Allen Lesern ins Stammbuch (126)

So brauchten etliche unserer jungen Damen sich nur den Zopf abzuschneiden, blaue Brillen aufzusetzen und sich Nihilistinnen zu nennen, um sofort davon überzeugt zu sein, zugleich mit der Brille auch eigene »Überzeugungen« erworben zu haben. So brauchten einige in ihrem Herzen auch nur den Hauch einer allgemein menschlichen positiven Empfindung zu verspüren, um augenblicklich davon überzeugt zu sein, daß niemand sonst so zu empfinden imstande sei und daß sie die Spitze des allgemeinen Fortschritts bildeten. So brauchte mancher nur einen fremden Gedanken aufs Wort zu übernehmen oder irgendwo mitten heraus eine Seite zu überfliegen, um sofort zu meinen, dies seien seine »eigenen Gedanken«, seinem eigenen Gehirn entsprossen.

Fjodor M. Dostojewskij
Der Idiot

Allen Lesern ins Stammbuch (125)

Das Publikum hat eine eigene Art, gegen öffentliche Menschen von anerkanntem Verdienste zu verfahren: es fängt nach und nach an, gleichgültig gegen sie zu werden, und begünstigt viel geringere, aber neu erscheinende Talente, es macht an jene übertriebene Forderungen und läßt sich von diesen alles gefallen.

Johann Wolfgang von Goethe
Wilhelm Meisters Lehrjahre

Allen Lesern ins Stammbuch (124)

Die Illusion der Klarheit kommt zustande, sagte Linda, weil der Text immer deutlicher ist als das Leben dessen, der ihn geschrieben hat. Der Text ist sogar klarer als das Leben jedes beliebigen Lesers. Darin liegt die fürchterliche Verlockung der Literatur; das Leben soll endlich dem Text folgen, es soll sich in Klarheit verwandeln.

Wilhelm Genazino
Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Allen Lesern ins Stammbuch (122)

«Ihr tut meinem Beruf zu viel Ehre an», sagte Yoomy. «Wir Sänger singen unsre Lieder ganz unbekümmert, edler Herr Media.»
«Ja und umso mehr Unheil verursachen sie.»
«Doch manchmal sind wir Dichter auch lehrreich.»
«Lehrreich und öde. Viele von euch langweilen allzu gern, außer sie sind boshaft.»
«Doch in unseren Versen, edler Herr, führen nur wenige von uns Böses im Schilde.»
«Seid ihr auch für euch selbst harmlos, so doch nicht für Mardi.»
«Entspringen schmutzige Flüsse nicht oftmals klaren Quellen, edler Herr?», bemerkte Babbalanja. «Die Essenz alles Guten und Bösen ist in uns und nicht außerhalb. Die Blumen, auf denen sich Bienen und Wespen nebeneinander niederlassen, enthalten weder Gift noch Honig. Natur ist eine unbefleckte Jungfrau, edler Herr, die stets unverhüllt vor uns steht. Echte Poeten malen nur den Zauber, den alle Augen schauen. Die Verderbten wären auch ohne sie verderbt.»

Herman Melville
Mardi

Allen Lesern ins Stammbuch (121)

»Was lesen Sie denn zum Beispiel jetzt?«

Fr. Rat. Morgens nach dem Kaffee – und dazu trink ich eine Bouteille Wasser, weil mir aus Eifer das Blut in den Kopf steigt – les ich zwei Stund und länger, aber alle Augenblick muß ichs Buch hinlegen und mich verwundern. Vorige Woche fing ich ein Buch an über die Inquisition von Goa. Da muß ich sagen, wenn auch mein Glauben mir bis zum Bergversetzen gelungen wär, so versetzt solch ein Buch mitsamt denen Bergen mich außer allen Glauben!

»Wär’s da nicht besser, Sie lesen solche Bücher nicht? – die nur Ihr Gemüt beunruhigen und Ihnen keine Erheiterung sind.«

Fr. Rat. Was halten Sie von mir, daß Sie mir einen so schwächlichen Rat geben? – Sollt ich meinen Geist mehr schonen als meinen Leib? – Der kann auch nicht auf Rosen gebettet liegen! und die Seel würde samt ihm zugrund gehen, die kein ander Exerzitium hätt als bloß Wohlbehagen. – Der Geist ist grad dazu gemacht, sich durch Dorn und Distel zu reißen, ich kann den Rat von Ihnen nicht gut heißen, ihn wie einen Schlemmer zu behandlen!

Bettina von Arnim
Dies Buch gehört dem König

Aus gegebenem Anlass (XXVI) – Bloomsday

– Ich schmelze, sagte er, wie die Kerze sehr richtig bemerkte, als sie … Aber Schwamm drüber. Kein Wort mehr zu diesem Thema. Kinch, wach auf. Brot, Butter, Honig. Haines, komm rein. Der Fraß ist fertig. Segne uns, Herr, und diese deine Gaben.
Wo ist der Zucker? O je, wir haben keine Milch.
Stephen holte den Brotlaib, den Honigtopf und den Butterkühler aus dem Schränkchen. Buck Mulligan setzte sich in einem plötzlichen Anfall von schlechter Laune hin.
– Was ist das hier bloß für ein Saftladen! murrte er. Ich hab’ ihr doch ausdrücklich gesagt, sie soll gleich nach acht kommen!
– Wir können ihn ja schwarz trinken, sagte Stephen. Im Schrank ist auch noch eine Zitrone.
– Verdammtnochmal, du und deine Pariser Marotten, sagte Buck Mulligan. Ich will Sandycove-Milch!
Haines kam vom Eingang herein und sagte ruhig:
– Die Frau kommt schon herauf mit der Milch.
– Gottes Segen über dich! schrie Buck Mulligan, vom Stuhl aufspringend. Setz dich hin. Schenk den Tee da ein. Der Zucker ist in der Tüte. Hier, ich kann nicht erst lange noch rummurksen an den verdammten Eiern. Er hackte in dem Gebratenen auf der Schüssel herum, klatschte es auf drei Teller und sagte:
In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti.
Haines setzte sich, um den Tee einzuschenken.
– Ich gebe euch jedem zwei Stücke, sagte er. Aber das muß ich schon sagen, Mulligan, du machst ja den Tee ganz schön stark, was?
Buck Mulligan, eben dabei, dicke Scheiben vom Brotlaib zu säbeln, sagte mit der Schmeichelstimme einer alten Frau:
– Wenn ich Tee mache, dann mache ich Tee, wie die olle Mutter Grogan sagte. Und wenn ich Wasser mache, dann mache ich Wasser.
– Beim Jupiter, es ist Tee, sagte Haines.
Buck Mulligan fuhr fort zu säbeln und zu schmeicheln:
Das mach’ ich, jawoll, Mrs. Cahill sagt sie. Ach Herrjeh, Ma’am, sagt da Mrs. Cahill, dann geb’s nur der liebe Gott, daß Sie’s nicht beides in denselben Topf machen!

James Joyce
Ulysses

Allen Lesern ins Stammbuch (119)

Die meisten Schriftsteller sind zugleich ihre Leser – indem sie schreiben – und daher entstehn in den Werken so viele Spuren des Lesers – so viele kritische Rücksichten – so manches, was dem Leser zukömmt und nicht dem Schriftsteller. Gedankenstriche – großgedruckte Worte – herausgehobne Stellen – alles dies  gehört in das Gebiet des Lesers. Der Leser setzt den Accent willkührlich – er macht eigentlich aus einem Buche, was er will.

Novalis

Welttag des Buches – Das Buch des Jahres

„Können Sie schwören, daß dies das weitestverbreitete Buch des Jahres ist?“
„Ohne Zweifel.“
„Können Sie behaupten, daß dies das Buch ist, das man gelesen haben muß?“
„Unbedingt.“
„Ist das Buch auch wirklich gut?“
„Was für eine gänzlich überflüssige und unstatthafte Frage!“
„Ich danke Ihnen recht sehr“, sagte ich kaltblütig, ließ das Buch, das die absolut weiteste Verbreitung gefunden hatte, weil man es unbedingt gelesen haben mußte, lieber ruhig liegen, wo es lag, und entfernte mich geräuschlos, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren. „Ungebildeter und unwissender Mensch!“ rief mir freilich der Verkäufer in seinem berechtigten, tiefen Verdruß nach. Ich ließ ihn jedoch reden und ging gemächlich weiter, und zwar, wie ich sogleich auseinandersetzen und verständlich machen werde, direkt in die nächstgelegene imposante Bankanstalt.

Robert Walser:
Der Spaziergang