Von der Höhe der Alpen (2)

Früh aufgestanden befand ich mich bald zwar unter freiem Himmel jedoch in engen von hohen Gebirgskuppen umschlossenen Räumen. Ich hatte mich an den Fußpfad, der nach Italien hinunterging, niedergelassen und zeichnete, nach Art der Dilettanten, was nicht zu zeichnen war und was noch weniger ein Bild geben konnte: die nächsten Gebirgskuppen, deren Seiten der herabschmelzende Schnee mit weißen Furchen und schwarzen Rücken sehen ließ; indessen ist mir durch diese fruchtlose Bemühung jenes Bild im Gedächtnis unauslöschlich geblieben.

Mein Gefährte trat mutig zu mir und begann: »Was sagst Du zu der Erzählung unsres geistlichen Wirts von gestern abend? Hast Du nicht, wie ich, Lust bekommen Dich von diesem Drachengipfel hinab in jene entzückenden Gegenden zu begeben? Die Wanderung durch diese Schluchten hinab muß herrlich sein und mühelos, und wann sichs dann bei Bellinzona öffnen mag, was würde das für eine Lust sein! Die Inseln des großen Sees sind mir durch die Worte des Paters wieder lebendig in die Seele getreten. Man hat seit Keislers Reisen so viel davon gehört und gesehen, daß ich der Versuchung nicht widerstehen kann. Ist Dir’s nicht auch so? fuhr er fort; Du sitzest gerade am rechten Fleck, schon einmal stand ich hier und hatte nicht den Mut hinabzuspringen. Geh voran ohne weiteres, in Airolo wartest Du auf mich, ich komme mit dem Boten nach, wenn ich vom guten Pater Abschied genommen und alles berichtigt habe.«

So ganz aus dem Stegreife ein solches Unternehmen, will mir doch nicht gefallen – »Was soll da viel Bedenken! rief jener, Geld haben wir genug, nach Mayland zu kommen, Kredit wird sich finden, mir sind von unsern Messen her dort mehr als ein Handelsfreund bekannt.« Er ward noch dringender. Geh! sagte ich, mach’ alles zum Abschied fertig, entschließen wollen wir uns alsdann.

Mir kommt vor, als wenn der Mensch, in solchen Augenblicken, keine Entschiedenheit in sich fühlte, vielmehr von früheren Eindrücken regiert und bestimmt werde. Die Lombardie und Italien lag als ein ganz Fremdes vor mir; Deutschland als ein Bekanntes Liebwertes, voller freundlichen einheimischen Aussichten und, sei es nur gestanden: das was mich so lange ganz umfangen, meine Existenz getragen hatte, blieb auch jetzt das unentbehrlichste Element, aus dessen Grenzen zu treten ich mich nicht getraute.

Johann Wolfgang von Goethe
Aus meinem Leben

Klopstock schrieb:

Die Blinden

Saßen zwei Blinde bei einer Schilderei. Der eine fühlte auf der unrechten Seite herum, sagte: ist niedrig Buschwerk, wird etwa für einen Weidmann gekonterfeit sein. Der andre fühlte auf der rechten Seite herum, sagte: Hügel sind’s, etliche nur, all das Andre ist Ebne. Trat noch ein Blinder, ihr guter Gesell, herein, ließ sich den Zwist erzählen, fühlte auf dem glatten Rahmen herum, sagte: was? stilles ebnes Meer ist’s, worin sich die liebe Sonne spiegelt. Hatten die Blinden einen andern guten Gesellen, der konnt’ sehen. Da sie selbigem nun den Zwist der Länge nach hatten erzählt, sprach er: bin hergewandert, euch zur Musika einzuladen, weil mir ein trefflicher Geiger ankommen ist. Habt wohl eh’ davon sagen hören, daß unter Zeiten der Himmel voller Geigen hinge. Da hat er eine herabgenommen, so spielt er! Aber die Streitigkeit? So kommt doch. Ich mag die Schilderei nicht ansehn; sie betrübt mich nur, ’s ist Hermann, der von seinen eignen Blutsfreunden ermordet wird! Aber kommt immer. Der Mann wartet in der Laub’ auf uns, und still ist’s, und Mondschein auch.

Doch sie spotteten nur des Sehenden, fochten das Ding fernerhin unter sich aus, und ließen ihn allein zum Geiger gehen.

Nochmals »Tell« im Dritten Reich

Im März 2005 hatte ich auf meiner Pinwand einige Zitate zusammengestellt, in denen es um das Stück »Wilhelm Tell« und die Rolle der Titelfigur als Tyrannenmörder bzw. Terrorist ging. Heute ist mir dazu ergänzend das Folgende in die Hände gefallen; die Stelle ist natürlich oft angeführt worden, aber hier findet sich zusätzlich ein »Begründungszusammenhang«:

[344 a,b]

[a] 3. 6. 1941 Bormann an Lammers

Der Führer wünscht, dass Schillers Schauspiel ›Wilhelm Tell‹ nicht mehr aufgeführt wird und in der Schule nicht mehr behandelt wird.

[b] 3. 6. 1941 Aktenvermerk Bormanns

Die Entscheidung des Führers hat zwei Gründe; einmal die unverschämte Hetze, die seit langen Jahren fast alle schweizer Zeitungen gegen uns betreiben; wir haben wirklich keinen Grund, die Schweizer Fremdenpropaganda zu unterstützen.

Zweitens hat Wilhelm Tell bekanntlich nie gelebt; er ist im Grund auch kein Held, sondern ein hinterlistiger Heckenschütze.

Schon vor einigen Jahren sind die Bezeichnungen »Sächsische Schweiz«, »Holsteinische Schweiz« usw. verboten worden. Leider werden noch eine Unzahl von Holzhäusern als »Schweizer Haus« bezeichnet, obwohl diese Häuser genau so gut »Steyrer Haus« oder dgl. heissen könnten.

Quelle: Die Rückseite des Hakenkreuzes. Absonderlichkeiten aus den Akten des »Dritten Reiches«. Hg. v. Beatrice und Helmut Heiber. München: dtv, 1993 / 2001. Hier zitiert nach der Lizenzausgabe Wiebaden: Matrix Verlag, 2005.