Allen Lesern ins Stammbuch (60)

Ein gewisser Mann […] verlor einmal einen diamantenen Man­schet­ten­knopf im großen blauen Meer, und zwanzig Jahre später aß er an genau dem gleichen Tag, anscheinend einem Freitag, einen großen Fisch – aber es war kein Diamant darin. Das ist es, was mir am Zufall so gefällt.

Vladimir Nabokov
Gelächter im Dunkel

Allen Lesern ins Stammbuch (59)

Noch eine Weile kann ich das alles aufschreiben und sagen. Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von mir sein wird, und wenn ich sie schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine. Die Zeit der anderen Auslegung wird anbrechen, und es wird kein Wort auf dem anderen bleiben, und jeder Sinn wird wie Wolken sich auflösen und wie Wasser niedergehen.

Rainer Maria Rilke
Die Aufzeichnungen des
Malte Laurids Brigge

Aus gegebenem Anlass (VIII) – Bloomsday

De omnibus zusammis

– Wir hatten’s nur in Erwägung gezogen, sagte Stephen.
– Die gesamte Intelligenz, sagte Myles Crawford. Die Jurisprudenz, die klassische Philologie …
– Der Rennsport, warf Lenehan ein.
– Literatur, Presse.
– Wenn Bloom hier wäre, sagte der Professor. Die edle Kunst der Reklame.
– Und Madame Bloom, fügte Mr. O’Madden Burke hinzu. Die Muse des Gesanges. Dublins erste Favoritin.
Lenehan gab ein lautes Husten von sich.
– Ähem, sagte er sehr leise. Ah, bloß ein frischchen bisse Luft! Ich hab eine Erkältung erwischt im Park. Das Tor stand offen.

James Joyce:
Ulysses

Allen Lesern ins Stammbuch (58)

// WAS IST EIN BUCH?

Dies ist 1 Titel aus den 37 000 Titeln der Jahrestitelproduktion der Bundesrepublik und Westberlins; auf den Markt geworfen von einem der 2 494 Verlage, in der Hoffnung, mit dieser Ware, die auf den Regalen von 6 920 Buchhandlungen in 888 Orten feilgeboten wird, einen Anteil am 3-Milliarden-Umsatz zu ergattern, einen, wenn’s beliebt, großen Profit. Hier hört die Schöngeisterei auf, hier beginnt das große kapitalistische Catch as catch can aller gegen alle, hier zählt, wie bei Waschmitteln und Heringskonserven, nichts als die Zahl. Jetzt hast du bezahlt, jetzt haben sich die Investitionen bezahlt gemacht, in jeder Kasse klingelt ein Teil deines Gehalts, deines Lohnes, gleichgültig, ob der Gehalt sich lohnt, du hast deine Konsumentenpflicht getan, deinen Beitrag zur Kapitalverwertung, zur Akkumulation, zur Niederringung der Konkurrenz geleistet (der Prozeß der Kapitalkonzentration ist auch hier weit fortgeschritten, zurück bleiben ein paar ideologische Fetzen, die kaum verschleiern, daß die Druckfreiheit einer 60-Millionen-Gesellschaft auf die Freiheit von 276 Unternehmern zusammengeschmolzen ist, die über 75 % aller Titel beherrschen, während sie ihrerseits wieder von den Banken beherrscht werden, daß von den 7 000 Buchhandlungen 6 000 kaum der Rede wert sind, weil 1 000 80 % aller Umsätze an sich gezogen haben, daß aus der stattlichen Zahl von 564 Grossisten nur 17 zählen, der Rest sich in 20 % des Umsatzes der Branche teilt). //

Bernward Vesper
Die Reise (1977)

Zum 70. Geburtstag Hans Peter Duerrs

So jetzt schreit schon wieder meine schizophrene Nachbarin, eine sehr nette und gebildete alte Dame, damit ich zu ihr komme, um sie zu unterhalten. Letzte Woche schrie und rezitierte sie während der Nacht so laut zum Fenster hinaus, daß ich mich anzog, zu ihr rüberging und ein paar Flaschen Sekt mit ihr trank, worauf sie guter Dinge war. Stell Dir vor, ich war seit 12 Jahren der erste Mensch, der ihre Wohnung betrat, denn alle hatten sie Angst, ihre Schwelle zu überschreiten, weil die alte Dame ja wahnsinnig ist, und weil sie glaubten, von ihr erstochen zu werden. Ich habe mit der Polizei, dem Psychiater und dem Pfarrer gesprochen, alles eiskalte Charaktermasken und daraufhin beschlossen, diesen Umgang künftig zu meiden und stattdessen öfter meine Abende sekttrinkenderweise mit geisteskranken Damen zu verbringen.

Hans Peter Duerr
an Paul Feyerabend

Aus meinem Poesiealbum (XV) – Ostern

Im Schweitzerland, allwo die frömmsten Leute wenn’s wohl gerät jährlich einmal, um die Osterzeit, in die Kirche kommen, schickte ein achtzigjähriger Vater seinen fünfundzwanzigjährigen Sohn das erstemal ins Tal. Und als er wieder nach Hause kam, examinierte er ihn, was Jener dort gehört und gesehen? Da erzählte denn der Sohn: es hätte ein Kerl, die lang die breit, von einem Andern daher gesagt: wie man den verraten & verkauft, gefangen & gebunden, geschleifet & geschlagen, und endlich gar gekreuziget hätte. »Ja, Vater,« sagte er: »So übel ist man mit ihm umgangen, daß er mich derb daurete.« / »Herrgott, Herrgott!« sagte darauf der Alte: »Ist denn dieser Handel immer noch nicht ausgemacht?! Es ist wohl 20 Jahr, daß ich das letztemal in der Kirchen gewesen: da hatte man diese Sache auch schon unterhanden! Es wundert mich, was nur unsere Regierung tut, daß sie es nicht einmal vollends erörtern!«

Arno Schmidt
Die Gelehrtenrepublik