Allen Lesern ins Stammbuch (102)

Viele sogenannte berühmte Schriftsteller, in Deutschland wenigstens, sind sehr wenig bedeutende Menschen in Gesellschaft. Es sind bloß ihre Bücher, die Achtung verdienen, nicht sie selbst. Denn sie sind meistens sehr wenig wirklich. Sie müssen sich immer erst durch Nachschlagen zu etwas machen, und dann ist es immer wieder das Papier, das sie geschrieben haben. Sie sind elende Ratgeber und seichte Lehrer dem, der sie befragt.

Georg Christoph Lichtenberg
Sudelbücher (K 192)

Allen Lesern ins Stammbuch (101)

Im Bücherschrank standen die Klassiker. Schiller, Göthe, Wieland, Shakespeare. Die kannte ich ja längst, und sie hatten mir doch nicht geholfen. Ach Gott, ich hatte die Klassiker gelesen, wie früher die Räuberromane, eilfertig, eilfertig, nur das Stoffliche verschlingend.

Im Bücherschrank, in alten, ehrwürdigen Einbänden, standen auch Herder und Lessing. Mit Herder war nichts anzufangen. Schon nach den ersten Seiten schweiften meine Gedanken abseits; für den war ich wohl noch nicht reif. Also Lessing, aber nicht etwa Emilia Galotti oder Minna Barnhelm, nein, etwas Lehrreiches. Der Laokoon, der sollte ja sehr tief und sehr bildend sein. Ich las ihn mit concentrirter Aufmerksamkeit, Satz für Satz, ich machte mir Auszüge. Meine Mutter kam einmal dazu. Ich hätte mich nicht sonderlich gegrämt, wenn sie, wie vor Jahren die Veronika, diesmal den Laokoon conficirt hätte. Ich wagte nicht mir zu gestehen, daß ich ihn langweilig fand. Von Kunst hatte ich nicht den leisesten Schimmer. Ich war noch nicht einmal im Museum gewesen.

Hedwig Dohm:
Schicksale einer Seele

Allen Lesern ins Stammbuch (99)

Der Bücherfreund

Ob ich Biblio- was bin?
Phile? »Freund von Büchern« meinen Sie?
Na, und ob ich das bin!
Ha! und wie!

Mir sind Bücher, was den andern Leuten
Weiber, Tanz, Gesellschaft, Kartenspiel,
Turnsport, Wein, und weiß ich was, bedeuten.
Meine Bücher – – – wie beliebt? Wieviel?

Was, zum Henker, kümmert mich die Zahl.
Bitte, doch mich auszureden lassen.
Jedenfalls: viel mehr, als mein Regal
Halb imstande ist zu fassen.

Unterhaltung? Ja, bei Gott, das geben
Sie mir reichlich. Morgens zwölfmal nur
Nüchtern zwanzig Brockhausbände heben – – –
Hei! das gibt den Muskeln die Latur.

Oh, ich mußte meine Bücherei,
Wenn ich je verreiste, stets vermissen.
Ob ein Stuhl zu hoch, zu niedrig sei,
Sechzig Bücher sind wie sechzig Kissen.

Ja natürlich auch vom künstlerischen
Standpunkt. Denn ich weiß die Rücken
So nach Gold und Lederton zu mischen,
Daß sie wie ein Bild die Stube schmücken.

Äußerlich? Mein Bester, Sie vergessen
Meine ungeheure Leidenschaft,
Pflanzen fürs Herbarium zu pressen.
Bücher lasten, Bücher haben Kraft.

Junger Freund, Sie sind recht unerfahren,
Und Sie fragen etwas reichlich frei.
Auch bei andern Menschen als Barbaren
Gehen schließlich Bücher mal entzwei.

Wie? – ich jemals auch in Büchern lese??
Oh, Sie unerhörter Ese – – –
Nein, pardon! – Doch positus, ich säße
Auf dem Lokus, und Sie harrten
Draußen meiner Rückkehr, ach dann nur
Ja nicht länger auf mich warten.
Denn der Lokus ist bei mir ein Garten,
Den man abseits ohne Zeit und Uhr
Düngt und erntet dann Literatur.

Bücher – Nein, ich bitte Sie inständig:
Nicht mehr fragen! Laß dich doch belehren!
Bücher, auch wenn sie nicht eigenhändig
Handsigniert sind, soll man hoch verehren.
Bücher werden, wenn man will, lebendig.
Über Bücher kann man ganz befehlen.
Und wer Bücher kauft, der kauft sich Seelen,
Und die Seelen können sich nicht wehren.

Joachim Ringelnatz

Allen Lesern ins Stammbuch (98)

[…] möglicherweise sucht sich die Sprache die Schriftsteller aus, derer sie bedarf, sie bedient sich ihrer, damit diese einen kleinen Teil dessen ausdrücken, was sie ist, wenn die Sprache alles gesagt hat und schweigt, dann möchte ich doch mal wissen, wie wir leben würden.

José Saramago
Das Todesjahr des Ricardo Reis

Aus gegebenem Anlass (XXIII) – Bloomsday

Er trug ein langes ärmelloses Gewand aus jüngst erst abgezogener Ochsenhaut, welches als loser Kilt ihm bis auf die Knie reichte, und ward dasselbe um seine Mitte gehalten von einem Gürtel aus geflochtenem Stroh und Binsen. Darunter trug er Hochländerhosen aus Hirschleder, gar roh mit Darm genähet. Seine untern Extremitäten waren von hohen Balbriggan-Halbstiefeln umschlossen, gefärbt in Flechtenpurpur, und seine Füße mit groben Stiefeln beschuht aus gepökelter Kuhhaut, welche mit der Luftröhre desselben Tieres geschnürt waren. Von seinem Gürtel hing eine Kette aus Kieseln, welche bei jeder Bewegung seiner unheilkündenden Gestalt zusammenschlugen, und es waren eingegraben auf ihnen mit roher, doch überraschender Kunst die Stammeszeichen vieler irischer Helden und Heldinnen des Altertums, Cuchulin, Conn von hundert Schlachten, Niall von den neun Geiseln, Brian von Kincora, Der Ardri Malachi, Art MacMurragh, Shane O’Neill, Pater John Murphy, Owen Roe, Patrick Sarsfield, Red Hugh O’Donnell, Red Jim MacDermott, Soggarth Eoghan O’Growney, Michael Dwyer, Francy Higgins, Henry Joy M’Cracken, Goliath, Horace Wheatley, Thomas Conneff, Peg Woffington, Der Dorf-Schmied, Captain Moonlight, Captain Boycott, Dante Alighieri, Christoph Columbus, St. Fursa, St. Brendan, Marschall MacMahon, Karl der Große, Theobald Wolfe Tone, Die Mutter der Makkabäer, Der Letzte Mohikaner, Die Rose von Kastilien, Der Mann für Galway, Der Mann der die Bank von Monte Carlo sprengte, Der Mann in der Bresche, Die Frau die es nicht tat, Benjamin Franklin, Napoleon Bonaparte, John L. Sullivan, Cleopatra, Savourneen Deelish, Julius Caesar, Paracelsus, Sir Thomas Lipton, Wilhelm Tell, Michelangelo, Hayes, Mohammed, Die Braut von Lammermoor, Peter der Einsiedler, Peter der Packer, Dunkel Rosaleen, Patrick W. Shakespeare, Brian Confuzius, Murtagh Gutenberg, Patricio Velasquez, Kapitän Nemo, Tristan und Isolde, Der erste Prince of Wales, Thomas Cook und Sohn, Der Junge Tapfere Soldat, Arrah na Pogue, Dick Turpin, Ludwig Beethoven, Die Colleen Bawn, Waddler Healy, Angus der Kuldeer, Dolly Mount, Sidney Parade, Ben Howth, Valentine Greatrakes, Adam und Eva, Arthur Wellesley, Boss Croker, Herodot, Jack der Riesentöter, Gautama Buddha, Lady Godiva, Die Lilie von Killarney, Balor mit dem Bösen Blick, Die Königin von Saba, Acky Nagle, Joe Nagle, Alessandro Volta, Jeremiah O’Donovan Rossa, Don Philip O’Sullivan Beare. Ein hingestreckter Speer aus gespitztem Granit ruhte neben ihm, indessen zu seinen Füßen ein wildes Tier aus der Rasse der Hunde lag, dessen schnarchende Atemzüge verkündeten, daß es in unruhigen Schlaf gesunken sei, eine Vermutung, bestätigt von heiserem Grollen und krampfartigen Bewegungen, welche sein Herr von Zeit zu Zeit vermittels besänftigender Schläge mit einer mächtigen, roh aus paläolithischem Gestein gefertigten Keule unterdrückte.

James Joyce
Ulysses

Allen Lesern ins Stammbuch (97)

 Ihr Deutsche kommt mir vor wie jener Mathematiker, der, nachdem er Glucks »Iphigenia in Tauris« gehört hatte, den entzückten Nachbar sanft auf die Achsel klopfte und lächelnd fragte: »Aber was ist dadurch nun bewiesen?« – Alles soll noch außer dem, was es ist, was anderes bedeuten, alles soll zu einem außerhalb liegenden Zweck führen, den man gleich vor Augen hat, ja selbst jede Lust soll zu etwas anderm werden, als zur Lust und so noch irgendeinem andern leiblichen oder moralischen Nutzen dienen, damit nach der alten Küchenregel immer das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden bleibe.

E. T. A. Hoffmann
Nachricht von den neuesten Schicksalen
des Hundes Berganza

Aus gegebenem Anlass (XXII) – Auf dem Weg in die Zukunft

Und jeder Führung ledig, rollte und rollte die Lokomotive unablässig dahin. Endlich konnte die Störrische, die Wunderliche dem Feuer ihrer Jugend nachgeben wie eine noch ungezähmte Stute, die den Händen des Hüters entkommen war und über das flache Land galoppierte. Der Kessel war mit Wasser versehen, die Kohle, mit der die Feuerbüchse gerade aufgefüllt worden war, geriet in Brand; und während der ersten halben Stunde stieg der Druck toll an, wurde die Geschwindigkeit erschreckend. Ohne Zweifel war der Oberzugführer vor Müdigkeit eingeschlafen. Die Soldaten, die noch betrunkener wurden, weil sie so zusammengepfercht waren, gerieten plötzlich in fröhliche Stimmung über diese ungestüme Fahrt und sangen lauter. Maromme wurde wie in einem Blitz durchfahren. Beim Herannahen der Signale, bei der Durchfahrt durch die Bahnhöfe ertönten keine Pfeifsignale mehr. Es war ein Geradeausgalopp, das Tier, das mit gesenktem und stummem Kopf zwischen den Hindernissen dahinschoß. Es rollte und rollte ohne Ende, durch den gellenden Lärm seines Atems gleichsam immer wahnwitziger gemacht.

In Rouen sollte Wasser genommen werden; und Entsetzen ließ den Bahnhof zu Eis erstarren, als man diesen wahnsinnigen Zug, diese Lokomotive ohne Führer und Heizer, diese Viehwagen, die mit pa­trio­tische Kehrreime brüllenden Muschkoten angefüllt waren, in einem Taumel aus Rauch und Flammen vorüberrasen sah. Sie zogen in den Krieg, und sie wollten schnellstens dort unten an den Ufern des Rheines sein. Die Bahnangestellten waren mit aufgerissenem Mund und mit fuchtelnden Armen stehengeblieben. Sofort ertönte der allgemeine Schrei: Niemals würde dieser zügellose, sich selbst überlassene Zug ungehemmt den Bahnhof von Sotteville durchfahren, der wie alle großen Bahn­be­triebs­wer­ke stets durch Rangierfahrten versperrt, mit Wagen und Lokomotiven verstopft war. Und man stürzte zum Telegraphen, man warnte. Dort konnte gerade ein Güterzug, der das Gleis besetzte, in einen Schuppen zurückgedrückt werden. Schon war in der Ferne das Rollen des entlaufenen Ungeheuers zu hören. Es war in die beiden Tunnel hin­ein­ge­stürmt, die bis nahe an Rouen heranreichen, es kam mit seinem wütenden Galopp heran wie eine ungeheure und unwiderstehliche Gewalt, die nichts mehr aufzuhalten vermochte. Und der Bahnhof von Sotteville wurde ohne Halt durchrast, es sauste mitten durch die Hindernisse, ohne irgendwo hängenzubleiben, es tauchte wieder in der Finsternis unter, in der sein Grollen nach und nach erlosch.

Aber jetzt läuteten alle Telegraphenapparate der Strecke, alle Herzen klopften bei der Nachricht von dem Geisterzug, den man soeben in Rouen und Sotteville hatte vorüberbrausen sehen. Man zitterte vor Angst: ein voraus befindlicher Schnellzug würde sicherlich eingeholt werden. Er aber, wie ein Keiler im Hochwald, setzte seinen Lauf fort, ohne auf die roten Signallichter oder die Knallkapseln zu achten. In Oissel wäre er beinahe an einer Rangierlokomotive zerschellt; Pont-de-lArche setzte er in Schrecken, denn seine Geschwindigkeit schien sich nicht zu verringern. Von neuem verschwunden, rollte und rollte er in die schwarze Nacht hinein, man wußte nicht wohin.

Was lag schon an den Opfern, die die Lokomotive unterwegs zermalmte! Fuhr sie nicht trotz allem der Zukunft entgegen, unbekümmert um das vergossene Blut? Ohne Führer inmitten der Finsternis, wie ein blindes und taubes Tier, das man in den Tod rennen ließ, rollte und rollte sie dahin, beladen mit jenem Kanonenfutter, jenen Soldaten, die schon stumpfsinnig vor Müdigkeit und betrunken waren und die sangen.

Émile Zola
Das Tier im Menschen

Allen Lesern ins Stammbuch (96)

In seiner schwarzen Seele spiegelten sich alle Menschen pech­ra­ben­schwarz. Denn die Welt ist nur ein Spiegel: Was hereinschaut, schaut heraus. In Folge dessen brachte er das Kunststück fertig, sich in einer Welt von Schurken, die er sich ausmalte, als verfolgter Biedermann zu fühlen. Diese Schwäche und Beschränktheit des Menschen beschränkte auch seine Begabung. Wo er wild, trotzig, grimmig und vor allem, wo er boshaft die Feder schwang, war er groß. Dann brach eine elementare Urgewalt in seinen Schöpfungen hervor. Wo er hingegen pausbäckigen Humor pflegen wollte, wirkte er unbedeutend; wo er gar in gerührter Menschenfreundlichkeit schwelgte, wirkte er theils läppisch theils für den tieferen Beobachter widerlich durch verlogene Sentimentalität.

Diese mittelmäßigen Mißgeburten hielt er dann natürlich für seine besten Erzeugnisse, und die unreife Presse, welche seine wirklich bedeutenden Bücher weder las noch verstand, ermuthigte ihn noch in diesem Irrwahn. Man munterte ihn auf, sich zum Idealismus emporzuranken und die Bahnen des greulichen Zola zu fliehen.

Karl Bleibtreu
Größenwahn

Welttag des Buches – Paradies

Da war einmal ein Königssohn, niemand hatte so viele und so schöne Bücher als er; alles, was in dieser Welt geschehen, konnte er darin lesen und die Abbildungen in prächtigen Bildern bewundern. Von jedem Volke und jedem Lande konnte er Auskunft erhalten, aber wo der Garten des Paradieses zu finden sei, davon stand kein Wort darin, und der gerade war es, an den er am meisten dachte.

Hans Christian Andersen
Der Garten des Paradieses