Kennen Sie Ibsen? – Nein, wie jeht das?

Ich nahm mir vor, Jesse die Geschichte von Tschechow zu erzählen, der, als er in einem Moskauer Theater Ibsens Stück Nora sah, seinem Freund zuflüsterte: »Aber hör mal, Ibsen ist kein Dramatiker … Ibsen hat keine Ahnung vom Leben. Im Leben geht es völlig anders zu.«

David Gilmour
Unser allerbestes Jahr

Allen Lesern ins Stammbuch (36)

In der Bibliothek war niemand. Die Bücher schliefen in ihren eichenen Schränken; völlig leer, stellten die beiden großen Tische den Ernst ihrer grünen Decken zur Schau; an den Armlehnen der Sessel, die in tadelloser Ordnung dastanden, waren die von einer leichten Staubschicht grauen mechanischen Pulte zusammengeklappt. Und inmitten dieser Stille, in der Verlassenheit des langen schmalen Saales, wo ein Geruch nach Papier schwebte, sagte Herr La Rouquette, die Tür zuschlagend, ganz laut: »Hier ist nie jemand!«

Émile Zola
Seine Exzellenz Eugène Rougon

Allen Lesern ins Stammbuch (35)

Dann wird mit einem Mal der Staub auf den Büchern sichtbar. Sie sind alt, stockfleckig, riechen moderig, sind eines vom anderen abgeschrieben, weil sie die Lust genommen haben, in anderem als in Büchern nachzusehen. Die Luft in Bibliotheken ist stickig, der Überdruß, in ihr zu atmen, ein Leben zu verbringen, ist unausbleiblich. Bücher machen kurzsichtig und lahmärschig, ersetzen, was nicht ersetzbar ist. So entsteht aus Stickluft, Halbdunkel, Staub und Kurzsichtigkeit, aus der Unterwerfung unter die Surrogatfunktion, die Bücherwelt als Unnatur. Und gegen Unnatur sind allemal Jugendbewegungen gerichtet. Bis dann die Natur wieder in deren Büchern steht.

Hans Blumenberg
Die Lesbarkeit der Welt

Allen Lesern ins Stammbuch (34)

Allgemein habe er dann noch kritisiert, wie das – seiner Ansicht nach wichtigste – Problem überhaupt nicht berührt worden sei: »’s Honno=rar natürlich! Das’ss ooch so was, was die Verleger nie lern’n: wenn se 3 Tausnd Mark für ’ne Übersetzunk blechn, kriegn se ’ne 3=Tausnd=Mark= Übersetzunk; wenn se 6 Tausnd schmeißn, eene für 6 Tausnd: dann kann ich neemlich de doppelte Zeit dran wendn!«. Auf das vorsichtige Bedenken seines – verständlicherweise ungenannt bleiben wollenden – Bekannten: daß die meisten ‹Künstler› unter sotanen Umständen dann eben wohl doch nur die für 3 herstellen, und für die übrigen 3 schlicht faulenzen würden: ob die Gefahr nicht nahe läge?, habe er kaltblütig erwidert: die läge freilich verdammt nahe.

Arno Schmidt
Piporakemes!

Allen Lesern ins Stammbuch (33)

Ich liebe Jünglinge, die so wie du, mein Balthasar, Sehnsucht und Liebe im reinen Herzen tragen, in deren Innerm noch jene herrlichen Akkorde widerhallen, die dem fernen Lande voll göttlicher Wunder angehören, das meine Heimat ist. Die glücklichen, mit dieser inneren Musik begabten Menschen sind die einzigen, die man Dichter nennen kann, wiewohl viele auch so gescholten werden, die den ersten besten Brummbaß zur Hand nehmen, darauf herumstreichen und das verworrene Gerassel der unter ihrer Faust stöhnenden Saiten für herrliche Musik halten, die aus ihrem eignen Innern heraustönt.

E.T.A. Hoffmann
Klein Zaches genannt Zinnober

Aus meinem Poesiealbum (V)

Weltverbesserung

»Zu ungleich ist’s in dieser Welt,
Das Kleine muß vom Großen leiden –
Wie wäre alles wohlbestellt,
Wenn Gleichheit herrschte zwischen beiden!«

So klingt das Klagelied der Tadler,
Sie finden alles schlecht umher,
Die winzige Mücke schmäht den Adler,
Weil sie nicht fliegen kann wie er.
Der Riese soll wie Zwerge klein,
Der Zwerg so groß wie Riesen sein.

Verbessern wir der Schöpfung Fehler:
Hinfort soll Gleichheit sein auf Erden,
Die Berge sollen tief wie Täler,
Die Täler hoch wie Berge werden.

Was groß ist, soll sich nun verkleinern,
Besonders sich verallgemeinern,
Die Klugheit soll der Dummheit weichen,
Der Diamant dem Kiesel gleichen,

Und wenn das alles ist geschehn,
Ruft mich – das Wunder möcht’ ich sehn!

Friedrich von Bodenstedt

Allen Lesern ins Stammbuch (31)

Die Frau: „Arbeiten Sie hier?“
Der Buchhändler: „Ja, mehr oder weniger, meist weniger.“
„Sie, haben Sie eventuell Bücher von diesem … äh … Hölderlin?“
„Ja, schon. Hier zum Beispiel eine Gedichtausgabe, sehr gut kommentiert.“
„Nein, Gedichte nicht um Gottes Willen, haben Sie nicht so kleine Geschichten?“
„Kleine Geschichten hat er nicht verfaßt.“
„Ach so, ja was denn?“
„Einen Briefroman mit dem Titel Hyperion.“
„Ist der spannend?“
„So würde ich das nicht sagen.“
„Was hat er denn Lesbares geschrieben, für abends vor dem Einschlafen?“
„Meines Wissens nichts.“
„Ja, er muß doch was geschrieben haben, sonst würde er doch nicht im Reiseführer stehen.“
„Ein Trauerspiel in fünf Akten über Empedokles.“
„Über was?“
„Empedokles war ein griechischer Philosoph, der sich aus Verzweiflung in den Ätna stürzte.“
„Naja, und wenn ichs mal in einer anderen Buchhandlung versuche?“
„Das können Sie machen, versuchen kostet nichts.“
„Und wo ist die nächste Buchhandlung?“

(Ein wahrhaftiger Dialog aus dem Erlebnisbereich einer Tübinger Buchhandlung.)

Schwäbisches Tagblatt, 5.9.1990