zu seiner Linken, »und für Kriegervölker will ein Krieg nicht viel bedeuten; man gewinnt einen, man verliert wieder einen, und dann fängt man eben den dritten an; darum keine Feindschaft nicht – ich meine Feindschaft, richtige, auf Tod und Leben. Mit den Engländern drüben raucht das aus ganz anderer Pfeife; die haben ihre kriegerische Zeit längst hinter sich, ihre Fechternaturen schicken sie in die Kolonie, und da legen sie ihnen ja die Erde zur Auswahl vor – und basta. Wenn man die erst einmal wachgekitzelt hat, so daß sie losgehn wie eine gepiesackte Bulldogge, dann wird’s ernst; und den Ernst haben wir nun auf uns gezogen und können bloß durchs Ziel gehn – oder verrecken. Und wenn man in demokratischen Zeiten, wo Hinz und Kunz ganz im Ernst gefragt werden möchte, ob es ihm beliebt, zu sterben, Krieg führen will, dann muß es schon um die Wurst gehn, um die letzte, die allerletzte, verstehn Sie, wenn man aus den Burschen den richtigen Saft herausquetschen soll. Und darum trinken wir auf Englands Wohl, weil es uns gezwungen hat und weiter zwingt, die letzte Rate zu mobilisieren. Am zweiten August konnte es noch so werden wie Siebzig; mit dem vierten bekam die Kiste ihr eigenes Profil. Prost, Herr Kamerad!«

Arnold Zweig
Der Streit um den Sergeanten Grischa

Allen Lesern ins Stammbuch (70)

Unterschätzte Wirkung des gymnasialen Unterrichts. – Man sucht den Wert des Gymnasiums selten in den Dingen, welche wirklich dort gelernt und von ihm unverlierbar heimgebracht werden, sondern in denen, welche man lehrt, welche der Schüler sich aber nur mit Widerwillen aneignet, um sie so schnell er darf von sich abzuschütteln. Das Lesen der Klassiker – das gibt jeder Gebildete zu – ist so, wie es überall getrieben wird, eine monströse Prozedur: vor jungen Menschen, welche in keiner Beziehung dazu reif sind, von Lehrern, welche durch jedes Wort, oft durch ihr Erscheinen schon einen Mehltau über einen guten Autor legen. Aber darin liegt der Wert, der gewöhnlich verkannt wird – daß diese Lehrer die abstrakte Sprache der höhern Kultur reden, schwerfällig und schwer zum Verstehen, wie sie ist, aber eine hohe Gymnastik des Kopfes; daß Begriffe, Kunstausdrücke, Methoden, Anspielungen in ihrer Sprache fortwährend vorkommen, welche die jungen Leute im Gespräche ihrer Angehörigen und auf der Gasse fast nie hören. Wenn die Schüler nur hören, so wird ihr Intellekt zu einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise unwillkürlich präformiert. Es ist nicht möglich, aus dieser Zucht völlig unberührt von der Abstraktion als reines Naturkind herauszukommen.

Friedrich Nietzsche
Menschliches, Allzumenschliches

Aus gegebenem Anlass (XIII)

Reklamefahrten zur Hölle

In meiner Hand ist ein Dokument, das, alle Schande dieses Zeitalters überflügelnd und besiegelnd, allein hinreichen würde, dem Valutenbrei, der sich Menschheit nennt, einen Ehrenplatz auf einem kosmischen Schindanger anzuweisen. Hat noch jeder Ausschnitt aus der Zeitung einen Einschnitt in die Schöpfung bedeutet, so steht man diesmal vor der toten Gewißheit, daß einem Geschlecht, dem solches zugemutet werden konnte, kein edleres Gut mehr verletzt werden kann. Nach dem ungeheuren Zusammenbruch ihrer Kulturlüge und nachdem die Völker durch ihre Taten schlagend bewiesen haben, daß ihre Beziehung zu allem, was je des Geistes war, eine der schamlosesten Gaukeleien ist, vielleicht gut genug zur Hebung des Fremdenverkehrs, aber niemals ausreichend zur Hebung des sittlichen Niveaus dieser Menschheit, ist ihr nichts geblieben als die hüllenlose Wahrheit ihres Zustands, so daß sie fast auf dem Punkt angelangt ist, nicht mehr lügen zu können, und in keinem Abbild vermöchte sie sich so geradezu zu erkennen wie in diesem:

Kraus_Annonce

Aber was bedeutet wieder jenes Gesamtbild von Grauen und Schrecken, das ein Tag in Verdun offenbart, was bedeutet der schauerlichste Schauplatz des blutigen Deliriums, durch das sich die Völker für nichts und wieder nichts jagen ließen, gegen die Sehenswürdigkeit dieser Annonce! Ist hier die Mission der Presse, zuerst die Menschheit und nachher die Überlebenden auf die Schlachtfelder zu führen, nicht in einer vorbildlichen Art vollendet?
Sie erhalten am Morgen Ihre Zeitung.
Sie lesen, wie bequem Ihnen das Überleben gemacht wird.
Sie erfahren, daß 1½ Millionen eben dort verbluten mußten, wo Wein und Kaffee und alles andere inbegriffen ist.
Sie haben vor jenen Märtyrern und jenen Toten entschieden den Vorzug einer erstklassigen Verpflegung in der Ville-Martyre und am Ravin de la Mort.
Sie fahren im bequemen Personen-Auto aufs Schlachtfeld, während jene nur im Viehwagen dahingelangt sind.
Sie hören, was Ihnen da alles zur Entschädigung für die Leiden jener geboten wird und für ein Erlebnis, wovon Sie bis heute Zweck, Sinn und Ursache nicht zu erkennen vermochten.
Sie begreifen, daß es veranstaltet wurde, damit einmal, wenn von der Glorie nichts geblieben ist als die Pleite, wenigstens ein Schlachtfeld par excellence vorhanden sei.
Sie erfahren, daß es doch etwas Neues an der Front gibt und daß es sich heut dort besser leben läßt als ehedem im Hinterland.
Sie erkennen, daß das, was die Konkurrenz bieten kann, die bloß über die Toten der Argonnen- und Somme-Schlachten, über die Beinhäuser von Reims und St. Mihiel verfügt, eine Bagatelle ist neben der erstklassigen Darbietung der Basler Nachrichten, denen es unzweifelhaft gelingen wird, mit den Verlusten von Verdun ihre Abonnentenliste aufzufüllen.
Sie verstehen, daß das Ziel die Reklamefahrt und diese den Weltkrieg gelohnt hat.
Sie erhalten, und wenn Rußland verhungert, ein reichliches Frühstück, sobald Sie sich entschließen, dazu auch noch die Schlachtfelder von 1870/71 mitzunehmen, es geht in Einem.
Sie haben nach dem Mittagessen noch Zeit, die Einlieferung der Überreste der nicht agnoszierten Gefallenen mitzumachen, und nach Absolvierung dieser Programmnummer noch Lust zum Nachtessen.
Sie erfahren, daß die Staaten, deren Opfer Sie in Krieg und Frieden sind, Ihnen sogar, und das will viel heißen, die Paßformalitäten ersparen, wenn die Reise aufs Schlachtfeld geht und Sie sich nur rechtzeitig bei der Zeitung ein Ticket besorgen.
Sie erkennen, daß diese Staaten Strafparagraphen haben, welche das Leben und sogar die Ehre von Preßpiraten ausdrücklich schützen, die aus dem Tod einen Spott und aus der Katastrophe ein Geschäft machen und den Abstecher zur Hölle als Herbstfahrt besonders empfehlen.
Sie werden Mühe haben, diese Paragraphen nicht zu übertreten, aber dann den Basler Nachrichten ein Anerkennungs- und Dankschreiben schicken.
Sie bekommen unvergeßliche Eindrücke von einer Welt, in der es keinen Quadratzentimeter Oberfläche gibt, der nicht von Granaten und Inseraten durchwühlt wäre.
Und wenn Sie dann noch nicht erkannt haben, daß Sie durch Ihre Geburt in eine Mördergrube geraten sind und daß eine Menschheit, die noch das Blut schändet, das sie vergossen hat, durch und durch aus Schufterei zusammengesetzt ist und daß es vor ihr kein Entrinnen gibt und gegen sie keine Hilfe – dann hol‘ Sie der Teufel nach einem Schlachtfeld par excellence!

Karl Kraus
Die Fackel, Nr. 577-582 (Nov. 1921)