Ich war etwa 8 Jahre alt, Du 13. In unserem Kinderzimmer saßen wir fünf Brüder eines Abends, ein jeder an seinem kleinen Tischchen bei einer Talgkerze, mit unseren Schularbeiten beschäftigt. Ich hatte für den Prüfungstag, für den morgenden Tag also, in ein Heft die Gedichte abzuschreiben, die wir im Laufe des Semesters auswendig gelernt hatten. Eben hatte ich den letzten Vers abgeschrieben, als ich so ungeschickt war, das Tintenfaß anstatt der Streusandbüchse zu ergreifen und es über das Heft auszuleeren. Ich heulte jämmerlich; ich war wohl wehleidig. Der Schaden war freilich kaum wieder gut zu machen, weil meine Schreibfertigkeit damals noch kaum ausreichte, 32 Seiten in einer Nacht zu leisten. Für den Spott brauchte ich nicht zu sorgen. Du aber kamst an mich heran, überblicktest das Unheil prüfend und sagtest dann: »Leg’ dich nur ruhig schlafen; ich werde dir die paar Seiten abschreiben.« Ich tröstete mich schnell, schlief wirklich bald ein, und des Morgens fand ich das dumme Heft in Deiner schönen Handschrift auf meinem Tischchen, neben der herabgebrannten Kerze.
Fritz Mauthner
Wörterbuch der Philosophie
Zitate
Eine wahre Wilde
In der Tat gingen die Herren von der Politik zur Moral über. Sie hörten zu, wie Duveyrier Einzelheiten über einen Prozeß anführte, in dem sein Verhalten große Beachtung gefunden hatte. Er sollte sogar zum Kammerpräsidenten und zum Offizier der Ehrenlegion ernannt werden. Es handelte sich um einen schon mehr als ein Jahr zurückliegenden Kindesmord. Die entmenschte Mutter, eine wahre Wilde, wie er sagte, sei zufällig eben die Schuhstepperin, seine ehemalige Mieterin, jenes blasse und trostlose große Mädchen, über dessen ungeheuren Bauch sich Herr Gourd einst entrüstete. Und noch dazu blöd! Denn ohne auch nur auf den Gedanken zu kommen, daß dieser Bauch sie verraten würde, habe sie sich daran gemacht, ihr Kind entzweizuschneiden, um es sodann in einer Hutschachtel zu verstauen. Natürlich habe sie den Geschworenen einen ganzen, lächerlichen Roman erzählt, von einem Verführer verlassen, Elend, Hunger, ein toller Anfall von Verzweiflung angesichts des Kleinen, das sie nicht ernähren könne: mit einem Wort das, was sie eben alle sagen. Aber es müsse ein Exempel statuiert werden. Duveyrier schätzte sich glücklich, daß er die Verhandlung mit jener packenden Klarheit zusammengefaßt habe, die zuweilen für den Spruch der Geschworenen bestimmend sei.
»Und Sie haben sie verurteilt?« fragte der Doktor.
»Zu fünf Jahren«, erwiderte der Gerichtsrat mit seiner neuen, gleichsam verschnupften und grabestiefen Stimme. »Es ist an der Zeit, dem Lotterleben, das Paris zu überschwemmen droht, einen Damm entgegenzustellen.«Émile Zola
Ein feines Haus
Zum Tod von Ágota Kristóf
In Berlin haben wir am Abend eine Lesung. Leute werden kommen, um mich zu sehen, um mich zu hören, um mir Fragen zu stellen. Über meine Bücher, über mein Leben, über meinen schriftstellerischen Werdegang. Hier die Antwort auf die Frage: Man wird Schriftsteller, indem man geduldig und hartnäckig schreibt, ohne je den Glauben an das, was man schreibt, zu verlieren.
Ágota Kristóf
Die Analphabetin
Aus gegebenem Anlass (II)
Mittelmäßige Autoren, die ein kleines Buch so ankündigen, als ob sie einen großen Riesen wollten sehen lassen, sollten von der literarischen Polizei genötigt werden, ihr Produkt mit dem Motto stempeln zu lassen: This is the greatest elephant in the world, except himself.
Friedrich Schlegel
Kritische Fragmente
Allen Lesern ins Stammbuch (43)
Fast durchweg heißt es, die Gelehrten ergingen sich in Paradoxien, wenn sie, betroffen ob eines historischen Irrtums, diesen zu berichtigen suchen; allein für jeden, der sich gründlich mit der neueren Geschichte befaßt, steht fest, daß die Historiker privilegierte Lügner sind, die ihre Federn populären Anschauungen leihen, gerade wie heutzutage die Mehrzahl der Zeitungen nur die Meinung ihrer Leser wiedergibt.
Honoré de Balzac
Katharina von Medici
Aus meinem Poesiealbum (XI) – Computer
now it’s computers and more computers
and soon everybody will have one,
3-year olds will have computers
and everybody will know everything
about everybody else
long before they meet them
and so they won’t want to meet them.
nobody will want to meet anybody
else ever again
and everybody will be
a recluse
like i am now.Charles Bukowski
Allen Lesern ins Stammbuch (42)
Ein Mensch muß vor allem lesen, etwas oder soviel er kann, mehr soll man nicht von ihm verlangen angesichts der Kürze des Lebens und der Vielfalt der Welt.
José Saramago
Das Todesjahr des Ricardo Reis
Allen Lesern ins Stammbuch (41)
Mag dem indeß sein, wie ihm wolle, so bleibt es doch heut zu Tage mit der Dichterei überall bedenklich, weil es so wenig Verrückte mehr giebt, und ein solcher Überfluß an Vernünftigen vorhanden ist, daß sie aus ihren eigenen Mitteln alle Fächer und sogar die Poesie besetzen können. Ein rein Toller, wie ich, findet unter solchen Umständen kein Unterkommen. Ich gehe deshalb auch nur jetzt blos noch um die Poesie herum, das heißt, ich bin ein Humorist worden, wozu ich als Nachtwächter die meiste Muße habe. –
Zum 100. Geburtstag von Max Frisch
WASHINGTON SQUARE
die Schachspieler an den öffentlichen Steintischen mit dem wetterfesten Schachmuster, darüber Grün mit Vogelzwitschern. Oft bleibe ich lange da stehen, aber immer nur stehen; ich setze mich nicht. Heute hat mich einer gefragt, ein Schwarzer, ob ich Lust habe zu einer Partie. Kein sehr guter Spieler, wie ich vorher bemerkt habe, und trotzdem wage ich’s dann nicht. Kann ich mir keine Niederlagen leisten? Oder keinen Sieg? weil er nichts bewirkt; im Gegenteil, nachher klafft das Bewußtsein meines häuslichen Versagens –
Montauk
GW 6, 629
Aus meinem Poesiealbum (X) – Frühling
Beckett’s life and work taught others the lesson he said he learned from Joyce: the meaning of artistic integrity. His vision never yielded. Even on a sunny day in London, as he strolled through a park in evident pleasure, when a friend remarked that it was a day that made one glad to be alive, Beckett turned and said, “I wouldn’t go that far.”
William A. Henry III