Aus meinem Poesiealbum (I)

Die Trompeten der Apokalypse ertönen seit einigen Jahren vor unseren Toren, und wir verstopfen uns die Ohren. Diese neue Apokalypse galoppiert, wie die alte, in Gestalt von vier Reitern heran, die Überbevölkerung – als erstem, als dem Anführer, der das schwarze Banner schwenkt –, der Wissenschaft, der Technik und der Medien. All die anderen Übel, die über uns hereinbrechen, sind nur deren Folgen. Die Medien rechne ich ohne Zögern zu den apokalyptischen Reitern.

Luis Buñuel

Allen Lesern ins Stammbuch (29)

Kein Jahr vergeht, in welchem die Meßcataloge nicht hundert neue lyrische Werke, eben so viel oder noch mehr Romane und wenigstens halb so viel Schauspiele verzeichnen. Die Zahl unserer lebenden Dichter ist eine Myriade, und nicht einmal zu viel für die mehr als tausend jetzt in Deutschland bestehenden Buchhandlungen. Die Poesie, ehemals monarchisch, priesterlich oder wenigstens aristokratisch, ist demokratisirt worden, und nicht nur glaubt sich jeder, sobald es ihm nur einfällt, berechtigt zu schreiben und drucken zu lassen, sondern eine zahlreiche Classe von Proletariern der Presse wird von den Verlegern zur poetischen Fabrikarbeit förmlich gedungen. Ein Kriterium des guten Geschmacks gibt es nicht mehr. Reiche Verleger und Lobassecuranz- gesellschaften unter den Literaten selbst, oder das politische und kirchliche Parteiinteresse diktiren das öffentliche Urtheil. Nie zuvor ist daher so viel Schlechtes angepriesen und verbreitet, so viel Gutes verachtet und unterdrückt worden.

Wolfgang Menzel
Deutsche Dichtung (1859)

Allen Lesern ins Stammbuch (28)

Wisset derowegen, dass nicht durch langen Fleiss, sondern durch des Geistes Demut und Gebet und Reinigkeit des Herzens, nicht durch einen kostbaren Vorrat vieler Bücher, sondern durch einen reinen Verstand und Schlüssel der Wahrheit die Wissenschaft muss erlanget werden; denn die Menge der Bücher beschweret den Leser und machet ihn nichts klüger, und wer vielen Autoribus folget, der irret mit vielen.

Agrippa von Nettesheim

Vgl. auch: So verstau’ ich meine Bücher

Allen Lesern ins Stammbuch (27)

I plainly tell all my readers, except half a dozen, this treatise was not at first intended for them; and therefore they need not be at the trouble to be of that number. But yet if any one thinks fit to be angry and rail at it, he may do it securely; for I shall find some better way of spending my time than in such kind of conversation.

John Locke

Miniaturen (10)

Weil ich Tante Lia erwähnt hatte. Sie starb just in dieser Zeit, als sich Martina und ich trennten. In ihrem Testament hatte sie verfügt, dass ich ihre Briefmarkensammlung erbe. Ich musste bei einem Notar etwas unterschreiben, bekam ein kleines Paket ausgehändigt. Das Briefmarkenalbum. Darin vier österreichische Marken und eine Ansichtskarte aus Tel Aviv, auf der stand: »Öfter hast Du nicht geschrieben! Dir möcht ich beibringen Familiensinn! Deine Dich liebende Tante Lia.«

Robert Menasse
Don Juan de la Mancha

Allen Lesern ins Stammbuch (26)

Frau Steiner war aus Frankfurt am Main, nicht mehr so furchtbar jung, ganz allein und schwarzhaarig; sie trug Abend für Abend ein andres Kleid und saß still an ihrem Tisch und las feingebildete Bücher. Ich will sie ganz kurz beschreiben: sie gehörte zum Publikum Stefan Zweigs. Alles gesagt? Alles gesagt.

Kurt Tucholsky
Der schiefe Hut

Allen Lesern ins Stammbuch (25)

Das Publikum? Was sind das denn für Menschen? Was wissen sie schon? Die Vorstellung, die sich das Publikum von der Geburt eines literarischen Werks macht, entspricht haargenau, haargenau jener, die sich kleine Kinder von der Geburt eines Babys machen. Die meisten glauben, Bücher bringe der Storch.

Gilbert Adair
Blindband