Marius Fränzel
Die Schachstellen bei Arno Schmidt
Ein kommentierendes Verzeichnis
Vorbemerkung
Das nachfolgende Verzeichnis erhebt nicht den Anspruch, alle Textstellen
bei Arno Schmidt zu erfassen, an denen das Wort Schach einzeln oder in
Kombination mit anderen vorkommt. Weder wird Schach Gebal
angeführt, noch Schachbrettlandschaften oder
schachbrettförmig, noch gar die bei Schmidt häufig
vorkommenden Schachteln. Angeführt werden nur solche Stellen, an
denen sich mehr oder weniger sinnvoll ein schachlich orientierter Kommentar
anbringen läßt. Halbfett gesetzter Text stammt von
Arno Schmidt und wird, so nicht anders angegeben, nach der CD-ROM-Ausgabe der
Bargfelder Ausgabe unter Angabe von Werkgruppe, Band und Seite bzw. nur der
Seitenzahl in eckigen Klammern zitiert. Zettels Traum wird
einstweilen noch nach der mit der Erstausgabe seiten- und zeilenidentischen 3.
Auflage zitiert. Dabei können insbesondere die Zeichensetzung und die
typographische Gestalt von den gedruckten Ausgaben abweichen, die bei
Übernahme von Zitaten als eigentliche Referenz herangezogen werden
müssen. Bei Wiederholungen des Textes im Kommentarteil,
kann der Text syntaktisch oder grammatikalisch verändert
erscheinen. Auslassungen werden grundsätzlich mit [
] markiert.
Für alle gezeigten Diagramme gilt, daß Weiß von unten nach oben,
Schwarz dementsprechend von oben nach unten spielt. Die senkrechten Linien sind
von links nach rechts mit a bis h bezeichnet, die waagerechten Reihen von unten
nach oben mit 1 bis 8. Die Züge setzen sich in der Regel aus einem
Großbuchstaben, einem Kleinbuchstaben und einer Ziffer zusammen und
bezeichnen die gezogene Figur (K: König; D: Dame; T: Turm; L: Läufer;
S: Springer; ohne Großbuchstaben: Bauernzug) und das Feld, auf das die
Figur gezogen wird. Können zwei Figuren der gleichen Art und Farbe auf ein
bestimmtes Feld ziehen gibt ein zusätzlicher Kleinbuchstabe bzw. eine
zusätzliche Ziffer die Linie oder Reihe auf der die Figur vor dem Zug stand.
Ein x zeigt an, daß auf dem angegebenen Feld eine gegnerische Figur
geschlagen wird. Direkt nach einer Ziffer zur Bezeichnung der Zugnummer folgt
immer ein weißer Zug, dann ein schwarzer Zug. Zieht Schwarz in einer
Stellung an, ist der Zug mit einer Ziffer und
gekennzeichnet. Zum
Beispiel:
1.e4 (Weiß bewegt den Bauern vor seinem König zwei Felder
vorwärts.)
1
d5 (Schwarz bewegt seinen Bauern nach d5.)
2.exd5 Sf6 (Weiß schlägt mit seinem e-Bauern auf d5; Schwarz zieht
seinen Springer nach f6.)
Anmerkungen, Korrekturen oder Ergänzungen sind gerne willkommen; schreiben
Sie mir einfach eine Mail. Allen,
die zu dieser Seite beitragen werden oder bereits beigetragen haben, sei herzlich
gedankt!
Einleitung
Doch einen wollen wir nicht vergessen:
Schmidt. Unbesiegt im Schachspiel und im Fressen.
Natürlich erscheint es dem ersten Nachdenken als ein merkwürdiges
Projekt, gerade die Schachstellen im Werk Arno Schmidts zu dokumentieren und zu
kommentieren: Gibt es nichts Wichtigeres in diesem doch umfangreichen uvre
aufzufinden und zu kommentieren als gerade Bemerkungen über das Schachspiel?
Sicherlich gibt es das, und es ist zu vermuten und zu hoffen, das all das
Wichtigere im Laufe der Zeit auch gesammelt und kommentiert werden wird. Viele
der Wirklichkeitsdetails in Schmidts daran so reichen Büchern sind schon
heute jungen Lesern nurmehr mittels einer Kommentierung zugänglich und
verständlich zu machen.
Zur Verteidigung des hier unternommenen und sicherlich gänzlich
unnützen Kommentars habe ich allein zwei Dinge anzuführen: Zum ersten,
daß es sich um ein seit langer Zeit oft scherzhaft erwähntes Projekt
handelt, die Schachstellen einmal aufzulisten und zu kommentieren. Als sich dann
die Notwendigkeit ergab, die ersten Gehversuche in HTML an irgendeinem konkreten
Fall durchzuführen, erschien mir ein Kommentar der Schachstellen bei Arno
Schmidt so gut wie irgendein anderer und immerhin noch besser als die allseits
beliebte Hello-World-Seite. Zum zweiten wird es auf lange Sicht ziemlich
gleichgültig sein, welche Motivgruppen in den Büchern Schmidts zuerst
und welche zuletzt kommentiert worden sind. Und da ich der Illusion unterliege,
zum Kommentieren der Motivgruppe der Schachstellen mindestens ebenso gut geeignet
zu sein, wie jeder beliebige andere Leser Arno Schmidts, so muß dies
Rechtfertigung genug sein für etwas, das als solches ja kaum von irgend
einem Belang ist und schon vor daher kaum einer Rechtfertigung bedarf.
Bereits die Sichtung des vorhandenen Materials macht deutlich, daß es sich
beim Motiv des Schachspiels zwar um ein Nebenmotiv des Werks handelt, aber um
eines, das mit großer Konstanz durch alle Werkbereiche und -phasen hindurch
auftaucht. Schmidts Selbstbeschreibung, er sei in seiner Zeit als als
kaufmännischer Volontär und Angestellter [
] dem
Schachspiel erregt zugetan gewesen, verweist auf die biographische Ursache
dieses Sachverhalts. Besonders die Stellen des Frühwerks machen deutlich,
daß Schmidt in jungen Jahren das Schachspiel als Kulturgut hoch
geschätzt und als der von ihm über alles verehrten Literatur beinahe
gleichrangig geachtet hat. Diese Hochschätzung läßt dann im Laufe
der Jahre nach, das Schachspiel sinkt bis zum wortlosen Künstlein
herab, verschwindet aber bis zum Ende nicht aus dem Denken und Schreiben des
Autors.
Nun sollte dies nicht überschätzt werden: Spätestens seit dem 18.
Jahrhundert gibt es eine Reihe von Autoren – von denen einige wie Heinse,
Jean Paul, Poe oder Carroll auch zu Schmidts Hausgöttern gehören
– in deren Werk das Schachspiel eine mehr oder weniger prominente Rolle
einnimmt. Schmidt nimmt in dieser Reihe weder als Verwender von Schachmotiven
noch als Spieler eine besondere Position ein, ja, er kann sich mit jemandem wie
etwa Vladimir Nabokov, der es auch als Komponist von Schachaufgaben zu einiger
Bekanntheit gebracht hat, kaum messen. Aber Schmidt ist eben doch ein Glied
dieser Kette schachspielender und -liebender Autoren und vielleicht nicht ihr
schwächstes.
Überraschend ist für denjenigen, der selbst aktiv Schach spielt,
Schmidts beinahe vollständige Ignoranz für die Entwicklung und die
Geschichte des Spiels im 20. Jahrhundert. Zwar erwähnt er häufig die
Eröffnung b2-b4, und einer seiner Protagonisten hat einst in einem Simultan
gegen Aljechin oder Bogoljubow gespielt, auch fallen die Namen Botwinnik und
Smyslow an einer Stelle, aber das ist auch beinahe schon alles, was sich vom
Schachleben zu Schmidts Lebenszeit in seinen Büchern wiederfinden
läßt. Einzig an einer Stelle von Das steinerne
Herz geht er auf die Entwicklung der sowjetischen Schachschule ein;
allerdings sind Schmidts Anmerkungen historisch schief und rein ideologischer
Natur. Darüber hinaus gibt keinen Hinweis, daß Schmidt auch nur die
Kämpfe um die Weltmeisterschaft aktiv mitverfolgt hätte, ja, der
skandalumwitterte Wettkampf im Jahr 1972 zwischen Boris Spassky und Robert
Fischer, in den Medien als Kampf der Systeme ausgeschrieen und jedes
Hinweises auf die fiktive Weltmeisterschaft in Schmidts Gelehrtenrepublik wert, wird mit keinem einzigen Wort
erwähnt. Fast scheint die Schachwelt des 19. Jahrhunderts in Schmidts Texten
lebendiger zu sein als die der Moderne.
Das Gesamtbild, das sich ergibt, kann ungefähr wie folgt umrissen werden:
Schmidt ist in jungen Jahren ein leidenschaftlicher Schachspieler, der vor dem
Zweiten Weltkrieg das Spiel mit einiger Ernsthaftigkeit betrieben hat. Erlernt
hat er das Spiel offenbar durch das Studium des weitverbreiteten Lehrbuch des
Schachspiels von Dufresne und Mieses. Wie weit er es im Spiel gebracht hat,
läßt sich nur vermuten, allerdings gibt es für seine Behauptung, er habe einmal den schlesischen Meister Gottlieb Machate
geschlagen, keine unterstützenden Indizien. Die Partien jedenfalls, die durch das
Tagebuch seiner Frau überliefert sind, lassen die dafür notwendige
Spielstärke nicht erkennen. Nach 1945 scheint Schmidt in Sachen Schach
hauptsächlich von seinem vor dem Krieg erworbenen Wissen zu zehren. Zwar
pflegt er mit seiner Frau weiterhin das häusliche Spiel, hat aber seine
frühere intensive Leidenschaft für das Spiel weitgehend verloren. Auch
war er wohl, um eine Wendung Uwe Johnsons zu gebrauchen, schon zu weit von
der Welt entfernt, um einen Menschen wenigstens bis zum gemeinsamen Schachspiel
zu befreunden.
Dennoch bleibt das Schachspiel ein wichtiges und immer präsentes Motivfeld,
das Schmidt überdurchschnittlich häufig benutzt. Einige der
wiederkehrenden Motive sind am Ende des
Einzelstellenkommentars zusammengefaßt und noch einmal im Zusammenhang
kommentiert.
Die Insel. – 1. Teil: Das Schloß in
Böhmen
[Niederschrift 1937; BA I/4, S. 185–222.]
-
Einmal hatte er den geheimnisvollen Brief auch gesehen: »Sir
John Cochrane, Kalkutta« stand darauf. Diese letzte bemerkung
interessierte mich aufs lebhafteste; Cochrane, ein name, der jedem
schachspieler geläufig war, wie das alphabet; [193]
-
Der Schotte John Cochrane (1798–1878) war einer der stärksten
Schachspieler seiner Zeit. Nach einer militärischen Karriere in der
englischen Marine – Cochrane war Leutnant zur See auf dem
Linienschiff Bellerophron, als dies Napoleon 1815 ins Exil nach St. Helena
brachte –, lebte er als Barrister in London. Im Jahr 1821 reiste er
zusammen mit William Lewis nach Paris und spielte dort eine Reihe von
Partien gegen Deschapelles und La Bourdonnais. Ein Jahr später
veröffentlichte er seinen Treatise on Chess. Er verließ
England 1824 und lebte und arbeitete mit einer Unterbrechung Anfang der
40er Jahre bis 1869 in Indien. Da die Handlung von Die Insel genau
100 Jahre vor der Niederschrift in das Jahr 1837 datiert, stimmt die
Anschrift auf dem Brief mit den historischen Tatsachen gut überein.
Cochrane ist weitgehend vergessen, auch wenn eine Variante des
Königsgambits heute noch nach ihm benannt ist.
Eine kleine Koinzidenz ergibt sich in Verbindung mit der ersten der beiden
Partien, die sich in
Alice Schmidts Tagebuch gefunden haben. Die Eröffnung dieser Partie
ist das Ghulam-Kassim-Gambit, eine Varianten des Königsgambits. Ghulam
Kassim aber ist der Co-Autor der wahrscheinlich ersten
Eröffnungsmonographie überhaupt, die 1829 in Madras
veröffentlicht wurde. Der zweite Co-Autor ist ein James Cochrane, der
öfter mit dem damals in Kalkutta lebenden John Cochrane verwechselt
wird.
Links:
http://snow.prohosting.com/~batgrrl/PGN/Cochrane.htm
http://www.ballo.de/Partien/zettel_49-54.htm
-
ich sebst hatte vor einigen Jahren einigemale dem, wie ich glaube,
auch jetzt noch besten spieler der welt, Charles de la Bourdonnais, in Paris
gegenübergesessen [
]. Zwar hatte ich viermal verloren, aber eine
partie doch unentschieden halten können; [193 f.]
-
Louis-Charles Mahé de La Bourdonnais (1797–1840) gilt
allgemein als der stärkste Spieler der 30er Jahre des 19.
Jahrhunderts. Seinen Lehrmeister Deschapelles besiegte er 1821 in einem
Wettkampf, und nach seinem Sieg im Zweikampf gegen Alexander MacDonnell im
Jahr 1834 (+44 -30 =14) galt er unangefochten als der beste Spieler
Europas. Im Jahr 1836 begründete La Bourdonnais in Paris die erste
Schachzeitung der Welt, Le Palamède, die unter seiner
Leitung bis 1839 erschien.
Der Ich-Erzähler zeigt sich hier von einer ungewöhnlichen
Bescheidenheit, wenn er einräumt, vier Partien gegen La Bourdonnais
verloren zu haben. Immerhin macht er seinen Rang als Spieler dadurch klar,
daß er vorgibt, eine Partie Remis gehalten zu haben. Wir werden von
den Schachkünsten des Erzählers noch genaueres erfahren.
-
Ich schritt zum grafen und bot ihm höflich einen guten abend, als
ich sah, dass er und der archivar ein schachbrett vor sich liegen hatten, auf
dem augenscheinlich ein endspiel aufgebaut war. [
] Ich setzte mich mit
gespieltem zögern dem archivar gegenüber und sah, während wir
die schönen grossen figuren aufstellten, wie der graf mich
tollkühnen belustigt, wenn auch kaum merkbar, anlächelte. Ich hatte
weiss gewählt, und also den ersten Zug zu tun. [199]
-
Die Konvention, daß Weiß die Partie beginnt, bestand
übrigens 1837 durchaus noch nicht, sondern es wurde damals ausgelost,
wer die Partie beginnt. Erst der Übergang von der beschreibenden zur
algebraischen Notation machte eine größere Normierung in Sachen
Anzug und Aufstellung der Steine (die weißen Steine stehen zu Anfang
auf den Feldern der 1. und 2. Reihe, die schwarzen auf denen der 7. und 8.)
sinnvoll.
Die nun im Text folgende Partie wurde 1841 in London zwischen John Cochrane (s.o.) und
George Walker gespielt. Schmidt hat diese Partie aus dem Lehrbuch des
Schachspiels von Dufresne und Mieses gekannt, das überhaupt die
Hauptquelle seiner Schachkenntnisse zu sein scheint. Diese Partie
läßt sich bis zur 7. Aufl. des Lehrbuchs von 1901
zurückverfolgen, der ersten Auflage, die Jacques Mieses betreut hat.
Die Herkunft aus dieser Quelle läßt sich einigermaßen
dadurch sichern, daß Schmidts Kommentar zum 11. Zug von Schwarz
– Das war nicht sein bester zug; ich hätte Lf8 –
c5 für eine stärkere spielweise gehalten – eine
Paraphrase desselben Kommentars aus dem Lehrbuch ist. (Die
Auflage, die Schmidt am wahrscheinlichsten wird in seiner
Vorkriegsbibliothek besessen hat, dürfte die 11. Aufl. von 1926
gewesen sein. In seiner Nachlaßbibliothek findet sich die 18. Aufl.
von 1950, die die verlorene Vorkriegsausgabe ersetzt hat [Bibliotheksverz. 968.1].)
Die 11. Aufl. des Lehrbuchs gibt zu dieser Partie übrigens
über die Spielernamen hinaus keine weiteren Daten an. Es mag also
sein, daß Schmidt bei der Niederschrift der Insel nicht
gewußt hat, daß die reale Vorlage erst vier Jahre nach der
fiktiven Partie auf Schloß Friedland gespielt wurde. Es wäre
sonst von besonderer Bosheit, daß Cochrane, mit dem der Hausherr ja
in brieflichem Kontakt steht, nur die Idee des Erzählers kopiert. Aber
– wie gesagt – diese Pointe könnte sich eher zufällig
ergeben haben.
-
Diese Eröffnung, wurde erst einige jahre später genauer
untersucht, anlässlich einiger wettkämpfe zwischen den
schachgesellschaften von London und Edinburgh; ich hatte sie jedoch
öfters mit bourdonnais durchgesprochen und kannte ihre varianten ziemlich
gut. [200]
-
Diese Bemerkung bezieht sich auf die oben angeführte Partie, spricht
also von der angewendeten Schottischen Eröffnung. Nun sind
Formulierungen wie wurde erst einige jahre später genauer
untersucht unbestimmt genug, um einen weiten Raum für
Interpretationen zuzulassen. Das schon oben angeführte Lehrbuch
des Schachspiels [11. Aufl., 1926] schreibt dazu richtig:
Diese Eröffnung [
] verdankt ihren Namen einigen so beginnenden,
zwischen den Schachgesellschaften von Edinburgh und
London im Jahre 1824 gespielten Korrespondenzpartien, in denen das
Spiel der Schotten durch Schönheit und Gedankentiefe sich
auszeichnete.
Hier scheint sich der Erzähler also gründlich zu irren. Es war
übrigens John Cochrane, der 1824 noch vor seiner Abreise nach Indien
die Edinburgher Schachfreunde veranlaßte, die Schottische
Eröffnung für den Wettkampf zu wählen. Wahrscheinlicher
wäre es daher, daß der Erzähler diese Eröffnung bei
seinen Partien gegen La Bourdonnais kennengelernt hätte, der sie
wiederum 1821 beim Wettkampf mit John Cochrane gesehen haben würde.
Dichtergespräche im Elysium – 10. Gespräch.
Ein Zwischenspiel
[Niederschrift 1940/41; BA I/4, S. 289–292.]
-
HERODOT: Gut, daß ihr die Universität erwähnt. Es sind
diesen Winter wieder überaus treffliche Kollege zu hören; ich habe
mich schon beim Morphy eingeschrieben. [291]
-
Paul Morphy (1837–1884) gilt nicht nur als der beste Schachspieler
des 19. Jahrhunderts, sondern als einer der besten Schachspieler
überhaupt. Morphy wurde in New Orleans geboren und erlernte das
Schachspiel im Alter von 10 Jahren von seinem Vater und seinem Onkel, die
beide begeisterte Schachspieler waren. Morphy entpuppte sich als das erste
Schach-Wunderkind, von dem die Welt weiß: Innerhalb von zwei Jahren
entwickelte sich sein schachliches Talent so weit, daß ihm kein
lokaler Spieler mehr gewachsen war. 1850 schlug er den ungarischen, in
Amerika lebenden Berufsschachspieler Löwenthal in drei Partien
hintereinander; Morphy muß bereits zu diesem Zeitpunkt als ein
Meisterspieler betrachtet werden. Nach dem erfolgreichen Abschluß
eines Jura-Studiums widmete sich Morphy eine kurze Zeit lang
ausschließlich dem Schachspiel: 1857 gewinnt er die amerikanische
Schachmeisterschaft in New York und deklassierte dabei unter anderem mit
Louis Paulsen einen der besten Spieler der Zeit. Im Juni 1858 begibt sich
Morphy nach Europa, zuerst nach England, um sich mit dem damals besten
englischen Spieler Howard Staunton zu messen, der einem Wettkampf aber
sorgsam auswich, dann nach Paris, wo er im Dezember 1858 dem aus Breslau
stammenden Adolf Anderssen, der nach seinem Sieg im Londoner Turnier von
1851 als bester europäischer Schachspieler galt, eine deutliche
Niederlage zufügte (+7 -2 =2). Anderssen räumte die klare
Überlegenheit seines Gegners unumwunden ein: Der Mann spielt wie
von einer anderen Welt.
Nach seiner triumphalen Rückkehr nach Amerika versucht Morphy als
Anwalt Fuß zu fassen, was ihm aber offenbar nicht gelingen will. Er
verfällt in Depressionen, zieht sich immer mehr aus dem
öffentlichen Leben zurück. Nach seinem Wettkampf gegen Anderssen
hat Morphy kein Turnierschach mehr gespielt, ja er hat mit den Jahren wohl
eine Abneigung gegen das Spiel entwicklelt. Sein glänzender Aufstieg
und der sich anschließende vollständige Rückzug vom Spiel
und schließlich vom gesellschaftlichen Leben überhaupt, haben
einen Morphy-Mythos hervorgebracht, der bis heute nachwirkt.
In Arno Schmidts Nachlaßbibliothek findet sich als einziges
Schachbuch neben dem Lehrbuch von Dufresne und Mieses die
Morphy-Monographie von Geza Maróczy: Paul Morphy. Sammlung der
von ihm gespielten Partien mit ausführlichen Erläuterungen.
Berlin: de Gruyter. Reprint der Ausg. von 1909. [Bibliotheksverz. 968.2]
Zwei Dinge erscheinen an Morphys Anwesenheit im Schmidtschen Elysium
bemerkenswert:
Zum einen, daß sich Morphy überhaupt im Elysium befindet:
Mußte bei Schopenhauer dessen Anwesenheit noch besonders damit
begründet werden, daß er ja auch Gedichte verfaßt habe
– POE: [
] du solltest dich freuen, daß du, wenn
auch nur in deiner Jugend, Gedichte schriebst: das rettete dich hierher!
(lächelnd) Selbst wenn du auch Harz und schwarz aufeinander
reimtest [I/4, 242] –, entfällt eine solche
Begründung bei Morphy schlicht. Offenbar sieht Schmidt zu dieser Zeit
das Schachspiel als eine für das Elysium qualifizierende Kunstform an.
Zum anderen ist bemerkenswert, daß sich Morphy im Elysium offenbar
wieder dem Schachspiel zugewandt hat, obwohl er in den späteren Jahren
seines Lebens eine offensichtliche Abneigung dagegen entwickelt hatte. Dies
ist nur dann wirklich bemerkenswert, wenn wir voraussetzen, daß
Schmidt einige Kenntnis des Lebens von Paul Morphy besaß, was nicht
ohne weiteres getan werden kann. Sollte Schmidt allerdings den
Morphy-Mythos gekannt haben, so könnte – ich betone: könnte
– Morphy ein Beispiel für einen Künstler sein, der an der
Realität zerbricht, im Elysium aber geheilt wird, weil er sich dort
unter seinesgleichen befindet.
-
FISCHART: Ich
weiß; über die skandinavische Eröffnung, für die
Jugend an abschreckenden Beispielen erläutert – Ich
weiß noch nicht, ob ich hingehe, ich habe doch erst von Philidor
Schachspielen gelernt. Ob ich da mitkomme? [291]
-
Bei der Skandinavischen Eröffnung oder besser: Skandinavischen
Verteidigung handelt es sich um die Züge 1.e4 d5. Sie steht bei den
allermeisten Schachspieler in keinem guten Ruf und kommt in der
Turnierpraxis seltener vor. Allerdings gibt es auch für diese
Eröffnung Spieler, die ihre Vorteile theoretisch zu demonstrieren und
in der Praxis zu beweisen versuchen. So macht sich etwa der deutsche
Großmeister Matthias Wahls seit vielen Jahren für Skandinavisch
stark, das er als eine vollwertige Alternative zu den gebräuchlicheren
Antworten auf 1.e4 ansieht. Der ironisch schillernde Titel von Morphys
Kolleg könnte eine Anspielung auf den Kurzsieg sein, den Morphy
1858 in Paris gegen Anderssens Skandinavische Verteidigung erzielte.
François André Danican
Philidor (1726–1795) gilt als bedeutendster Meister des 18.
Jahrhunderts. Sein Buch L’Analyse du jeu des Echecs (1749)
wird heute als wichtiger Schritt auf dem Weg zum modernen, positionellen
Schach gewertet. Philidor war der erste Theoretiker, der die Bedeutung der
Bauernstruktur für die Stellungsbewertung erkannte. Seine Einsicht
Die Bauern sind die Seele des Schachspiels wurde eigentlich
erst 100 Jahre später von Steinitz völlig verstanden und
weiterentwickelt. Philidors Anwesenheit im Elysium ist natürlich
allein schon durch seine Tätigkeit als Opernkomponist begründet.
Mag sein, daß er sich für die Aufnahme Morphys stark gemacht
hat.
-
MARCO POLO: 140 Jahre erst? Ts, ts
– wenig! Aber versucht es nur; es ist zu interessant. Vor 3 Jahren hatte
er mit Poe einen scharfen Zusammenstoß, der dahin ging, ob man, wenn
einem nur die Züge des Weißen gegeben sind, die des Schwarzen, also
das ganze Spiel, finden kann. Es dauerte eine ganze Zeit, bis wir nur die
ungeheuerlichen Schwierigkeiten begriffen hatten; aber Poe hat’s
gemacht. Sogar Morphy hat gestaunt, obwohl er natürlich besser
spielt. [291]
-
Die 140 Jahre beziehen sich auf die Ankunft Philidors im
Elysium nach seinem Tod 1795; das elysische Gespräch, dem wir hier
folgen, findet also 1935 oder wenig später statt.
Edgar Allan Poe hegte, wenn wir seinen Schriften
glauben dürfen, zu Lebzeiten keine besondere Vorliebe für das
Schachspiel. Im einleitenden Teil seiner Erzählung The Murders in
the Rue Morgue zieht er das Kartenspiel Whist dem Schach bei weitem
vor: Whist has long been known for its influence upon what is termed
the calculating power; and men of the highest order of intellect have been
known to take an apparently unaccountable delight in it, while eschewing
chess as frivolous. Er vertritt die Auffassung, das Schachspiel
beruhe nur auf Berechnung, aber nicht auf Analyse, die als
Geistestätigkeit weit höher anzusetzen sei. Die unterschiedlichen
und bizarren‘ Gangarten der Figuren und daraus folgend ihr
unterschiedlicher Wert erzeuge das Mißverständnis: what is
only complex, is mistaken (a not unusual error) for what is profound.
Letztlich beruhe ein Sieg nur auf Konzentration, nicht auf der
Fähigkeit, genau zu analysieren: in nine cases out of ten, it is
the more concentrative rather than the more acute player who
conquers. Selbst das Damespiel zieht er dem Schach deutlich vor, weil
hier die unterschiedliche Gangart der Steine nicht vorhanden ist. The
best chess-player in Christendom may be little more than the best player of
chess. Diese mangelnde Wertschätzung des Schachspiels
dürfte Schmidt durchaus bekannt gewesen sein, als er die
Dichtergespräche im Elysium schrieb.
Der Gegenstand des Streits zwischen Poe und Morphy gehört zu den in
den Werken Schmidts immer wieder auftauchenden Schach-Motiven (eine
Sammlung übergreifender Motive findet sich am Ende
dieses Einzelstellenkommentars). Die Aufgabe, allein aus den Zügen der
weißen Steine eine vollständige Partie zu rekonstruieren, ist
allerdings von ungeheuerlicher Schwierigkeit. Doch braucht
es wohl nicht sehr viel Einsicht in das Schachspiel, um dies zu begreifen.
Diese Frage ist eng verbunden mit einer anderen, die die Schachspieler
späetstens seit dem 20. Jahrhundert beschäftigt: Gibt es einen
notwendigen Ausgang einer Schachpartie, d.h.: genügt der Anzugvorteil
dem Weißen, um die Partie notwendig zu gewinnen, oder gibt es einen
objektiven Ausgleich, der bei bestem Spiel beiderseits die
Partie remis enden läßt. Schach ist, mathematisch gesprochen,
ein endliches Spiel: 32 Figuren können auf 64 Felder nur
eine endliche Anzahl von Stellungen erzeugen, von denen zudem ein
großer Teil illegal ist, d.h. in einer nach den Schach-Regeln aus der
Ausgangsstellung heraus gespielten Partie gar nicht vorkommen kann. Die
legalen Stellungen haben durch die Regeln für das Ziehen und Schlagen
der Figuren einen gesetzmäßigen Zusammenhang untereinander, so
daß sich wenigstens theoretisch der Sachverhalt ergibt, daß
sich sämtliche möglichen Endstellungen aus der Ausgangsstellung
auf genau beschreibbare Weise herleiten lassen. In einem Satz: Schach ist
grundsätzlich lösbar. Allerdings ist die Anzahl auch nur
der legalen möglichen Stellungen ungeheuerlich groß: Der
Mathematiker und Schach-Großmeister Dr. John Nunn hat eine
Abschätzung vorgenommen, die zu dem Ergebnis kommt, daß wenn man
in der Lage wäre, jeweils eine Schachstellung auf einem
Elementarteilchen zu speichern, es bei Anwendung von sinnvollen
Reduktionsverfahren theoretisch möglich wäre, die für die
Lösung des Spiels relevanten Stellungen in der Materie mehrerer
Galaxien abzuspeichern. Er gibt allerdings gleich selbst zu bedenken,
daß es wahrscheinlich den Widerstand von Umweltschützern
wachrufen würde, wenn man versuchte, Galaxien als Speichermedium
für Schachstellungen zu benützen.
Solche Überlegungen nützen dennoch: Seit einigen Jahren arbeiten
Programmierer an Datenbanken, die überschaubare Teilmengen dieser
Datenflut enthalten. Zur Zeit sind alle Fünfsteiner berechnet (alle
Stellungen mit den beiden Königen und drei zusätzlichen Steinen)
und einige Sechssteiner. Auf die Fünfsteiner-Datenbanken können
die leistungsfähigen, kommerziellen Schachprogramme heute problemlos
zugreifen. Diese Programm spielen also alle Stellungen mit fünf oder
weniger Figuren auf dem Brett wie Gott: Sie kennen zu jeder Stellung eine
absolute Bewertung (remis, gewonnen für Weiß bzw. Schwarz) und
den oder die richtigen Züge, um diese Bewertung zu realisieren. Bei
den Sechssteinern sind dabei Stellungen entdeckt worden, deren Realisierung
jede menschliche Vorstellungskraft übersteigt. In der scheinbar
einfachen Stellung oben (Schwarz am Zug) bedarf es eines Lavierens von
unvorstellbaren 166 Zügen, bis der weiße Bauer zum ersten Mal
gezogen werden kann, und insgesamt 254 Zügen, bis Weiß die
Stellung für sich entscheiden kann. Um es mit einem Satz von GM Dr.
Robert Hübner zu sagen: Viel zu schwierig ist das Schachspiel
für das kleine Menschenhirn.
Hieraus ergibt sich nun ein Rückschluß für das Problem, das
Edgar Poe im Elysium angeblich gelöst hat. Eine Lösung des
Problems, aus den weißen Zügen allein den kompletten
Spielverlauf einer Partie zu ermitteln, setzt eine Art des
Partieführung voraus, in der die Züge mit einer unausweichlichen
Notwendigkeit einander folgen. Eine solche unabweisbare Notwendigkeit liegt
dem Spiel aber nur auf einer sehr theoretischen Ebene zugrunde,
während die menschliche Praxis des Spiels ganz anderen
Gesetzen gehorcht. Nehmen wir ein einfaches Beispiel, ein
Schäfermatt: 1.e4 2.Lc4 3.Df3 4.Dxf7# – wie um alles in der Welt
sollte man in einer solchen Partie die schwarzen Züge
erschließen? Schwarz könnte etwa zuerst den h-Bauern zweimal
gezogen haben und dann den a-Bauern einmal; oder er hat die Züge e5,
Sc6, und d6 gespielt, und selbst dann wäre ihre Reihenfolge
vollständig unerfindlich.
Es soll hier nicht bestritten werden, daß es tatsächlich
einzelne Spielverläufe geben mag, die man aus den weißen
Züge allein erraten kann (um nicht von erschließen
zu sprechen), besonders wenn sich beide Spieler an bekannte
Eröffnungen und Pläne halten und die Partie nicht allzu lang ist.
Aber eine allgemeine Lösung auch nur für die Mehrzahl der Spiele
kann es nicht geben. Schon eher wäre es eine Aufgabe, überhaupt
einen Partieverlauf zu finden, dessen vollständige Beschreibung aus
den weißen Zügen allein mit Notwendigkeit folgen
würde.
Der junge Herr Siebold
[Niederschrift 1940/41; BA I/4, S. 303–358.]
-
Er hatte einst mit seinem Freunde Leubelfing in dessen angrenzendem
Garten – zum Türken – beim Schachzabelspiele gesessen, und
war mit ihm in einen scharfen Streit über eine wichtige Variante der
sogenannten spanischen Eröffnung geraten. Friedrich hatte
endlich ein Blatt aus seiner Brieftasche genommen, und auf der Rückseite
Zug für Zug niedergeschrieben und mit Beispielen am Brett verteidigt, bis
Leubelfing, obzwar nicht völlig gewonnen, doch allmählich von der
Spielbarkeit des Zuges überzeugt, nachgegeben hatte. [330]
-
Der Name des angrenzenden Gartens – zum Türken
– ist wahrscheinlich keine Anspielung auf den
Kempelenschen Schachautomaten, der wegen der Ausstaffierung der menschlichen Figur, die in ihrer
rechten Hand eine lange Pfeife hielt und mit der linken Hand die Züge
ausführte, allgemein den Namen Der Türke trägt.
Interessanterweise spielen Wolfgang von Kempelen (1734–1804) und
seine Schachmaschine bei Schmidt außerhalb von Zettel’s
Traum (und auch dort nur eine marginale) keinerlei Rolle, obwohl der
Türke von den 1770er Jahren bis zu seiner Zerstörung
1854 bei einem Brand in Philadelphia zu den prominentesten Automaten seiner
Zeit gehörte. Schon bald nach den ersten öffentlichen Auftritten
wurde natürlich zu Recht vermutet, daß sich im Inneren des
Automaten ein kleinwüchsiger Schachmeister befände, der die
Züge ausführe. Trotz dieser Enttarnung machte der
Türke großen Eindruck auf seine Zeitgenossen und
hinterließ im Werk E.T.A. Hoffmanns und Jean Pauls seine deutlichen
Spuren.
Nach von Kempelens Tod ging der Automat über eine Zwischenstation in
den Besitz des Schaustellers Johann Nepomuk Maelzel über, der sich
nach Vorführungen in London, Paris und Amsterdam mit dem
Türken schließlich 1826 nach den U.S.A. einschiffte.
Dort wird der Automat lange Jahre in Philadelphia und anderen Städten
der Ostküste bis hinunter nach Kuba gezeigt. Ebenso wie schon in
Europa erregt er auch hier großes Aufsehen. Edgar Allan Poe schreibt
in seiner umfangreichen Studie Maelzel’s Chess-Player:
Perhaps no exhibition of the kind has ever elicited so general
attention as the Chess-Player of Maelzel.
Trotz der Reflexe, die der Türke bei so zahlreichen
Schmidtschen Leib- und Magen-Autoren hinterlassen hat, und obwohl es sich
um einen schachspielenden Automaten handelt, scheint sich Schmidt
für dieses Phänomen nicht sonderlich interessiert zu haben.
Eigentlich schade
Links:
André Schulz: Der erste Schachcomputer war
keiner
Vorstellung eines Replikats des Türken
Siegfried Schönle: Das Schachspiel in den Schriften Jean
Pauls
Das altertümelnde Wort Schachzabelspiel verwendet
Schmidt nur in dieser einzigen Erzählung zweimal. Die Wortbildung ist
nicht ganz glücklich, weil das mittelhochdeutsche
schachzabel‘ im engeren Sinne das Schachbrett bezeichnet, im
weiteren Sinne aber auch das Spiel selbst, so daß es besser
hieße, die Freunde hätten beim Schachzabel“
gesessen.
Die spanische Eröffnung ist gekennzeichnet durch die
Züge 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 (vgl. Diagramm). Sie gehört wie etwa
auch die Italienische Eröffnung zu den alten Eröffnungssystemen,
die bereits in frühen Lehrbüchern auftauchen. Ihren Namen
verdankt sie ihrer prominenten Stellung im Libro del Axedrez
(1561) des Spaniers Ruy Lopez de Segura. Sie gilt als eine der
attraktivsten Eröffnungen für Weiß und erfreut sich, seit
es Aufzeichnungen gibt, bei Schachspielern aller Spielstärken
großer Beliebtheit.
Die Fremden.
[Niederschrift 1942; BA I/4, S. 497–575.]
-
Der Blinde neigte langsam den Kopf, erwiderte aber nichts, bis der
Andere, leicht verletzt durch das Schweigen, wie es schien, kurz vorschlug:
»Schach?« »Ja, aber bitte nur Eine heut,« sagte Flick,
»ich weiß nicht, ich bin an diesem Abend zerstreuter als sonst.
– Der zweite Frühling, den ich nicht sehen werde. Das ist –
– hart! – Die Linke –« unterbrach er sich
wählend, »– Schwarz? – also ganz stilecht –
Bitte!« Kauff, der unterdes die Figuren aufgestellt hatte, lehnte sich
ein wenig zurück, hob mit gespitzten Fingern die schlanke Hand, hielt sie
einen Augenblick über dem Brett und begann: »d2 – d4.«
Der Blinde lachte ein wenig spöttisch: »immer tricksy and twisted,
nur nicht den Königsbauern bewegen – aber wie Du willst.« Er
stützte den Kopf in die Hand und entgegnete: »d 7 – d
5.« [510 f.]
-
Das Blindspiel muß zu der Zeit, in der Die Fremden spielt
(aus der Stelle [I/4, 572, Zeile 39] geht hervor, daß es sich um das
Jahr 1787 handelt), als höchst ungewöhnlich angesehen werden. Als
Philidor (s.o.) 1734 zwei Blindpartien zugleich
spielte, galt das in Paris als eine unerhörte Sensation. Auch ist
gewöhnlich das Spiel eines Blinden kein Blindspiel im eigentlichen
Sinne: Der Blinde spielt heute auf einem separaten Schachbrett, auf dem die
Figuren ähnlich wie bei einem Reiseschachspiel mittels eines Zapfens
am unteren Ende in dafür vorgesehene Löcher auf den Feldern
plaziert werden. Die weißen Felder sind zur besseren Unterscheidung
leicht erhöht; auch die Figuren tragen Markierungen, die ihre Farbe
anzeigen. Blindenschachspiele werden aber überhaupt erst seit 1848
gefertigt [vgl. KARL. Das kulturelle Schachmagazin. Ausg. 2/2005.
S. 35]. Arno Schmidts Blinder spielt also ohne solch ein Hilfsmittel.
Blindspielen einer einzelnen Partie dürfte eine Fähigkeit sein,
über die heute nahezu alle Spieler von Meisterstärke und nicht
wenige schwächere verfügen. Allein die Lektüre von
Schachliteratur regt dazu an, die Züge nicht auf einem Brett
auszuführen, sondern sich im Kopf von Diagramm zu Diagramm zu
bewegen. Inzwischen gibt es mit den Melody Amber Turnieren in
Monaco einen jährlichen Wettbewerb, bei dem hochklassige Spieler im
Schnell- und Blindschach gegeneinander antreten.
Dieses Blindspiel ist bei Arno Schmidt in eine Passage eingearbeitet, die
den Protagonisten des Textes als möglichst eindrucksvolle
Geistesgröße präsentieren soll: Obwohl er seit zwei Jahren
blind ist, spielt er weiterhin auf Meisterniveau Schach (s.u.), kennt seine
Lieblingsbücher auswendig etc.
Warum die Eröffnung der Partie mit dem Damenbauern tricksy and
twisted sein soll, bleibt unkar. Der Gegenzug 1... d5 ist
jedenfalls die konventionellste Antwort der Damenbauerspiele.
-
So begann der Kampf – einer von Vielen – und war lang und
schwierig wie alle, denn beide spielten mit ungewöhnlicher Meisterschaft
und kannten sich genau; doch konnte Kauff, dessen Angriff
außerordentlich scharf erwidert wurde, heute nur mit großer
Mühe das Spiel halten, und nach zwei Stunden, als sie die Partie
abbrachen, hatte er bereits zwei Bauern verloren, und sah mit Schrecken einem
neuen Vorstoß auf dem rechten Flügel, wohin sein König
rochiert hatte, entgegen. Dennoch nahm er sich vor, die Stellung zu Haus
auf’s Sorgfältigste durchzuarbeiten, um nicht eine weitere Partie
in den Rückstand zu geraten; denn das Ergebnis dieses Jahres stand
bereits wie 23½ zu 20½. [511]
-
Etwas merkwürdig erscheint es schon, daß sich der Blinde
nach neun [510] Uhr nur Eine Partie
ausbittet, diese dann aber lang und schwierig wie alle und
nach zwei Stunden vertagt wird. Daß Partien sehr
langwierig sein konnten, war für das 18. Jahrhundert allerdings nicht
ungewöhnlich. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
begann man, die Bedenkzeit der Spieler zu begrenzen, zuerst mit Sanduhren,
später dann mit speziell enwickelten Schachuhren, die im Prinzip mit
den heutigen identisch sind: Zwei getrennte Uhrwerke sind so miteinander
verbunden, daß das Anhalten der einen Uhr die andere in Gang setzt.
Solche Uhren werden aber bis heute zumeist nur bei Turnierpartien oder
unter Vereinsspielern verwendet.
Die Betonung der ungewöhnlichen Meisterschaft beider
Spieler gehört zu dem oben schon erwähnten Versuch, den
Protagonisten als geistigen Übermenschen darzustellen. Dafür
mußte wohl die Unwahrscheinlichkeit in Kauf genommen werden, gleich
zwei unbekannte Meisterspieler auf dem engen Raum einer einzigen
Erzählung zu vereinen.
-
»So, Kauff!« sagte er verdrießlich, »na,
für diese Heldentat wünsche ich Ihnen alles Schlechte –
anstatt zuzuhören: denn Sie haben noch verwünscht viel zu lernen,
mein Lieber! – Kant und Schachspielen allein genügen noch nicht
– [529]
-
Die unmittelbare Verbindung von Kant und Schachspielen an
dieser Stelle (und in der Figur Kauffs) ist insoweit bemerkenswert, als das
Schachspielen – mit einer einzigen Ausnahme im Spätwerk –
von den Figuren Arno Schmidts stets hoch geschätzt wird, während
sich die Bewertung Kants mit den Jahren fundamental geändert hat:
»Einer bei uns liest immer Kant!« berichtete sie
ehrerbietig. »Dann muß er verrückt sein!« entschied
ich: »Du glaubst es nicht?!: Paß auf: ....« (und ich
machte sofort die alte Probe: welche Stelle steht im Kant, und was iss
Mist?: a.) Eine Einheit der Idee muß sogar als Bestimmungsgrund
a priori eines Naturgesetzes der Kausalität einer (gewissen) Form des
Zusammengesetzten dienen; oder b.) Die Kausalität einer
(gewissen) Form des Zusammengesetzten muß einer Einheit der Idee
sogar als Bestimmungsgrund a priori eines Naturgesetzes dienen? Sie
senkte die Stirn und antwortete nicht mehr). Seelandschaft mit
Pocahontas [I/1, 413].
Brand’s Haide
[1951; BA I/1, S. 115–198.]
-
und irgendwie kamen wir aufs Schach.)
Also spielen wir: Er war der typische alte Remis-Fuchs, hatte
leidliche Theoriekenntnis (ich kann ja nischt mehr!); wir trennten uns
½ : ½. Dennoch war er überrascht und proponierte
zukünftige matches [
]
Morphys Armen entrissen:
-
[138]
-
Das Schachspiel erscheint hier (wie auch an einer späteren Stelle:
Hm, Hm. – Ein Schachbrett aus Feuersteinen, geschliffenen:
das war allerdings schön! [I/1, 167]) als eines von vielen
Wirklichkeitsdetails, die den Text motivisch anreichern, ohne enger mit dem
Hauptstrang der Erzählung zusammenzuhängen. Fast könnten man
vermuten, daß das Spiel des Erzählers mit dem Pfarrer nur
erwähnt wird, um das Wortspiel von Morphys Armen
anbringen zu können, das auf die bekannte Redensart vom Ruhen in
Morpheus Armen rekurriert, auch wenn Morphys Spiel alles andere
als einschläfernd war. Daß Morphy zu den schachlichen Vorbildern
Schmidts gehört, kann nach seinem Auftauchen in den
Dichtergesprächen im Elysium (s.o.) wohl
angenommen werden. In Brand’s Haide ist Morphys Name nur
einer unter vielen, die der Erzähler wie nebenbei nennt und die die
intellektuelle Welt herbeizitieren, in der sich der Erzähler im
Gegensatz zu seinen Mitmenschen bewegt. Nicht immer ist er bei diesem
Name-dropping so freundlich wie hier, den motivischen Zusammenhang
auffällig herauszustellen.
Eines der wichtigen übergreifenden Motive, das hier erstmals
auftaucht, ist der Ausgang der Partie. Im Gegensatz zu den
Juvenilia haben in den Nachkriegstexte die Erzähler
offensichtliche Schwierigkeiten, ihre Gegner im Schach zu überwinden.
Biographische Skizze
[Niederschrift 1950; BA Suppl. I, S. 329 f.]
-
Als kaufmännischer Volontär und Angestellter in einer
Textilfabrik lebte er so, damals auch dem Schachspiel erregt zugetan, bis zum
Ausbruch des Krieges: [329]
-
Die Formulierung erregt zugetan läßt erahnen,
daß das Spiel für den jungen Arno Schmidt von großer
Bedeutung gewesen sein muß.
Schwarze Spiegel
[1951; BA I/1, S. 199–260.]
-
Wer hat die Kulturwerte geschaffen?! Nur Griechen, Romanen,
Germanen; Inder in der Philosophie. – Die Slaven sind typisch kulturlos:
mein Gott: Schach und n bissel Musik! [230]
-
Antislawisches Ressentiment ist eher selten bei Arno Schmidt, aber doch
hier und da bei seinen Figuren anzutreffen. Der hier angeführte
Ausfall kommt gänzlich unvorbereitet und scheint mehr die schlechte
Laune des Erzählers angesichts anhaltend schlechten Wetters
widerzuspiegeln als sonst irgendeine Funktion zu haben. Immerhin gilt es
festzuhalten, daß Schach neben der Musik zu den
Kulturwerten gerechnet wird.
Die Umsiedler
[1953; BA I/1, S. 261–297.]
-
»Kannst Du Schachspielen?« – und ich erzählte
ihr entrüstet, wie ich damals den schlesischen Provinzmeister umgelegt
hatte, mit b2–b4: Jawoll! [284]
-
Diese Episode schreibt Arno Schmidt nicht nur seinem Erzähler, sondern
auch sich selbst zu. In einem Brief an Hans Wollschläger vom 23.
Oktober 1959 schreibt er mit Bezug auf den Schach-Großmeister und
Karl-May-Verleger Lothar Schmid: (Dem Schachmeister Lothar Schmid
dürfen Sie, bei Gelegenheit, einmal ins Ohr träufeln, daß
auch ich früher viel Zeit mit dergleichen Possen verloren, und sogar
einmal den breslauer Meister, Machate, schlug – ein Name, der Herrn
Schmid geläufig sein wird – und zwar mit b2-b4, meiner
Leib=Eröffnung. (Jetzt kann ich natürlich nichts mehr; aber
immerhin wird er nachdenklich nicken, wenn er diesen seltenen Zug
vernimmt.)) [Zitiert nach Guido Graf: Über den
Briefwechsel zwischen Arno Schmidt und Hans Wollschläger.
Wiesenbach: Bangert & Metzler, 1997. S. 138.] Über die wahre
Spielstärke Arno Schmidts lassen sich natürlich nur Vermutungen
anstellen. Die beiden im Tagebuch seiner Frau überlieferten Partien weisen allerdings nicht
darauf hin, daß Schmidt in der Lage gewesen wäre, einen Meister
wie Gottlieb Machate (1904–1974) zu schlagen. Vgl.
dazu auch »Sie sind Schachspieler?«.
Die Eröffnung 1.b4 trägt unter Schachspielern den witzigen Namen
Orang-Utan. Der Legende nach soll der Schachmeister Savielly
Tartakower (1887–1956), dem die Schachwelt einen schier
unerschöpflichen Reichtum pointierter Bemerkungen verdankt, nach einem
Zoobesuch, der 1924 im Rahmenprogramm eines Meisterturniers in New York
stattfand, dem Eröffnungszug diesen Namen gegeben haben. Man findet
ihn in der Literatur auch unter dem Namen
Sokolski-Eröffnung, da der ukrainische Meister Alexej
Sokolski (1908–1969) die erste gründliche Untersuchung dieser
Eröffnung veröffentlicht hat. Orang-Utan ist ein heute selten
gespieltes System, das auf dem höchsten Niveau gar nicht mehr
anzutreffen ist, allerdings unter Spielern auf Vereinsebene immer noch
seine Anhänger hat und dann und wann für einen
Überraschungssieg gut ist.
Zu der Zeit, als Schmidt das Schachspielen erlernt haben wird, gehörte
Orang-Utan als hypermodernes Eröffnungssystem zu einem der
Gravitationszentren, um die sich die Schachwelt bewegte. Die 11. Auflage
des eher konservativen Lehrbuchs von Dufresne und Mieses von 1926
behandelt den Zug allerdings nur am Rande unter der Überschrift
Unregelmäßige Eröffnungen, wie übrigens
auch die Englische Eröffnung 1.c4, die heute aus der Turnierpraxis
nicht wegzudenken ist. Es wird zu 1.b4 auch keine Beispielpartie geliefert.
Sollte Arno Schmidt also tatsächlich Orang-Utan in seinem Repertoire
gehabt haben, so muß er seine Kenntnisse aus einer anderen Quelle
bezogen haben.
Aus dem Lebens eines Fauns
[1953; BA I/1, S. 299–390.]
-
»Na, Herr Singer, wie stehts Turnier?«; und er gab mir
zurückhaltend und kammachern Auskunft. (War nämlich ein
leidenschaftlicher Schachspieler, vieleckig und armselig, Germania
Walsrode, und so entzückend fanatisch, daß er nicht rauchte,
wenn er »trainierte«). [305]
-
Daß die Bezeichnung leidenschaftlicher Schachspieler
nur bedingt etwas Positives meint, macht eine Stelle aus Brand’s
Haide wahrscheinlich, an der es über eine der Figuren
heißt: der hier tanzte; »leidenschaftlich«, wie
ihm zu sagen beliebte: Du hast ne Ahnung von Leidenschaft! [I/1,
119]
Über die Zugehörigkeit dieses Schachspielers zum Verein
Germania Walsrode schreibt Dieter Kuhn in
seinem Handbuch zu Aus dem Lebens eines Fauns:
Den Mitgliedern des Ältestenrats der »Germania
Walsrode von 1916 e. V.« ist nichts über eine Schachabteilung
oder ein Schachturnier bekannt. In den Unterlagen des Vereins wird eine
solche Abteilung nicht erwähnt. [Dieter Kuhn: Kommentierendes
Handbuch zu Arno Schmidts Roman »Aus dem Leben eines
Fauns«. München: edition text + kritik, 1986. S. 29.]
Ansonsten sind natürlich jedem Vereinspieler Schachfreunde der von
Schmidt beschriebenen Art bestens bekannt. Sie kommen zumeist nicht
über einen Einsatz in der Bezirksklasse hinaus, legen aber eine
Ernsthaftigkeit und einen Fanatismus an den Tag, der sich nicht leicht bei
Spielern höherer Klassen wiederfinden läßt. Heimlich hoffen
die meisten Vereinsspieler beim Blick auf diese Schachfreunde, nicht auch
zu ihnen zu gehören.
-
Die neue Skala: Windstärke 6: wirft Schachfiguren um.
(Den hatten wir gottlob; also gemütliches Beisammensein). [348]
-
Diese Bemerkung macht der Erzähler Heinrich Düring bei seinem
Besuch beim Pfarrer von Kirchboitzen, dessen Garten einen Locus amoenus
mitten in diesem vom Krieg umlagerten Text bildet. Auch dieser Pfarrer
scheint, wie der in Brand’s Haide (s.o.),
Schach zu spielen, was aber durch den zu starken Wind verhindert wird.
Allerdings scheinen die Grade der neuen Skala nicht denen
der Beaufort-Skala zu entsprechen, denn in ihr bezeichnet
Windstärke 6 Windgeschwindigkeiten zwischen 10,8 und
13,8 m/s, was ausreicht, um starke Äste in Bewegung zu bringen und das
Handhaben von Schirmen erheblich zu erschweren. Bei solchem Wind wäre
ein gemütliches Beisammensein im Garten kaum
möglich.
Seelandschaft mit Pocahontas
[1955; BA I/1, S. 391–437.]
-
Schachspielen (mit Erich, ders im Kriege von mir gelernt hatte, dank
seines hochentwickelten Geschäftssinns ein gefährlicher Gegner war)
und sie verfolgte interessiert das gemächliche Gedränge der
hölzernen Gestaltchen, wie sie dahinzogen, übereinander sprangen,
sich entführten und verwandelten (und Erich erschöpft:
»Äußerstmerkwürdich!«, als ich, trotz eines
leichtsinnig geopferten Turmes weniger, eins der glanzvollsten Remis meiner
Laufbahn machte: »Ein Alterfuchs!!«). [431]
-
Das Schachspielen mit Erich füllt leere
Urlaubsstunden, während es draußen regnet. Angeregt ist es
vielleicht durch das Durchblättern einer Illustrierten, in der sich
auch Schachaufgaben [431] finden. Interessiert
verfolgt wird die Partie wohl von der Urlaubsliebe des
Erzählers Joachim, Selma, von Joachim liebevoll Pocahontas getauft.
Auch hier endet die Partie, wie schon die in Brand’s Haide
(s.o.) remis, und auch die dortige Formulierung vom
alten Remis-Fuchs findet sich in ähnlicher Wendung
wieder.
Erichs »Äußerstmerkwürdich!«
greift eine frühere Stelle der Seelandschaft wieder auf:
Die breite Reichsstraße 51 wurde allerdings eben schwer
ausgebessert, und rotweiße Hürden sperrten zehnmal Dreiviertel
der Fahrbahn; brüllen:
»Äu-ßerst-merkwürdich!!« (dazu hatte ihn nach
eigenem Geständnis seine Frau erzogen: dies statt des ihm früher
allzu geläufigen Verfluchte Scheiße zu sagen; aber
Eingeweihte wußten, was er meinte!). [397]
Kosmas oder Vom Berge des Nordens
[1955; BA I/1, S. 439–502.]
-
am schludrig geschnürten Schuh lehnte ein rundes Schachbrett mit
dreieckigen Feldern, [467]
-
Diese Stelle aus der Beschreibung einer Statue ist einer der Anachronismen,
die sich in Kosmas finden. Der Text spielt im Jahre 541 am
Schwarzen Meer im heutigen Bulgarien. Da das Schachspiel aber erst um die
Mitte des 6. Jahrhunderts in Indien erfunden wurde, konnte der
Erzähler Lykophron das beschriebene Spielbrett nicht als
Schachbrett bezeichnen.
Die Pflicht des Lesers
[Niederschrift 1955; BA III/3, S. 190 f.]
-
Wer kennt wirklich auch nur die Hauptexponenten von »Sturm und
Drang«?: Die Riesen=Romandekalogie Klingers; Heinses Kugelblitze aus
Schach und Erotik; Moritzens »Anton Reiser«, diesen
psychologischen Großmeister, dem kein Ausland Ähnliches
gegenüberzustellen vermag?! [191]
-
Johann Jakob Wilhelm Heinse (1746–1803) ist bekannt
als der Verfasser des Romans Ardinghello und die glückseligen
Inseln, in dem Schach nur eine nebensächliche Rolle spielt.
Allerdings war der Verfasser des Ardinghello auch Autor des
zweibändigen Briefromans Anastasia und das Schachspiel, der
1803 erschien. In seinen Kernpassagen enthält dieses Buch eine
Übersetzung des bedeutenden Schach-Lehrbuchs Osservazioni
teorico-pratiche sopra il giuoco degli scacchi ossia il giuoco degli
scacchi eposta nel suo miglior lume von Giambatista Lolli, das 1763 in
Bologna erscheinen ist.
Links zu Wilhelm Heinse:
Johann Jacob Wilhelm
Heinse
Heinse-Jahr
2003
Das steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahre 1954
nach Christi
[1956; BA I/2, S. 7–163]
-
Ein Nachbar von links: Eisendecher junior. (Hatte
gegrüßt, mit dem, allen Westbesuchern gegenüber scheinbar
vorgeschriebenen Pli; und enterte dann – worauf ich, aus Rücksicht
auf Line, einging. Erst mal lud er mich zu einer Schachpartie, damit ich die
Überlegenheit des Ostens erführe; denn er war Jugendmeister in einem
FDJ=Bezirk.)
Schach: »Ach, ich hab 20 Jahre keine Figur mehr in Händen
gehabt!« log ich die boshaftvorgeschriebene, für den Gegner in
jedem Fall besonders fatale, Entschuldigung: wenn er gewann, wars nischt wert;
verlor er, konnte er sich selbst nicht mehr achten! (Stimmte diesmal aber
ausnahmsweise fast: 1935 hatte ich noch die Slawische Ablehnung
von der Meraner Variante unterscheiden können.) Ich erloste
mir sogar Weiß; zuckte scheinheilig bedrückt sämtliche
Achseln, probierte erst in der Luft über zwei anderen Knöpfen
– und zog dann fade murmelnd
b 2 – b 4: (mit anschließendem b 4 – b 5: meine
Spezialeröffnung!): Der Kerl spielte wie Botwinnik & Smyslow
zusammen; war aber in der Schnelligkeit nicht auf die korrekte Erwiderung
geaicht; baute sich triumphierend ein Zentrum wie die Wartburg (immer
unterstützt von meinem scheuen mißvergnügten Gesilbel: ein
undisziplinierter Alter bin ich, gelt?!). Umging ich ihn also, wie vorgesehen,
hinterwärts, und nagelte ihn auf seinen Mieses=Dufresne. (Dennoch langte
es im abschließenden Endspiel nur zu einem so faulen Remis! – War
auch viel zu nervös: einmal wegen Ringklib. Dann Lines
Berichte!). [94 f.]
-
Die Slawische Ablehnung ist bekannter unter
der Bezeichnung Slawische Verteidigung. Sie stellt eine der Hauptantworten
des Schwarzen gegen das Damengambit dar: 1.d4 d5 2.c4 c6 (Diagramm rechts).
Bei der Meraner Variante handelt es sich um eine Variante
der sogenannten Halbslawischen Verteidigung: 1.d4 d5 2.c4 c6 3.Sf3 Sf6
4.Sc3 e6 5.e3 Sbd7 6.Ld3 dxc4 7.Lxc4 b5 (Diagramm unten). Diese Zugfolge
wurde nach einer zwischen Grünfeld und Rubinstein 1924 in Meran
gespielten Partie benannt,
obwohl sie auch schon zuvor erfolgreich von Schwarz angewandt worden war.
Auch Walter Eggers, der Erzähler von Das steinerne Herz,
spielt Orang-Utan (s.o.). Es sind solche und zahlreiche
ähnliche Details, die nicht nur die Redeweise vom bekannten
Erzähler (Josef Huerkamp) provoziert, sondern auch bei vielen
Lesern Arno Schmidts die Idee von der Identität von Erzählern und
Autor erzeugt haben.
Bei Michail Botwinnik (1911–1995) handelt es sich um
den beherrschenden Schachspieler der Nachkriegsepoche bis zu seinem
endgültigen Verlust des Weltmeistertitels im Jahr 1963. Nachdem
Alexander Aljechin 1946 als ungeschlagener Weltmeister gestorben war,
organisierte der 1924 gegründete Weltschachbund FIDE 1948 ein Turnier
um den Titel des Weltmeisters, mit dem der Privatbesitz des
Weltmeistertitels vorerst beendet war. In Den Haag und Moskau spielten
damals Michail Botwinnik, Wasilij Smyslow (1921–),
Paul Keres, Samuel Reshevsky und Max Euwe jeweils fünf Partien gegen
jeden anderen. Botwinnik ging mit 14/20 Punkten eindeutig als Sieger
hervor, gefolgt von Smyslow mit 11/20. Die FIDE legte fest, daß der
amtierende Weltmeister seinen Titel alle drei Jahre zu verteidigen habe.
Der Herausforderer hatte sich dazu in einer Reihe von Turnieren zu
qualifizieren. 1951 hieß dieser Herausforderer David Bronstein,
dessen Sieg Botwinnik mit einem Ergebnis von 12:12 gerade noch verhindern
konnte; bei Gleichstand am Ende der auf 24 Partien festgesetzten
Wettkämpfe um die Schachweltmeisterschaft behielt der Weltmeister
seinen Titel. Im nächsten Zyklus qualifizierte sich Smyslow, aber auch
er kam bei diesem Versuch über ein 12:12 gegen Botwinnik nicht hinaus.
Dieser WM-Kampf fand vom 16. März bis zum 13. Mai 1954 in Moskau
statt, war also das schachliche Großereignis von internationalem
Interesse, das der Niederschrift des Romans zwischen November 1954 und
April 1955 unmittelbar vorausgegangen war. Da Schmidt eine
Veröffentlichung des Romans noch im Jahr 1955 anstrebte, konnte er
hoffen, daß vielen Lesern die Namen Botwinnik und Smyslow noch im
Gedächtnis sein würden. Smyslow gelang es übrigens 1957, den
Titel zu erringen, er verlor ihn allerdings im Jahr darauf in einem
Revanchewettkampf wieder an Botwinnik.
Als Zentrum bezeichnen
die Schachspieler die vier Felder in der Brettmitte (d4, e4, d5 und e5).
Ihre Besetzung oder Beherrschung ist eines der wichtigen Ziele der
Eröffnungsphase einer Partie. In diesem oder steckt der
Streit zweier Schulen, um den richtigen Weg der Partieanlage, der die
Schachwelt am Anfang des 20. Jahrhunderts entzweite. Während
traditionelle Eröffnungssysteme das Ziel verfolgen, das Zentrum direkt
mit Bauern zu besetzen, vertrat die Hypermoderne Schule (auch
das ein Ausdruck Tartakowers) die Auffassung, es gelte vielmehr das Zentrum
zu beherrschen als es zu besetzen. Sie entwickelten daher
Eröffnungssysteme, in denen die Läufer fianchettiert (d.h. auf
die Felder b2 und g2 bzw. b7 und g7 entwickelt) und die Mittelbauern lange
Zeit zurückgehalten wurden. Auch die von Schmidt und seinen
Erzählern bevorzugte Eröffnung 1.b4 ist ein Produkt der
Hypermoderne Schule. Walter Eggers beschreibt das Vorgehen seines Gegners,
der sich triumphierend ein Zentrum wie die Wartburg baut,
ganz richtig mit der Phrase nagelte ihn auf seinen
Mieses=Dufresne. Das nun schon öfter erwähnte
Lehrbuch des Schachspiels vertrat hauptsächlich die Sache der
Traditionalisten in der Nachfolge Tarraschs und behandelte die
Eröffnungen der Hypermodernen wenn überhaupt nur am Rande. Heute
ist der alte Streit einem gewissen Pragmatismus gewichen: Zwar werden auf
höchstem Niveau hauptsächlich klassische Eröffnungssysteme
behandelt, doch wurden diese Systeme durch die Ideen der Hypermodernen
wesentlich beeinflußt und erweitert.
Auch die Partie dieses Romans endet, wie bis dahin alle Nachkriegspartie
von Schmidtschen Erzählern, remis; diesmal allerdings ist es ein
faules Remis. Es mag durchaus berechtigt sein, diesen
Ausgang mit dem Vergleich der Systeme von BRD und DDR in
Beziehung zu setzen, der eines der zentralen Themen von Das steinerne
Herz darstellt, wie es auch die nächsten beiden Absätze
nahelegen:
-
Immerhin: er war leicht geknickt; und berichtete,
abgesägten Blicks, zum Ausgleich hastig (und etwas zu offenherzig) von
dem hiesigen Schachbetrieb: – (und ich lauschte, immer bedenklicher sich
teilenden Mundes: das Entsetzliche wurde mir klar!)
: Die benützten hier im Osten das Schachspiel zur Abstumpfung
der Geister!! Systematisch wurden die, trotz aller Aufbauschichten und
Leistungswettbewerbe, noch vorhandenen Energien in dieses sterilste aller
künstlichen Sackgäßchen abgelenkt!! Zum selben Zweck, wie in
den Jesuitenschulen Sprachen und niedere Mathematik übermäßig
gepflegt wurden: dadurch verhindert man Gedanken (und züchtet noch
zusätzlich den grundlosesten starren Hochmut auf die herrliche eigene
Bildung! Mensch, deswegen stellen natürlich auch die Russen
sämtliche Weltmeister! Ich kriegte einen richtigen Widerwillen gegen das
Spiel: also einen Spiegel an der Wand, und n Schachbrett uffm Tisch: dann ist
die Kultur erreicht, was?! – Er merkte nichts; und begann schon mit il
Selbstbewußtsein und la Weltanschauung.)
-
Was Schmidt hier seinen Erzähler vorbringen läßt,
entspricht nur wenig der Realität der Schachspieler in der DDR und
könnte noch eher als eine Kritik der Sowjetischen Schachschule
durchgehen. Zwar war Schach in der DDR relativ bald als Sport angesehen,
und es gab einige wenige Schachspieler, die als Staatssportler ihren
Lebensunterhalt verdienten, aber es hat in der DDR niemals eine den
Strukturen in der UdSSR vergleichbare staatliche Auslese und Förderung
von Schachtalenten gegeben. Wie wenig Schach der politischen Führung
galt, wurde nach 1972 deutlich, als die finanziellen Mittel zur
Sportförderung auf medaillenträchtige olympische Kern-Sportarten
konzetriert wurden, was für das DDR-Schach einem nahezu
gänzlichen Rückzug aus der internationalen Arena gleichkam. Vgl.:
Rainer Knaak: Schach in der DDR.
Im Gegensatz dazu hatte die UdSSR seit Mitte der 20er Jahre des 20.
Jahrhunderts mit dem systematischen Aufbau der Sowjetischen Schachschule
begonnen, die in den Nachkriegsjahren zu einer Hegemonie sowjetischer
Schachspieler im Weltschach führte, die bis heute nachwirkt. Mit
Ausnahme der drei Jahre zwischen 1972 und 1975, in denen das
us-amerikanische Ausnahmetalent Bobby Fischer den Titel innehatte,
entstammten bis zum Jahr 2000 alle Nachkriegs-Weltmeister mehr oder weniger
direkt der Sowjetischen Schachschule. Aber auch für die UdSSR ist kaum
anzunehmen, daß das Schachspiel zur Abstumpfung der
Geister eingesetzt werden sollte. Vielmehr war und ist das
Schachspiel in Rußland und zahlreichen anderen Nachfolgestaaten der
UdSSR ein Teil der Volkskultur, und die Erfolge der Schachmeister bilden in
der Tat ein wichtiges Element des nationalen
Selbstbewußtseins, ohne daß sich dieser
Zustand nach dem Wegfall der Weltanschauung groß
geändert hätte.
Das heulende Haus
[Niederschrift 1955; BA I/4, S. 20–22]
-
Und in der lichtdicht verhangenen Bodenkammer saßen auf
niedlichen Hockern zwei Männer: ein Landmesser, von der Konkurrenz
Fallingbostel; und ein Herr in Lincolngrün, ein Forsteleve, wie wir uns
vorstellten. Sie hatten zwischen sich ein Schachbrett und eine Flasche
billigen Weines; den Wänden entlang waren schon zwei Deckenlager
ausgerollt. Man vereidigte auch mich kurz, unser Gespensterhaus niemals zu
verraten; und ich besiegte dann erst einmal die beiden Schachspieler, einen
nach dem anderen. Später auch simultan.« [21]
-
Der Binnen-Erzähler der Stürenburg-Geschichten, der
Vermessungsrat a. D. Stürenburg, ist mit einer gewissen
allgemeinen Überlegenheit ausgestattet. Es paßt zu
ihm, daß er die schachlichen Schwierigkeiten anderer Figuren Schmidts
nicht teilt und seine Schachgegner nicht nur einzeln, sondern auch simultan
besiegt. Zum Begriff simultan vgl. unten die Anmerkung zu Zettels Traum.
Siebzehn sind zuviel! (James Fenimore Cooper)
[Niederschrift 1955; BA II/1, S. 105–127]
-
FRAU SUSAN AUGUSTA (sagt eifrig und hell:) Schach und –
(kleine Pause; dann triumphierend:) – Matt!!
COOPER (nachdenklich zwischen den Zähnen murmelnd:)
Tatsächlich. – Hätte ich vorhin doch den Turm einschlagen
sollen – (unzufrieden:) ts: also so was! – –
Schade! [110]
[
]
-
COOPER (mißtrauisch:) Wirklich, Du? – Na,
laß gut sein, Susy. Ich bin ja schon wieder (er spricht das folgende
Wort hohnvoll aus:) zuversichtlich! – Ach! –
Laß uns lieber eine Partie Schach spielen. Du mußt allerdings
für mich ziehen; ich kann die Hände noch nicht wieder recht
bewegen. [126]
-
Das eheliche Schachspiel der Coopers ist für Arno Schmidt nicht nur an
dieser Stelle ein bemerkenswertes biographisches Detail. Es ist derzeit
nicht auszuschließen, daß die Lektüre von Coopers
Tagebüchern das Ehepaar Schmidt dazu angeregt hat, eigene Partien in Alice Schmidts
Tagebuch festzuhalten.
Berechnungen II
[Niederschrift 1955; BA III/3, S. 275–284]
-
Diese reinen Typen des E II (bzw. E I) sind einer Schachpartie zu
vergleichen, von der nur die schwarzen Züge (oder weißen, wie man
will) notiert wurden. [278]
-
Bei den Typen des EII (bzw. EI) handelt es sich um ein
erzähltheoretisches Konstrukt Arno Schmidts, das genuin nichts mit dem
Schachspiel zu tun hat. Zur Erläuterung benutzt Schmidt das Motiv von
der halbierten Schachpartie, das schon in den
Dichtergesprächen vorgekommen war, die aber, als er dies 1955
schrieb, nicht veröffentlicht waren. Schmidt wird dies Motiv noch
häufig verwenden. Für einen eingehenderen Kommentar vgl. oben die
Anmerkung zu den Dichtergesprächen.
Dichter und ihre Gesellen.
[Niederschrift 1956; BA III/3, S. 285–291]
-
Der Techniker seinerseits, der die Realität emaniert, steht vor
der Gefahr, der z.B. ähnlich der hochintelligente Schachspieler
unterliegt: der 5 Stunden lang, ohne 1 Wort zu benötigen, geisterhaft
hochgezüchtete Spiel= (für ihn Lebens=!)regeln vollzieht!
[286]
-
Der für diesen Text zentrale Gegensatz zwischen
Dichter und Techniker soll hier nicht
weiter betrachtet werden. Auch die schmidtsche These zu prüfen,
schachliches Denken vollziehe sich ohne 1 Wort, wäre
ein eher psychologisches Unterfangen und soll daher unterbleiben. Von
genuin schachlichem Interesse sind eventuell zwei der in diesem einzigen
Satz vesammelten zahlreichen Behauptungen: 1. Die
Spielregeln seien geisterhaft
hochgezüchtet und 2. seien sie dem Schachspieler
Lebensregeln.
Gemeint sein könnte damit, daß das Schachspiel aufgrund seiner
Grenzenlosigkeit, gemessen zumindest am Horizont menschlichen Denkens, als
eine Welt für sich empfunden werden kann, in der die Figuren
schicksalhaft miteinander in einem gemeinsamen Geschehen verknüpft
erscheinen, das aus dem Wirken antagonistischer Kräfte hervorgeht. So
betrachtet gerät das Schachspiel zu einer Allegorie des Lebens und die
Regeln des Spiels könnten als Lebensregeln verstanden werden. In
diesem Sinne könnte dann der eigentlich recht schlichte Regelsatz des
Schachspiels als geisterhaft hochgezüchtet bezeichnet
werden, da er die Existenz eines ganzen Universums begründet.
Der eine oder andere belesenere Schachfreund könnte sich bei der
Parallelisierung von Schach- und Lebensregeln auch an die von der
Universitätsphilosophie weitgehend ignorierten philosophischen
Versuche Emanuel Laskers erinnert fühlen. Es gibt aber keinerlei
Anhaltspunkte dafür, daß Schmidt Emanuel Laskers Bücher
jemals zur Kenntnis genommen hätte. Es kann darüber hinaus
festgestellt werden, daß bei Arno Schmidt kaum einer der großen
Spieler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch nur genannt wird:
Von den drei Weltmeistern Lasker, Capablanca und Aljechin wird einzig der
letztere an einer einzigen Stelle in Zettels Traum zusammen
mit dem deutschen Großmeister Bogoljubow erwähnt.
Beschäftigt haben muß sich Schmidt wohl mit dem schachlichen
Schaffen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, falls denn
tatsächlich Orang-Utan seine Leib=Eröffnung (s.o.) gewesen sein sollte. Aber Spuren im Werk hat diese
Beschäftigung kaum hinterlassen.
Goethe und einer seiner Bewunderer
[1957; BA I/2, S. 189–220]
-
Mit Heinse könnte man ne solide Partie Schach spielen.
[193]
-
(s.o.)
-
»Goethe nich; nee.« (und zur Erklärung noch den
höflichen Zusatz): »Ich fühle mich nicht reif dazu. –
Ähnlich wie für d2 – d4 im Schach.« [202]
-
Der Erzähler erklärt an dieser Stelle dem für einige Stunden
von den Toten zurückgekehrten Goethe, was ein
Nachtprogramm ist (gemeint sind damit die von Schmidt
verfaßten Rundfunk-Essays zur Literatur) und daß er keines
über Goethe in Planung habe aus eben dem oben zitierten Grund. Mit
d2 – d4 ist die Gruppe der geschlossenen oder
Damenbauer-Eröffnungen im Schach bezeichnet, die normalerweise mit dem
Zug 1.d4 beginnen. Im Gegensatz zu den offenen oder halboffenen
Eröffnungen, die mit dem Zug 1.e4 anfangen, führen die
geschlossenen Eröffnungen in vielen Fällen zu einem eher
positionellen Spiel. Diese Einteilung darf man nicht zu streng nehmen, weil
in beiden Eröffnungsgruppen in ungleicher Verteilung sowohl
positionell als auch taktisch geprägte Stellungen erreicht werden
können. Allerdings beginnt der Lernende in der Regel mit den offenen
Eröffnungen, da deren Pläne für ihn zumeist leichter zu
durchschauen und anzuwenden sind. Erst mit einer gewissen schachlichen
Reife sollte er sich den Damenbauereröffnungen zuwenden.
-
(Wie schade, daß ich kein verstecktes Tonbandgerät
besaß! – Aber nachher hätte man wohl auch wieder nur meine
Stimme gehört; wie ne Schachpartie, wo die weißen Züge
fehlen). [205]
-
Vgl. oben die Anmerkungen zu den Dichtergesprächen und den Berechnungen II.
Literatur: Tradition oder Experiment?
[Niederschrift 1957; BA III/3, S. 338–341]
-
der Goethe’sche Werther, so bewundernswert er immer
sein mag, führt die Briefform, die immer wiederauftauchende Anrede an den
geliebten Freund, völlig unnützlich! Man
hört nämlich diesen fernen Partner überhaupt nicht; er bleibt
der Schatten eines Traums: dergleichen aber ist wider den Geist eines
Briefromans! Ist eine Schachpartie, von der wir nur die
weißen Züge kennen – oder die schwarzen, wie man
will.
-
Vgl. oben die Anmerkungen zu den Dichtergesprächen und den Berechnungen II.
Die Meisterdiebe. Von Sinn und Wert des
Plagiats
[Niederschrift 1957; BA II/1, S. 333–357]
-
Leider erlaubt unsere Zeit nicht, die 250 Zeilen des Hauff’schen
Märchens ganz vorzutragen; genug, zu berichten, daß Jude Abner,
schachspielerhaft=scharfsinniger Kombinationsgabe voll, mit beweglichen
Falkenaugen, denen nichts entgeht, Spuren zu lesen vermag, wie nur je ein
Sherlock Holmes oder die Helden Karl Mays, die aus ein paar
nichtswürdigen Eindrücken im Sand die ganze Geschichte eines
komplizierten Verbrechens rekonstruieren, begabt mit der Assoziationsgabe
eines Elektronengehirnes. [354]
-
Eigentlich keine schachlich gehaltvolle Stelle. Ich führe sie dennoch
an, weil ihre Formulierungen so nett von der Zeit überholt wurden:
Angesichts der Karriere, die die Computer auch im Schach gemacht haben,
würde wohl heute kaum mehr jemand ein
Elektronengehirn mit einer
Assoziationsgabe ausstatten, während der Mensch im
Besitz einer schachspielerhaft=scharfsinniger
Kombinationsgabe verbliebe. Eher schon würde man mit einer
umgekehrten Zuordnung versuchen, wenigstens noch eine kleine
Überlegenheit der menschlichen Intelligenz festzuhalten.
-
A. (schlau): Vielleicht gelingt es uns im Schachspiel besser;
noch ist es nicht allzutief in der Nacht: opfern Sie noch eine
Schaufel Nuß 1; und, falls ich Weiß wählen
sollte, verspreche ich Ihnen ganz originell=böse zu beginnen: b2
– b4! [357]
-
Dies greift eine Stelle vom Anfang des Dialogs auf [vgl. II/1, 335] und
schließt so einen thematischen Rahmen. Zur Eröffnung 1.b4 vgl.
oben die Anmerkung zu Die Umsiedler.
Die Gelehrtenrepublik. Kurzroman aus den
Roßbreiten
[1957; BA I/2, S. 221–349]
-
Oberstes Stockwerk; gleich gebot ein Schild Stille!:
»Schach!« (Das Kandidatenturnier für die Weltmeisterschaft.
Wir schlichen lautlos ein. Sie schrieb diesmal nur vor Ehrerbietung
die Namen auf den Block, und zeigte dann mit der Bleistiftspitze auf den
Betreffenden: !). / Und da saßen sie Alle: Galachow und Karejew;
Fortunatoff und Weljaninoff=Sernoff; Spasowitsch und Slawatinski; eine
Perlenschnur erlauchtester Namen! [
] / Und hier der Stand: die ersten 34
Plätze belegten die Sowjetrussen. Dann 2 ehemalige Jugoslawen [
]
Dann folgten 1 Tscheche und 4 Argentinier. / Der einzige Amerikanski lag an
42. Stelle (und verlor eben wieder; er hatte schon 3 Bauern weniger. Ich
schüttelte ihm stumm und mitleidig die Landsmannshand.) [327]
-
Die Gelehrtenrepulik ist nach Schwarze Spiegel der zweite
utopische Roman Arno Schmidts. Er spielt im Jahr 2008 nach einem
verheerenden atomaren Krieg, der ganz West- und Teile Südeuropas
komplett entvölkert hat. Die verbleibenden Nationen haben sich auf ein
Refugium für Ihre begabtesten Künstler und Wissenschaftler
geeinigt, das sich auf einem riesigem Schiff, einer stählernen Insel
befindet. Erzählt wird Die Gelehrtenrepublik von einem
entfernten Verwandten Arno Schmidts, Charles Henry Winer, der als Reporter
das seltene Recht bekommt, die IRAS (= International Republic for
Artists and Scientists) [270] zu besuchen und über sie zu
berichten. Auch hier ist wieder auffällig, daß Schachspieler
ohne große weitere Begründung auf der Insel zu finden sind; ganz
offenbar zählt man sie zu den schützenswerten Künstlern.
Wie viele Motive und Konstellationen in Die Gelehrtenrepublik ist
auch das hier vorgeführte Kandidatenturnier zur
Schachweltmeisterschaft eine karrikierende Überzeichnung der
Wirklichkeit zur Zeit der Niederschrift des Romans. Aufgrund der oben in
den Anmerkungen zu Das steinerne Herz schon
erwähnten systematischen Auslese und Förderung von
Schachtalenten, hatte die Sowjetunion nach dem zweiten Weltkrieg eine
beherrschende Stellung im internationalen Schachbetrieb errungen. Die
strenge Führung der sowjetischen Schachspieler durch sportliche und
politische Funktionäre ermöglichte in einzelnen Fällen
mannschaftsdienliche sportliche Ergebnisse. Daß es solche Absprachen
gegeben hat, ist heute unbestritten; uneinig ist man sich immer noch, wie
weit versucht wurde, auf einzelne Spieler Druck auszuüben und in
welchen Fällen welche Ergebnisse manipuliert wurden. Dies muß
eine schwierige Zeit für die sowjetischen Spieler gewesen sein.
Außerdem trug ein weitgespanntes Netz schachlicher Theoretiker, die
den Spitzenspielern zuarbeiteten, zu deren Überlegenheit bei.
Westliche Spieler dagegen waren oft Einzelkämpfer, die sich
ständig selbst um Sponsoren, Trainingsmöglichkeiten und
Einladungen zu Turnieren kümmern mußten. Unter solchen
Bedingungen stellte sich eine Überlegenheit der ja schachlich nicht
minder begabten sowjetischen Spieler wie von selbst ein.
Als nahezu prophetisch erweist sich der 42. Platz des
einzigen us-amerikanischen Teilnehmers am Kandidatenturnier: Im Jahr nach
dem Erscheinen von Die Gelehrtenrepublik, 1958, begann der 15
Jahre alte US-Amerikaner Robert James Fischer seine internationale
Schach-Karriere, in dem er beim Interzonenturnier in Portoroz den 5. Platz
belegte, was ihm nicht nur als bis dahin jüngstem Spieler den
Großmeister-Titel einbrachte, sondern ihn auch für das
Kandidatenturnier zur Weltmeisterschaft qualifizierte. Es war das erste von
zwei Kandidatenturnieren, in denen Bobby Fischer die überlegene
Turniertaktik der sowjetischen Schachdelegation erfahren mußte, deren
Teilnehmer gegeneinander kräfteschonende Kurzremisen spielten, um ihre
nichtsowjetischen Gegner um so mehr unter Druck setzen zu können. Nach
dem Kandidatenturnier 1962 in Curaçao erschien in der großen
Sportzeitschrift Sports Illustrated ein Artikel, in dem Fischer
die drei Erstplazierten des Turniers des Betrugs bezichtigte. Er selbst zog
aus seinem Abschneiden als Vierter die Konsequenz, nicht mehr an einem
Kandidatenturnier teilzunehmen, solange der Modus dieser Turniere nicht
geändert würde. Dies geschah bereits im nächsten
Weltmeisterschafts-Zyklus: Ab 1965 spielten die WM-Kandidaten paarweise
K.O.-Wettkämpfe gegeneinander. Allerdings nahm Fischer erst 1971
wieder an den Kandidatenwettkämpfen teil, um dann aber gleich zwei
Großmeister nacheinander, Mark Taimanow und Bent Larsen, mit einem
Ergebnis von 6:0 deutlich zu distanzieren. In der Folge gewann Fischer 1972
in Reykjavik im Wettkampf gegen Boris Spassky den Weltmeistertitel, was
zugleich das Ende seiner Karriere bedeutete. Fischer zog sich von der
internationalen Schachszene konsequent zurück und lebte bis zu seinem Tod am
17. Januar 2008 an
verschiedenen Orten der Welt seiner Paranoia und seinem Antisemitismus.
Fouqué und einige seiner Zeitgenossen
[1959; BA III/1]
-
Landgraf Friedrich selbst war eine durchaus sympathische Gestalt mit
gelehrten Ambitionen; er korrespondierte mit deutschen Dichtern, und war auch
ein guter Schachspieler, der in Paris mit Philidor manche Partie erledigt
hat. [345]
-
Zu Philidor vgl. oben die Anmerkung zu Dichtergespräche im Elysium.
Der Waldbrand. Vom Grinsen des Weisen
[Niederschrift 1959; BA II/2, S. 333–365]
-
Einen, den er nie sah; der aber dennoch – im Geist
ist dergleichen eben aufs Schönste möglich – sein genuiner
Ahnherr ist: Wilhelm Heinse! in dessen ARDINGHELLO, HILDEGARD VON HOHENTHAL,
ANASTASJA ODER DAS SCHACHSPIEL, glüht der gleiche, weltzugewandte
Geist. [361]
-
Zu Wilhelm Heinse und seinem Buch Anastasia und
das Schachspiel vgl. oben die Anmerkung zu
Die Pflicht des Lesers.
Kaff auch Mare Crisium
[1960; BA I/3, S. 7–277]
-
»Na und?! – Bring’s raus, Dschonn. Sonst laß
ich Dich heut Abnd im Schach ma nich gewinn’.«
[31]
-
Wie aus dieser Stelle hervorgeht, gehört auch das Schachspiel zu den
Freizeitbeschäftigungen der Bewohner der us-amerikanischen
Mondkolonie, die im Jahre 1980, durch einen vernichtenden atomaren Krieg
von der Rückkehr zur Erde abgeschnitten, ihrem langsamen Ende
entgegensieht. Merkwürdigerweise werden Schachturniere gegen die sehr
viel vitalere russische Mondkolonie, zu der man sonst auf allen Gebieten in
Konkurrenz steht, an keiner Stelle erwähnt.
-
Sam Reshevsky, der Dollmetscher [70]
-
Samuel Reshevsky (1911–1992) war ein polnischstämmiger
us-amerikanischer Großmeister. Reshewsky war ein Schach-Wunderkind,
das bereits im Alter von sechs Jahren Simultanvorstellungen gab. Als
Elfjähriger hatte er Meisterstärke erreicht, was er mit einem
Sieg gegen David Janowski, damals einer der besten Angriffsspieler der
Welt, unter Beweis stellte. Anfang der 50er Jahre galt er als ernsthafter
Kandidat für einen Kampf gegen Botwinnik um die Weltmeisterschaft;
dies wußte der sowjetische Kader 1953 geschickt zu verhindern. Da
sich seine Hoffnungen auf den Platz an der Weltspitze nie realisierten,
bekam Reshevsky den mißgünstigen Spitznamen »das ewige
Wunderkind« angehängt.
Die Namensübereinstimmung mit dem Dolmetscher auf dem Mond könnte
rein zufälliger Natur sein, denn nichts weist darauf hin, Schmidt habe
den Schachspieler Reshevsky hier als Dolmetscher auftreten lassen wollen.
Es ist allerdings im Umfeld der Namensnennung viel von Spielen die Rede,
auch tauchen wenige Zeilen später die Begriffe
Läufer (für Bote) und Brett im
Text auf, aber dies sind auch schon die einzigen Hinweise darauf, daß
Schmidt bei der Niederschrift an den Schachspieler gedacht haben
könnte.
Passen würde der Schachspieler Sam Reshevsky schon in das allgemeine
Bild, das sich von Schmidts Schachinteresse ergibt, denn er ist zu der
Zeit, als Schmidt sich intensiv mit dem Spiel auseinandersetzte, als
Wunderkind bekannt gewesen und könnte allein deshalb Schmidts
Aufmerksamkeit erregt haben, weil sich dadurch Parallelen zur Biographie Paul Morphys ergeben.
-
»Iss Dir bekannt, Hertha: daß alte Leute hierzulande die
Bauern im Schach noch heute Wenden nennen? [90 f.]
-
Der Ausdruck Wenden bezeichnet in Deutschland lebende
Slawen. Einen Beleg für die Verwendungen des Wortes in Norddeutschland
für die Schachfigur des Bauern konnte ich nicht finden; für Hinweise bin ich
dankbar.
-
Scheiß Citoyen du Globe: auf’m Lant
müßte man leebm! / Schachfiegurn aus Eiche drexeln: gans schtille
werdn. [207]
-
Dies kann als ein Schritt zum Rückzug vom zwischenmenschlichen Umgang
gelesen werden, ohne sich doch ganz vom Schachspiel zu trennen, zu dem ja
zumindest noch ein Gegner benötigt wird. Schmidts Protagonisten
geraten ab dem Anfang der 60er Jahre in eine immer weiter zunehmende
Isolation, die schließlich in einer weitgehend weltabgewandten
Haltung gipfeln wird. Auch in solch kleinen Details wird diese Entwicklung
sichtbar.
Windmühlen.
[Niederschrift 1960; BA I/3, S. 279–292]
-
»Voriges Jahr komm’ich mit mei’m Koffer in die
Gaststube rein – da sitzen an den Tischen 10 Herren in schwarzen
Anzügen, still wie Geister. Ich hab’ auf die Uhr gekuckt: in der
Viertelstunde, wo ich mit dem Wirt verhandelte, hat Keiner auch nur 1
Sterbenswörtchen gesprochen; kein Laut nichts; ich dachte, ich
wär’ schon tot!« »Schachspieler?«, erkundigte der
Gestreifte sich träge. [289]
-
Dies ist eines einer ganzen Reihe traumartiger Motive, die sich in
Windmühlen aneinanderreihen und jeweils vom einem der
Zuhörer des erzählenden Bademeisters in ähnlicher Weise
entschlüsselt werden wie hier die zehn stummen Herren.
Ganz leicht erinnert diese Stelle vielleicht an die von den Schach- und
Lebensregeln in Dichter und ihre Gesellen.
Gesammelte Werke in 70 Bänden.
Startschuß zum Beginn der Karl=May=Forschung.
[Niederschrift 1961; BA III/4, S. 55–64]
-
[
] aber in jener Epoche seines Schaffens hätte
May jedwedem anderen Autor getrost beide Türme auf dem Brett der
Verkitschtheit vorgeben können, und ihn dennoch mühelos
geschlagen; [57]
-
Die Vorgabe beider Türme ist eine noch ein wenig
höhere Vorgabe als die der Dame. Meisterspieler geben in freien
Partien starken Spielern höchstens einmal einen Bauern und den Anzug
vor, selten aber mehr. Daß May nach Schmidts Auffassung dennoch
auf dem Brett der Verkitschtheit jedweden anderen Autor
mühelos geschlagen hätte, ist ein Urteil, wie es
vernichtender nicht ausfallen kann.
Nebenbei bemerkt: Das schöne Wort Verkitschtheit
findet sich bei Schmidt nur im Zusammenhang mit May.
Die Geschichte vom Riesen Jermak.
[Niederschrift 1961; BA III/4, S. 98–107]
-
[
] nur ein Narr oder ein Böswilliger kann ja behaupten,
daß, was etwa die Kunst der Literatur anbelangt, Namen wie TURGENJEW,
DOSTOJEWSKI, TOLSTOJ, GORKI, BRECHT nicht auch eine ausgesprochene
Modell=Serie europäischer Literatur bildeten. Das IGORLIED
ist von dem der NIBELUNGEN so verschieden nicht; auch die
KORSSUNSCHEN PFORTEN halten den Vergleich mit Ghiberti oder Peter
Vischer aus; was bedarfs noch der Erwähnung von MUSIK, SCHACHSPIEL oder
WELTRAUMFAHRT? [99]
-
Ich habe diese Stelle etwas ausführlicher zitiert, um die kleine,
boshafte Pointe zu präsentieren, daß Brecht bei
Schmidt in die Reihe russischer Autoren gehört. Seit der kurzen
Äußerung in Schwarze Spiegel hat
sich an der Einschätzung der slawischen Kultur nicht so sehr viel
geändert. Immerhin wird jetzt auch eine literarische Tradition genannt
und die Weltraumfahrt an die Seite der anderen Kulturleistungen gestellt,
aber der Kern des Ressentiments scheint sich nicht wirklich verändert
zu haben: mein Gott: Schach und n bissel Musik! [I/1, 230]
Der Verdacht liegt nahe, daß Schmidt von der russischen Kultur auch
nicht sehr viel mehr kannte als das, was die Schlagwörter hier
bezeichnen.
Die 10 Kammern des Blaubart.
[Niederschrift 1961; BA III/4, S. 108–114]
-
Denn ob auch die GESELLSCHAFT IN DER VILLA eine nur bedingt
gültige Gleichung zwischen Repetition und Höllengefühl
herzustellen versucht, das HUNEKER GAMBIT ist wieder ausgesprochen gut: ein
präsumtiv=bedeutender Mann, von einer nörgeligen Nichtganz=Zanktippe
frustriert, befreit sich durch die Flucht ins Schachspiel –
und einmal mehr frappiert der Kontrast zwischen der schmierig=normalen und
einer gefährlich künstlich=künstlerischen Welt; die jedoch
einwandfrei die geistvollere, gerechtere, also vielleicht bessere
ist. [112]
-
Bei Die 10 Kammern des Blaubart handelt es sich um eine Schrift
quasi pro domo: Es ist eine Besprechung des schmalen
Erzählbändchens Sanfter Schrecken von Stanley Ellin, den
Schmidt für den Goverts Verlag übersetzt hatte. Eine der zehn
Erzählungen des Bandes ist Das
Huneker-Gambit, eine Variation der Schachnovelle
Stefan Zweigs. Der Protagonist George Huneker ist in seiner privaten Misere
gefangen, die er hauptsächlich seiner herrschsüchtigen und stets
schlechtgelauten Ehefrau zu danken hat. Ein älterer Arbeitskollege,
den Huneker ein einziges Mal zu einem Abendessen eingeladen hatte, schenkt
ihm als Gegengabe für eine berufliche Gefälligkeit ein
Schachspiel, begleitet von der Bemerkung: es gäbe gewisse
Menschen auf der Welt, die Schach brauchten. Huneker
gerät nun – ganz ähnlich wie sein fernes Vorbild Dr. B. bei
Stefan Zweig – ganz in den Bann des Spiel, das sich als Fluchtwelt
vor seiner Ehe als ausreichend komplex erweist. Nur fehlt eben auch Huneker
ein Gegner, da seine Frau sich weigert, das Spiel zu erlernen, und
ebensowenig erlaubt, daß George Huneker ausgeht oder etwa seinen
alten Kollegen zu sich einlädt. Huneker erschafft sich daher in sich
selbst einen Gegner, der in sich alle die aktiven und weltzugewandten
Eigenschaften Hunekers versammelt, die er in seiner Ehe nicht ausleben
kann. Als seine Frau schließlich voll Eifersucht und Zorn darangeht,
ihm das Spiel zu verbieten, erschlägt die neu in Huneker erstandene
Persönlichkeit, die den Namen Weiß trägt, die
Ehefrau mit dem Schürhaken. Der bald darauf eintreffenden Polizei
gegenüber stellt sich Huneker mit dem Namen Weiß
vor.
Es ist nicht verwunderlich, daß Schmidt diese Erzählung
schätzte, da sie das Thema einer Flucht- bzw. Alternativwelt zur
Wirklichkeit thematisiert, das in Schmidts Schreiben und Denken eine
zentrale Stellung einnimmt. Schmidt selbst hatte die Eignung des Schachs
als Fluchtwelt schon in Dichter und ihre
Gesellen angedeutet.
Vielleicht ist es an dieser Stelle einmal
sinnvoll, den bereits öfter verwendeten Begriff
Gambit zu erläutern: Als Gambit bezeichnet man eine
Eröffnung, in der eine Seite kurz- oder auch langfristigere materielle
Nachteile in Kauf nimmt (zumeist handelt es sich um das frühe Opfern
eines Bauern), um dafür positionelle Vorteile zu erhalten. So bietet
sowohl im Damen- als auch im Königsgambit (Diagramm) Weiß einen
ungedeckten Bauern zum Schlagen an, um die eigene Figuren-Entwicklung zu
beschleunigen; Schwarz entscheidet in diesen Eröffnungen dann
darüber, ob daraus ein angenommenes oder ein abgelehntes Gambit
entsteht. Im Fall George Hunekers etwa könnte man annehmen, daß
er einen Teil seiner Persönlichkeit geopfert hat, um in den
Genuß eines Heims und einer Familie zu gelangen. Offenbar erwies sich
dieses Opfer als kritisch, wenn auch nicht ganz auszumachen ist, ob George
Huneker die Partie seines Lebens am Ende gewonnen oder verloren hat. Seine
Frau aber hat mit Sicherheit verloren.
Nachwort zu Coopers »Conanchet«
[Niederschrift 1961; BA III/4, S. 130–169]
-
Nun kam der, sorgsam benützte siebenjährige Europa=Kursus;
wo [Cooper] nicht nur Französisch und Italienisch lernte
– aber wirklich fließend! – (sogar ein paar
Brocken Deutsch; wenn er, schon im hohen Alter, von seiner Frau im Schach
geschlagen wurde, und ihre Freude merkt, schreibt er, obwohl er selbst auch
gern gewonnen hätte, hinter die Tagebuchnotiz noch ein »Besser
so.«); [146]
-
Vgl. oben die Anmerkung zu Siebzehn sind
zuviel!
Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen,
Werk & Wirkung KARL MAY’s
[1963; BA III/2]
-
»Nacht« muß es sein, ja dreimal
»Mitternacht« im Lande der »Merd=es=Scheitan«
(merde und Schei) wenn man die Kerze in
die Mündung der Höhle der Schachmeisterin
stellt – eines Spieles, bei dem man, wenn ich mich recht
erinnere, ganz leicht matt werden kann, (in B & B wird gar ein
»Schach geritten«: MD gegen den Chef der Analer; das
müßte ’ne Partie geworden sein; übrigens ist MD in
diesem Spiel so stark, daß sie nicht zu schlagen ist) – imgrunde
alles recht krasse Ausdrückungen & recht raffinierte
Anekdötchen. [193]
-
Hier sind zuerst zwei Abkürzungen aufzulösen:
-
MD: Marah Durimeh, eine Figur aus dem Spätwerk
Mays.
-
B & B: Babel und Bibel, ein Theaterstück aus
dem Spätwerk Mays.
Dies ist die erste Stelle des Spätwerks, an der Schmidt versucht, aus
Begriffen des Schachspiels sexuell konnotierte Pointen zu gewinnen. Es
würde hier zu weit gehen, die von Schmidt entwickelte
Theorie zu erläutern, die diese Assoziationsarbeit in den
Status einer Erkenntnis heben soll. Die Stelle wird hier nur
angeführt, weil sie einen Umbruch in der Darstellung des Schachspiels
markiert. Von hier an wird Schach zunehmend profaniert und verliert den
Status einer Kunst oder eines besonderen Kulturgutes.
Unsterblichkeit für Amateure
[Niederschrift 1963; BA III/4, S. 322–328]
-
(Und ich möchte jedem Menschen, als reine Scharfsinnsübung,
einmal dies empfohlen haben: sich von einem Freund die der Länge nach in
der Mitte durchgeschnittene Seite eines ihm unbekannten Buches geben zu
lassen; und nun zu versuchen, das Fehlende zu ergänzen. Oder, wenn er das
lieber mag, eine Schachpartie, von der man die weißen Züge hat, zu
komplettieren.) [325]
-
Erstaunlich, daß Schmidt dies jedem Menschen
empfiehlt, während dies in den Dichtergesprächen noch,
ob der damit verbundenen ungeheuerlichen Schwierigkeiten
[I/4, 291], nur vom vorzüglichsten analytischen Kopf des Elysiums,
Edgar Allan Poe, gelöst werden konnte. Das Problem scheint sich mit
den Jahren in Schmidts Vorstellung immer mehr abgeschliffen zu haben und
immer mehr zu einer Phrase geworden zu sein.
Vgl. dazu auch die Anmerkungen zu den Dichtergesprächen und den Berechnungen II.
Eines Hähers »: Tué!« und 1014
fallend.
[Niederschrift 1964; BA III/4, S. 389–400]
-
Oder wie steht nicht für Kenner – tja; wo sind sie? –
mit 1 Zuge der ganze Mann da, wenn ich bei COOPER lese: »18. 1. 48,
Dienstag. Apostelgeschichte. Schlechte Nacht gehabt, weil Zwieback aus Boston
gegessen: Yankee=Ware bekommt mir nie! Gegen Morgen leichtes Schneetreiben;
aber nicht genug, um die abgetauten Stellen wieder zu bedecken. Spaziergang
Großer Fauler Mann: hat man doch tatsächlich den Hain
verhunzt! Ist nunmehr angeblich ein Mahnmal von des Volkes Freiheitssinn
& Ehrlichkeit: ich kenn’ die Brüder; eher
würd’ ich mich auf Sträflinge verlassen! 10. Kapitel von
Openings beendet: dies Buch ist wahrlich keine Liebesmüh, man
bloß Müh. Abends Schach mit Frau. Beim 2. Mal eines ihrer
Blitz=Matts, Ruck=Zuck! (1 solcher Sieg versetzt sie für den ganzen Abend
in gute Laune; ich seh’ das zu gern. – Wird übrigens merklich
fetter; ist aber reiner Mangel an Bewegung in frischer Luft.«
[390]
-
Dieses Zitat ist tatsächlich eine Kompilation von sieben
Einträgen aus James Fenimore Coopers Tagebuch vom Anfang des Jahres
1848. Das von Schmidt gewählte Datum findet sich zwar auch unter den
kompilierten Einträgen, ist aber natürlich auch durch Schmidts
eigenen Geburtstag determiniert. Zur Erwähnung des ehelichen
Schachspiels bei den Coopers vgl. auch oben Siebzehn
sind zuviel! und Nachwort zu Coopers
»Conanchet«.
Zettels Traum
[1970]
-
Das 'Schloß in
Ungarn';(in dem die Schach=Varianten vorkomm';die zur Eröffnunc
'b2 = b4');...(?) [am rechten Rand:]
((:mit 'b4 -b5' als
Fortsetzunc... [ZT 11]
-
Dies ist offensichtlich eine Anspielung auf den ersten Teil des Fragments
Die Insel, der Das Schloß
in Böhmen überschrieben ist, in dem allerdings keine
Varianten zu Orang-Utan (s.o.) zu finden sind. Schmidt
schreibt in Zettels Traum die Erzählung Das
Schloß in Ungarn einem Alter ego des Erzählers Daniel
Pagenstecher zu, einem Schriftsteller, der angeblich um 1850 von
ortsansässigen Bauern ermordet worden sei und seitdem die Gegend als
Geist unsicher mache. Diese Schauergeschichte, die zudem auch noch auf
einem Grundstück mit dem Namen Schauerfeld erzählt
wird, ist aus mehreren Gründen recht fadenscheinig, nicht zuletzt
deshalb, weil Orang-Utan als Eröffnung 1850 kaum schon erfunden war.
-
(& 1 Seite davor erscheint
'das geheime TriebWerck d berühmten hölzernen
Schachspielers...' -also POE's VAN KEMPELEN...)) [ZT 417,
linke Spalte]
-
Zum Türken vgl. oben die Anmerkung zu Der junge Herr Siebold.
-
:"HasDe Ihr übrijns
SchachSpieln beigebracht,Paul ? - 's gehört ja ganz einfach zur
geistig'n Garnitur eines Menschen.")) [ZT 476, rechte
Spalte]
-
In der Hauptspalte geht es an dieser Stelle um Franziska Jacobis schulische
Leistungen, und dem Erzähler Daniel Pagenstecher fällt diese
Frage en passant ein. Obwohl wir die Antwort von Franziskas Vater Paul
nicht zu lesen bekommen, können wir aus dem ja des
zweiten Satzes wohl entnehmen, daß er es getan hat. Zwar erscheint
hier das Schachspiel noch als Teil der vollständigen Bildung eines
Menschen, aber die besondere Hochschätzung als Kunst, die
das Spiel in den Juvenilia und dem Frühwerk genießt,
wird nicht mehr erwähnt. Wie wir gleich lesen werden, ist das
Schachspielen inzwischen zum Künstlein degradiert
worden.
Nebenbei sei hier angemerkt, daß diese Stelle die von Klaus Pauler
vorgenommene Zuordnung des Rösselsprungquadrats auf S. 234 zur Figur
Franziskas in Frage stellt, da Daniel Pagenstecher dann auf S. 476
wüßte, daß Franziska Schach spielen kann. [Vgl. Klaus
Pauler: Roessel- und andere Spruenge in ZETTELS TRAUM. In:
Zettelkasten 3. Hg. v. Karl-Keinz Brücher. Frankfurt/M.: Bangert &
Metzler, 1984. S. 11–32.]
-
: in den 'Ostblockstâttn' dürfn gewisse
'wortlose Künstlein' blühen - so Tanz, Eislauf, Musik,
Mathematik & Schach. [ZT 532]
-
Eine ähnliches Ressentiment war schon in Schwarze
Spiegel aufgetaucht und hatte sich in Die
Geschichte vom Riesen Jermak positiv gewendet wiederholt. Die
Nennung des Schachspiels zusammen mit
Eis[kunst]lauf – die
Kunst wird hier wohl absichtlich weggelassen worden sein
– und Tanz (vgl. oben die Anmerkung zu Aus dem
Leben eines Fauns) lassen den Grad erahnen, in dem das Schachspiel
in der Wertschätzung des Autors gefallen ist. An dieser Stelle wird
als Grund für die Abwertung die Wortlosigkeit dieser
Künstlein angeführt, obwohl dann später gerade die Bezeichnungen des Schachs dazu
dienen, das Schachspiel und seine Spieler zu psychoanalysieren. (Vgl. auch
unten.)
-
dasheißt : früher,so vor
30 Jahren, wär'Ich ooch n paar Kilometer gereist, um Mich von
Aljechin schlagn zu lassn;(oder war's Bogoljuboff gewesn ? Der hatte gegn
uns 20 simultan=gespielt - natürlich mit dem (ihm wohl
vertraglich=auferlegten ?) Ergebnis : also 17 schlagn; mit 2 Remis machn; 1
gewinn'n lassn;(Ich war bei den 17 gewesn) [ZT 547]
-
Alexander Aljechin (1892–1946), russischer
Schachspieler, war, nachdem er 1927 Raoul Capablanca geschlagen hatte, mit
einer Unterbrechung zwischen 1935 und 1937 bis zu seinem Tod
Schachweltmeister. Aljechin entstammte einer wohlhabenden Familie, verlor
aber durch die Oktoberrevolution all seinen Besitz und lebte ab 1920 im
Exil, hauptsächlich in Frankreich, hat aber bis zum Beginn des Zweiten
Weltkriegs immer auch am aktiven Schachleben in Deutschland regen Anteil
genommen. Für 1936 läßt sich eine Simultanveranstaltung in
Dresden nachweisen, die etwa für eine biographische
Unterfütterung dieser Textstelle in Frage käme. Die
Merkwürdigkeit, daß diese Erwähnung Aljechins
überhaupt die einzige Nennung eines der vier ersten Schachweltmeister
ist, wurde oben bereits einmal festgestellt.
Efim Bogoljubow (1889–1952), geboren in der Ukraine,
war seit 1927 deutscher Staatsbürger. Er spielte 1929 und 1934 mit
Aljechin um den Weltmeistertitel, verlor beide Wettkämpfe aber
deutlich. Von Mitte der 20er bis zum Anfang der 30er Jahre war Bogoljubow
einer der führenden Spieler der Welt, was zahlreiche Turniererfolge
belegen. Sein Einfluß auf das Schach im Vorkriegs-Deutschland
muß als bedeutend angesehen werden. Bogoljubow käme als ein
Kandidat für eine biographische Verankerung der Textstelle weit eher
in Frage als Aljechin, da er in den 30er Jahren unzählige
Simultanveranstaltungen in ganz Deutschland gespielt haben dürfte.
Beim Simultanspiel spielt ein
einzelner Spieler gleichzeitig gegen mehrere Gegner. Dies ist eine
populäre Gelegenheit für Amateure, einmal gegen einen
Großmeister spielen zu können. In der Regel hat der
Meisterspieler an allen Brettern die weißen Figuren und bewegt sich
in einem Ring aus Tischen von Brett zu Brett. Seine Gegner sind gehalten,
ihren Zug zu machen, wenn der Meister an ihr Brett tritt; dies führt,
nachdem schon etliche Partien beendet sind, zu immer kürzeren
Bedenkzeiten, wobei erfahrungsgemäß die Spielstärke von
Amateuren deutlicher nachläßt als die von Meistern. (Vgl. auch:
GM Anand bei einer Simultanveranstaltung)
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(Er, B., hatte ein RiesenBierglas
an den Mund geführt, es ,ohne abzusetzen,geleert;&
angemerkt:'Das war auch ein starker Zug.-' [ZT 547,
rechte Spalte]
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Dies mag als ungesicherte Anekdote über Bogoljubow hier einfach ohne
weiteren Kommentar so stehen bleiben.
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('Schach=spielen':och so'ne Beschwichtijung des Ich
& ÜI durch Vorgauk'lung einer
sauberern'gerechteren',klein=höllzernen Welt) [ZT 776,
rechte Spalte]
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Auch dies nimmt negativ gewendet ein Motiv wieder auf, das wir schon in Dichter und ihre Gesellen und Die 10 Kammern des Blaubart angespielt fanden: Das
Schachspiel als Fluchtwelt, die aufgrund ihrer ausreichenden
Komplexität als Surrogat für die Wirklichkeit dient. Nur wird
dieser Gedanke in Zettels Traum vom Protagonisten negativ
bewertet: Im Schach werden Ich & ÜI (Schmidts
Abkürzung für das Freudsche Über-Ich) durch eine
Vorgaukelung beschwichtigt, während der wahre
Künstler sich mittels sprachspielerischem Humor aus der Misere der
Wirklichkeit befreit und lachend den Forderungen der
Realität begegnet. Spätestens mit Zettels
Traum wird die Bandbreite der möglichen Fluchtwege radikal
eingeschränkt: Von hier kann allein die Literatur noch eine
vollwertige Gegenwelt bieten, und auch das nur in ihrer höchsten
Ausprägung gemäß dem Schmidtschen Kanon. Die
anderen Wege, auf die der Erzähler des
Leviathan noch hoffte [vgl. I/1, 54], sind alle der feindlichen
Realität zugeschlagen. Rettung liegt von hier an einzig
noch im Wort.
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('in Zeitnot',wie man beim Schach sagt) [ZT
896]
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Eine von zwei Stellen, an denen Schmidt von der Zeitbegrenzung beim Schach
durch Schachuhren spricht. Wie bereits erwähnt wurde seit der Mitte
des 19. Jahrhunderts im Wettkampfschach die Bedenkzeit für die beiden
Spieler begrenzt. Dies geschieht mittels Schachuhren, klassischer Weise
zwei über eine Mechanik miteinander verbundene Uhren, von denen die
eine in Gang gesetzt wird, wenn man die andere anhält. Zur Zeit ist in
deutsche Ligen eine Bedenkzeit von zwei Stunden für die ersten 40
Züge und einer weiteren Stunde für den Rest der Partie
üblich, so daß eine Partie spätestens nach sechs Stunden
beendet ist. Verbraucht ein Spieler seine Bedenkzeit bevor er die
erforderliche Anzahl von Zügen gemacht hat bzw. verbraucht er seine
gesamte Bedenkzeit eher als sein Gegner, verliert er die Partie. Die
Annäherung an die Zweistunden- und die Dreistundenmarke nennen
Schachspieler Zeitkontrolle. In Zeitnot ist ein
Spieler traditionell dann, wenn ihm weniger als 15 Minuten Bedenkzeit bis
zur Zeitkontrolle verbleiben und er zugleich für jeden Zug, den er
innerhalb der verbleibenden Zeit machen muß, durchschnittlich weniger
als eine Minute zur Verfügung hat.
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:spielt Ihr eigntlich noch 'Schach' zusamm' ?
-";('höchstenS zu
Feiertagn'?;schade):" 's'ss eins der
gu-/besten Mittl, um eheliche AggressionsGelüste
abzureagier'n...? [ZT 927]
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Auch dies ein Motiv, das Schmidt schon mehrfach thematisiert hat,
allerdings bis dahin immer im Zusammenhang mit Cooper (vgl. Siebzehn sind zuviel!, Nachwort zu
Coopers »Conanchet« und Eines
Hähers »: Tué!« und 1014 fallend.)
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dâ;nebm'm Go=Spiel;"
(und Er säufzDe. Dann,auf Meine Frage)) : "I=wo. Son japanischer
Bluff; - pure SchlachtNachahmung,wie alle diese Brettspiele,(und wenn's
'Dame' iss). - Mir hat's ma n Verleger beibringen wolln,('ch
nenn keene Nam');und ich hab''m zugehört,weil ich den Ufftrag
brauchte. So das übliche Asiatische Gefâsl : da soll's
'unvergleichlich=viel=schwerer' sein als Schach,(die Meister teilen
sich in 88 Grade ein : kein Europäer hat auch nur den 3.=von=untn
erreicht !);:vom 8.=an darfsDe bloß noch im Steh'n fikkn; jenseits
des 16. genießDe keene irdischn Speisn mehr; und so geht'as weiter :
die arschnackte Sektiererei ! [ZT 976]
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Die einzige Stelle im Schmidtschen Werk, an der das Go-Spiel erwähnt
wird. Das Go (das Wort Go ist japanisch; auf Chinesisch
heißt das Spiel Wei-Chi) hat seinen Ursprung in China und ist der
Legende nach 4000 Jahre alt. Spielbrett und Spielsteine sind jedenfalls in
einer sehr frühen Epoche der chinesischen Kultur entstanden und
dienten ursprünglich wahrscheinlich astronomisch-astrologischen
Zwecken. Das Spiel in seiner heutigen Form manifestierte sich wohl im 8.
Jahrhundert v.u.Z. und existiert seitdem prinzipiell unverändert fort.
Go wird auf einem zu Anfang leeren, mit 19 horizontalen und 19 vertikalen
Linien versehenen Spielfeld gespielt. Die Spieler setzen abwechselnd Steine
auf einen der 361 Schnittpunkte dieser Linien, der eine Spieler die
weißen, der andere die schwarzen Steine, wobei der Spieler mit den
schwarzen Steinen beginnt. Ziel des Spieles ist es, auf dem Brett mit den
eigenen Steinen Gebiete abzugrenzen und so zu sichern, daß es dem
Gegner nicht möglich ist, innerhalb dieser Gebiete Steine abzulegen,
ohne daß diese geschlagen werden können. Wer sich am Ende der
Partie das größere Gebiet gesichert hat, gewinnt das Spiel.
Go hat einen deutlich anderen Charakter als das Schachspiel, da das
strategische Element gegenüber dem taktischen ein deutliches
Übergewicht hat. Dem Schlagen von Steinen kommt ein sehr viel
geringere Bedeutung zu als im Schach, wo etwa der Gewinn eines Läufers
oder Springers bereits spielentscheidend sein kann. Wie schwierig dieses
Spiel ist, läßt sich vielleicht auch daran ablesen, daß
Schachprogramme inzwischen eine Stärke erreicht haben, die mit der der
besten menschlichen Spieler zu vergleichen ist, während Go-Programme
trotz Auslobung lukrativer Preise bislang höchstens auf dem Niveau
eines mittleren Amateurs spielen. Der Internationale Schachmeister und
Vize-Europameister im Go Jürgen Dueball sagte mir zu diesem Thema
einmal: Es gibt nur zwei Arten von Spielen: Die eine ist Go, und der
Rest ist Quatsch!
Die Go-Spieler kennen zum Vergleich ihrer Spielstärke ein System von
Rangstufen, in dem der Anfänger etwa den 30. Kyu einnimmt. Bei
wachsender Spielstärke nimmt die Zahl erst ab, bis der Schüler
den 1. Kyu erreicht. Danach kann er den ersten Meistergrad, den 1. Dan
erlangen. Das System findet seine Grenze beim 9. Dan; allerdings werden die
Amateur-Grade nochmals von den Profi-Dans übertroffen (ähnliche
Einteilungen finden sich auch in den asiatischen Kampfsportarten). Die
Rangstufen sollen immer in etwa einem Unterschied von 10 Punkten bei der
Endabrechnung einer Partie entsprechen, d.h. ein Spieler, der den 2. Kyu
inne hat, sollte gegen einen 1. Dan mit ca. 20 Punkten verlieren. Um das
Spiel unterschiedlich starker Spieler interessanter zu machen, kann dem
schwächeren Spieler auch eine Vorgabe eingeräumt werden, die sich
an der Differenz im Rangsystem orientiert.
Arno Schmidt hat das Go-Spiel durch seinen Greiffenberger Vorgesetzten
Johannes Schmidt kennengelernt:
Verwunderlich – und für mich enttäuschend – war,
daß ich Arno Schmidt nicht für das (japanische bzw. chinesische)
Go gewinnen konnte. Zwar hatte er in einigen Minuten die so
genial-einfachen Grundregeln begriffen, und er schenkte auch der
Demonstration einer Spiel-Eröffnungsphase [
] gnädige
Aufmerksamkeit; aber dabei blieb es. [Johannes Schmidt:
»
jene dunklen Greiffenberger Jahre«. In:
»Wu Hi?« Arno Schmidt in Görlitz Lauban
Greiffenberg. Hg. v. Jan Philipp Reemtsma und Bernd Rauschenbach.
Zürich: Haffmans, 1986. S. 136]
Daß sich Schmidt für Zettels Traum dieser alten
Einführung in das Spiel erinnerte, dürfte seinen Grund in dem
zentralen Gesprächsgegenstand der Figuren des Romans haben: dem Werk
Edgar Allan Poes. Schmidt liefert mit dieser Passage eine Parallele zu
jener oben bereits teilweise zitierten Stelle gegen
das Schachspiel am Anfang von Poes Erzählung The Murders in the
Rue Morgue. Ähnlich ver-, an- und umgewandelt finden sich viele
Poe-Motive in Zettels Traum wieder.
-
(Du,vo''m 'Japanischen
SchachMeister' hab Ich aber Mein Lebtag noch nischt gehört
!) [ZT 976, rechte Spalte]
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Daß Daniel Pagenstecher, der Erzähler von Zettels
Traum, noch von keinem japanischen Schachmeister
gehört hat, ist für die 60er Jahre nicht weiter verwunderlich.
Bis heute führt die internationale Schachorganisation FIDE keinen
japanischen Schach-Großmeister in ihren Listen. Das rührt nun
nicht etwa daher, daß die Japaner von Natur aus zum Schach nicht
befähigt wären, sondern liegt schlicht daran, daß sie mit
dem Shogi eine eigene Schachvariante besitzen, die wahrscheinlich denselben
Ursprung hat wie das europäische Schach und in etwa gleich alt sein
wird. Shogi wird auf einem 9×9-Brett gespielt; alle Spielsteine haben
die gleiche Farbe und zeigen nur durch ihre Form an, welchem Spieler sie
gehören. Dies hat den Grund, daß im Shogi die Spieler
ersatzweise für das Ziehen eines Steins einen geschlagenen
gegnerischen Stein auf einem freien Feld wieder einsetzen können.
Außerdem hat das Shogi andere Promotionsregeln als das
europäische Schach: Jeweils die letzten drei Reihen stellen die
Festung des Spielers dar. Ein Stein, der in die gegnerische Festung zieht,
wird zu einem höheren Rang promoviert, wobei dieser Rang nicht vom
Spieler frei gewählt wird, sondern vom Ausgangswert der Figur
abhängig ist. Jeder Spielstein trägt daher auf seiner Unterseite
den höheren Rang, so daß der Stein beim Betreten der
gegnerischen Festung einfach herumgedreht werden kann. Shogi ist in Japan
neben Go weit verbreitet und sehr beliebt. Angesichts der Tatsache,
daß die Japaner gleich über zwei große Traditionen
strategischer Spiele verfügen, die dem Schach an Komplexität
zumindest gleichwertig, wenn nicht gar überlegen sind, ist es nicht
verwunderlich, daß das europäische Schach dort nur auf wenig
Interesse trifft.
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Mit Thränen im Auge
hab'Ich Se,(wie oft !),beschworen, doch der
Unsterb/& endlichkeit zu gedenkn - wàs
ha'm Se erwidert ?:dá=für sey das Ihn'n geläufichsde
Symbol 'Remis durch Dauerschach';(Se war'n grade dabei,
zusamm'n MIESES=DUFRESNE durchzuarbeitn - [ZT 1280]
-
Daß das weit verbreitete Lehrbuch des Schachspiels von
Dufresne und Mieses eine Hauptquelle für Schmidts Schachwissen
darstellte, wurde bereits mehrfach erwähnt.
Remis durch Dauerschach oder das ewige Schach
erläutert die 11. Auflage (1926) des Lehrbuchs an der
nebenstehenden Stellung wie folgt:
In [dieser] Stellung z. B. kann ein ewiges Schach herbeigeführt
werden. [Diagramm] Weiß bietet mit Dame auf f 8 Schach. Der schwarze
König muß auf h 7 gehen, alsdann bietet Weiß mit der Dame
auf f 7 Schach und zwingt den König, nach h 8 zurückzukehren,
dann bietet Weiß wiederum auf f 8 Schach usw.
Weiß macht also das Spiel durch ewiges Schach unentschieden,
während es sonst verloren wäre; [S. 30 f.]
Über diesen letzten Satz sollte man vielleicht im Zusammenhang von
Unsterblichkeit & Unendlichkeit, in den dies in
Zettels Traum doch immerhin eingestellt ist, noch einmal
ausführlicher nachdenken.
Die Schule der Atheisten
[1972; BA IV/2]
-
Nu zum Exempel das SchachSpielen; dem viele Schriftsteller
zugetan sind; (anscheinnd ohne es als Aufbau=, als
KonstruktionsÜbung zu erKennan – !) [150]
-
Dies erinnert wieder an die Redeweise von der klein=höllzernen
Welt des Schachspiels in Zettels Traum (s.o.) und den damit verbundenen Gedanken des Schachs als
eigenständige Gegenwelt zur Wirklichkeit (vgl. auch Dichter und ihre Gesellen und Die
10 Kammern des Blaubart). Dieses Motiv erscheint hier sozusagen in
handwerklicher Anverwandlung. Wie so viele poetologische Einfälle
Schmidts, bleibt auch dies recht abstrakt, und es erscheint recht
schwierig, sich diese Idee im konkreten Prozeß vorzustellen, falls
denn der Satz mehr besagen soll, als daß sich Roman- und
Schachfiguren nach je eigenen Regeln umeinanderbewegen.
-
BUTT: »Was?! –: Wie!? –: –: Das
Ballett: keine=Kunst!? –«
SCHWEIGHÄUSER: »Genau so=wenich wie EiskunstLauf;
SchachSpiel; oder GewichtHebm
[165]
-
Auch dies war ähnlich schon in Zettels
Traum zu lesen gewesen.
-
»Sie sind
Schachspieler?« (Nadda wern Se sich ja wundern
über Ihr Ludes Latrinculorum): »Ich mache Mich
anheischich: lediglich aus der LieblingsEröffnung eines Menschn
seine TriebAusrichtung zu erkenn! [174]
-
Beim Ludus latrunculorum, dem
Söldner-Spiel. handelt es sich um ein römisches
Brettspiel von dem wir nur wenig wissen. Ziel des Spieles war wohl, alle
gegnerischen Spielsteine, die latrones, latrunculi
(beides von lat. latro, der Söldner) oder
milites (lat., Soldat), zu schlagen. Geschlagen wurden
gegnerische Steine wohl dadurch, daß sie zwischen zwei eigenen
Steinen eingeschlossen wurden. Als Spielbrett diente ein
schachähnliches Brett von 8×8, 9×9 oder auch 11×14
Feldern, wobei die Spielsteine die Linien, nicht die Felder besetzten.
Schmidt Verschreibung des Spielnamens zu latrinculorum
deutet schon an, in welche Richtung die nachfolgende lange Passage geht.
Zur Ermittlung der Triebausrichtung eines Menschen werden
übrigens im weiteren nicht Charakteristika der entstehenden Stellungen
herangezogen, sondern sie erfolgt ausschließlich durch
Analyse der Namen, die die Eröffnungen tragen; erstaunlich
bei einem angeblich wortlosen Künstlein (s.o.).
Da es sich bei der Figur Butt, die dies und das weitere
vorträgt, um eine Art philosophischen Hanswurst handelt,
sollte es nicht zu ernst genommen werden. Ich beschränke mich daher
auf sachliche Erläuterungen und überlasse tiefer reichende
Kommentare Berufeneren.
-
BUTT (also Ich seh ma ganz von den
gröberen Erwägungin, à la ABRAHAM, ab; aber):
»Sämtliche EheLeute solltn, von=standesamtswegn, zum mit=einander
(richt’jer gegen=einander) Schachspiel’n, verpflichtet
werdn: bezwecks Abreagieren der schlimmstn sadistischn Agression’n!; (1
Beispiel für=Alle: COOPER & seine – (Ich will Ihr’n
AschenKrug gar nich unnötich rüttln) – hyper=Victorianische
Augusta!)«; (so; und jetz wappnen Se sich, mon
Signore!« –: ? –: [174]
-
Äußerungen des Psychoanalytikers Karl Abraham zum Schachspiel
sind mir nicht bekannt; für Hinweise
bin ich dankbar. Mag sein, Schmidt spielt damit nur auf das von ihm gern
zitierte there is something in names an, in
dessen Zusammenhag er auch Karl Abraham einmal erwähnt [vgl. BA III/4,
434].
Zum Schachspiel unter Eheleuten vgl. oben: Siebzehn
sind zuviel!, Nachwort zu Coopers
»Conanchet«, Eines Hähers
»: Tué!« und 1014 fallend und Zettels Traum.
-
(1.) Eröffnungin: = Öffnung = Ø, und
deren Öffnin: das KÄSE=RITZKI=Gambit. (Kann auch
Müttel=Gambit sein; (&=immer plus dar il
gambetto (+ Bett) ein Bein=stellen). /:
Caro, (= der Geliebte), kann!; (CARO=Cann). / Wenn SIE nicht=mag,
ist’s ein abgelehntes DamenGambit; (’S gibt aber auch
ein angenommenis; das nicht=selt’n, in einer
Hänge=Partie endit.). – Gibt ein Cunny(ng)=Ham=Gambit.
/ Das KönigsSpringerSpiel verweist auf den
KönigsSprunc. / Das EVA(n)S=Gambit. /
Po/unziani’s ErÖffnunc. / DamenBauer gegn
KönigsBauer. / Oder ziehen Sie Indisch vor?; (= es war
doch schön, französisch!. /
phil’i’d’Ors=Gambit. – [174]
-
Beim Kieseritzky-Gambit handelt es sich um eine
Variante des Königsgambits, benannt nach Lionel Kieseritzky
(1806–1853), der dadurch im Gedächtnis der Schachspieler
geblieben ist, daß er Adolf Anderssens Gegner in der Unsterblichen war.
Das Mittelgambit ist gekennzeichnet durch die Stellung,
die nach 1.e4 e5 2.d4 entsteht (Diagramm rechts). Zu dem von Schmidt
richtig mit ein Bein stellen übersetzten
Begriff Gambit vgl. oben den Kommentar zu Die 10 Kammern des Blaubart. Die
Caro-Kann-Eröffnung, die nach den Zügen 1.e4 c6
entsteht (Diagramm unten), wurde von dem Wiener Schachspieler Markus Kann
in der 80er Jahren des 19. Jahrhunderts erfunden und später unter
Federführung des englischen Spielers Horation Caro in die
Turnierpraxis eingeführt. Sie wird auch heute noch auf höchstem
Niveau gespielt. Beim Damengambit handelt es sich um die Züge
1.d4 d5 2.c4, wobei das angenommene durch den Zug 2
dxc4 entsteht, während das abgelehnte Damengambit
eine ganze Reihe von Verteidigungssystemen umfaßt. Auch das
Damengambit gehört zu den ältesten Eröffnungen, die schon in
den frühen Schachlehrbüchern worden beschrieben sind. Die meisten
der möglichen Verteidigungssysteme werden in der heutigen
Turnierpraxis auf allen Niveaus gespielt.
Bei einer Hängepartie handelte es sich um ein
Verfahren, das heute aus der Turnierpraxis gänzlich verschwunden ist.
Bis vor einigen Jahren war die Bedenkzeit für eine Schachpartie in der
Regel nicht absolut begrenzt, sondern richtete sich auschließlich
nach der Anzahl der gespielten Züge. So war eine Bedenkzeitregelung
von zwei Stunden für die ersten 40 Züge und danach jeweils einer
Stunde für weitere 20 Züge durchaus üblich. Partien, die 80
Züge oder mehr aufwiesen, konnten sich daher beachtlich in die
Länge ziehen. War nach einer bestimmten Gesamtspielzeit (z. B. sechs
oder acht Stunden) die Partie immer noch nicht beendet, so wurde sie
unterbrochen. Der am Zug befindliche Spieler führte seinen
nächsten Zug nicht auf dem Brett aus, sondern notierte ihn auf einem
Formular, das in einem Umschlag verschlossen wurde. Auf dem Umschlag wurden
die Abbruchstellung, die verbrauchte Zeit beider Spieler etc. notiert und
der Umschlag wurde vom Schiedsrichter in Verwahrung genommen. Beide Spieler
hatten nun das Recht, bis zur vereinbarten Wiederaufnahme der Partie die
entstandene Stellung zu analysieren, auch mit der Unterstützung von
Trainern, Vereinskollegen, Büchern etc. In einzelnen Fällen ergab
eine solche Analyse einen eindeutigen Gewinnweg für eine Seite, so
daß die Hängepartie nicht wieder aufgenommen wurde, bzw. gleich
nach dem Ausspielen des in den Umschlag gegebenen Zuges beendet war. Es
gibt aber auch Beispiele für Partien, die durch gleich zwei
Hängephasen gegangen sind. Mit dem Anwachsen der Spielstärke der
Computerprogramme und der Möglichkeit, solche Programme auch auf
Laptops einzusetzen, wurde die Idee der Hängepartie zunehmend obsolet,
da man in den meisten Fällen faktisch zwei Rechner den Ausgang der
Partie hätte entscheiden lassen. Es wurde daher dazu
übergegangen, die Bedenkzeit für eine Partie absolut zu
begrenzen. Zur Zeit wird in den deutschen Ligen mit folgender
Bedenkzeitregelung gespielt: Zwei Stunden für die ersten 40 Züge,
eine Stunde für die folgenden 20 und eine halbe Stunde für den
Rest der Partie, so daß ein Spiel spätestens nach sieben Stunden
beendet ist. Sollte ein Spieler die Zeit überschreiten, bevor er die
nötige Anzahl von Zügen gemacht hat oder die Partie anderweitig
beendet wurde, verliert er das Spiel. Natürlich kann aus jeder
Eröffnung heraus eine Hängepartie entstehen, nicht nur aus dem
Angenommenen Damengambit.
Auch das Cunninham-Gambit, benannt nach dem Schotten
Alexander Cunningham, ist eine Variante des Königsgambits. Der Begriff
Königsspringerspiele bezeichnet eine ganze Gruppe von
Eröffnungen nach 1.e4 e5 2.Sf3 (Diagramm rechts),darunter auch das Evans-Gambit, eine Variante der Italienischen
Eröffnung, benannt nach dem englischen Captain W.D. Evans. Das
Evans-Gambit ist in letzter Zeit wieder häufiger in der Turnierpraxis
zu finden. Die Ponziani-Eröffnung gehört zu den
ältesten Eröffnungssysteme, wird aber in der heutigen Praxis kaum
mehr gespielt. Sie ist benannt nach Domenico Lorenzo Ponziani, einem Vertreter der Schachschule
von Modena, der mit seinem Buch Il giuoco incomparabile degli
scacchi (1769) einen wichtigen Beitrag zur Schachtheorie seiner Zeit
leistete. Damenbauer gegen Königsbauer ist die in
älteren Auflagen des Lehrbuch des Schachspiels von Dufresne
und Mieses gebrauchte Umschreibung für die Skandinavische
Verteidigung; vgl. dazu oben die Anmerkung zu Dichtergespräche im Elysium. Mit
Indisch bezeichnen Schachspieler eine ganze Gruppe von
Eröffnungen gegen 1.d4. Zur groben Einordnung mag genügen,
daß diese Systeme darauf verzichten, dem weißen Damenbauern auf
d4 den eigenen Damenbauern direkt entgegenzusetzen, sondern versuchen, mit
dem Zug 1
Sf6 Einfluß auf das Zentrum zu gewinnen (Diagramm
oben). Französisch, das heißt die
Französische Verteidigung, ist eines der Hauptsysteme von Schwarz
gegen 1.e4. Auch dieser Partieanfang wurde schon früh erwähnt,
erhielt seinen heutigen Namen aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts nach
einer Fernpartie
zwischen Westminster und Paris. Das Philidor-Gambit schließlich ist
einmal mehr eine Variante des Königsgambits.
-
2.) das verw(r)igglte MittelSpiel! um den BeSitz des scent=Trumms;
(die Weiße, die Schwarze Dame!: oh ZeitNot & ZuckZwang!; (aber
die einmal berührte Figur muß gezogn werdn!;
[174]
-
Mittelspiel wird jene Partiephase genannt, die sich
unmittelbar an die Eröffnung anschließt. Hat die Eröffnung
das Ziel die Figuren aus der Grundstellung heraus zu entwickeln, den
König durch die Rochade in eine sichere Position zu bringen und
eventuell schon Schwächen in der gegnerischen Stellung zu provozieren,
so wird im Mittelspiel versucht, über den Gegner einen positionellen
oder materiellen Vorteil zu erlangen, oder auch, wenn es der Gegner
erlaubt, ihn in einem Angriff matt zu setzen, bzw. im Gegenzug alle diese
Schwächungen und den Partieverlust zu vermeiden. Während in der
Eröffnung die Kenntnis der Theorie von entscheidender Bedeutung ist,
dominieren im Mittelspiel strategische und taktische Kreativität und
Phantasie. Das Mittelspiel ist jene Partiephase, die sich am wenigsten
systematisieren läßt.
Zum Begriff des Zentrums vgl. oben die Anmerkung zu Das steinerne Herz, zur
Zeitnot oben die Anmerkung zu Zettels Traum.
In Zugzwang befindet sich ein Spieler dann, wenn er seine
Stellung durch jeden möglichen Zug zum Verlust verdirbt, während er
in derselben Stellung nicht besiegt werden könnte, wäre er nicht am
Zug. Die einfachste Zugzwangstellung zeigt das nebenstehende Diagramm:
Befindet sich Schwarz in dieser Stellung am Zug, so verliert er, da Weiß
gleichgültig, wie Schwarz spielt die Umwandlung des Bauern erzwingen
kann. Wäre dagegen Weiß am Zug, so gäbe es keinen Weg zum
Gewinn, da der schwarze König stets die Opposition der Könige
erzwingen kann und so den Vormarsch von König und Bauern neutralisiert.
Schwarz am Zug befindet sich daher hier in Zugzwang. Das Phänomen des
Zugzwangs tritt allerdings weit häufiger im End- als im Mittelspiel auf.
Nebenbei bemerkt: Zugzwang und Zeitnot sind aus dem
Deutschen in andere Sprachen übernommen worden: Sowohl englische als auch
französische und italienische Schachspieler sprechen vom
Zugzwang oder Zeitnot; die Amerikaner erlauben sich
sogar, ein Verb aus dem Substantiv Zugzwang abzuleiten, wie der hübsche
Buchtitel To Zugzwang the Zugzwanger zeigt.
Daß die einmal berührte Figur gezogen werden
muß, lernt der junge Schachspieler als eine der ersten
Verhaltensregeln am Brett über die eigentlichen Bewegungen der Figuren
hinaus, indem ihm jedesmal der Merksatz Berührt,
geführt! vorgesagt wird, wenn er wieder einmal unschlüssig
zwischen den möglichen Zügen umherirrt und sich immer, wenn er
sich gerade entschließen will, der Partie eine überraschende
Wendung zu geben, ein neuer Aspekt und Gedanke zwischen den Plan und seine
Verwirklichung schiebt. Alle Schachspieler neigen zur nachträglichen
Idealisierung ihres Spiels: Man hätte nur an der und jener Stelle dies
oder jenes spielen müssen, dann hätte man die Partie
unmöglich verlieren können. Niemand denkt bei diesem Satz mit,
daß dieser oder jener andere Zug ja mindestens ebensoviele
Möglichkeiten geboten hätte, die Partie im weiteren Verlauf noch
zu verderben, wie der tatsächlich geschehene. Und die Analyse post
mortem ist ein sehr weites Feld. Um die phantastischen Möglichkeiten
des Anderen wenigstens im Verlauf einer konkreten Partie im Zaum, das
heißt in den Köpfen der Spieler zu halten, gilt eben jene alte
Regel: Berührt, geführt!, oder wie es der Bergische
Schachspieler kürzest auf den Punkt bringt: Anjepackt!
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3.) das EndSpiel, (= am Ende spielen: dàs kann auch den
GroßMastur zum SelbstMatt führin! – was Onan
wäre). / Denn=nun komm’ Ausdrükkungn, wie: die Dame
macht den Könich matt! (= ist die stärkere Figur!) / ein
Bauern=Opfer! / Jemandem einen Doppl=Bauern machn. / Ein
lu/üstich erstikktis Matt;
(durch’n geschikktn Springer herbeigeführt: unter dem
Anschein größter Einfachheit lauern hier, Mitt=unter, die
verstecktestin Feinheitn, MIESES=DUFRESNE. [174 f.]
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Ins Endspiel geht eine Partie dann über, wenn das
Material beider Seiten soweit abgetauscht ist, daß die beste Aussicht
zum Gewinn der Partie in dem Versuch besteht, einen Bauer etwa in eine Dame
umzuwandeln. Trotz reduziertem Material erweist sich das Endspiel nicht als
minder komplex als das Mittelspiel oder die Eröffnung. Bei der
Behandlung von Endspielen kommt es sehr häufig auf die sogenannte
Technik an, also das Wissen, wie sich bestimmte Stellungstypen
grundsätzlich gewinnen bzw. verteidigen lassen. Im Endspiel trennt
sich endgültig die schachspielerische Spreu vom Weizen; niemand kann
heute hoffen, in die Weltelite der Schachspieler aufzusteigen, der nicht
über eine weit überdurchschnittliche Endspieltechnik
verfügt.
Der Titel Großmeister für Schachspieler
existiert seit dem Internationalen Turnier in St. Petersburg 1914. Für
dieses Turnier hatte Zar Nikolaus II. die Schirmherrschaft übernommen
und die bedeutende Summe von 1000 Rubeln zum Preisfonds beigesteuert. Das
Turnier wurde vom Weltmeister Emanuel Lasker vor Raoul Capablanca,
Alexander Aljechin, Siegbert Tarrasch und Frank Marshall gewonnen. Auf dem
Abschlußbankett verlieh der Zar diesen fünf ersten Spielern
offiziell den Titel Großmeister des Schach, der sich
seitdem für die Spieler der Weltelite gehalten hat. Heute verleiht die
Weltschachorganisation FIDE drei Titel: den des FIDE-Meister
(FM), den höheren des Internationalen Meister (IM) und als
höchsten den des Internationalen Großmeisters (GM).
Die Erlangung der Titel ist an genau definierte Bedingungen geknüpft,
was allerdings nicht wirklich dazu geführt hat, die Titel vor
inflationären Tendenzen zu bewahren. Aber auch heute noch gilt die
Erlangung des Großmeister-Titels in jungen Jahren als bestes Indiz
für ein hoffnungsvolles Talent.
Beim Selbstmatt handelt es sich um eine Variante des
Märchenschachs, worunter man alle Schachprobleme zusammenfaßt,
die mit einem erweiterten Figurensatz oder unter Variation der Regeln
arbeiten. Bei Selbstmatt-Aufgaben zieht Weiß an und zwingt Schwarz,
ihn in der geforderten Anzahl von Zügen matt zu setzen. Als Selbstmatt
wird scherzhaft auch das Übersehen eines einzügen Matts
bezeichnet.
Ausdrücke, wie: die Dame macht den König
matt kommen zumeist gar nicht vor, da es nicht matt
machen, sondern matt setzen heißt. Daß die
Dame allerdings eine stärkere Figur als der
König ist, gilt nicht nur fürs Endspiel, sondern für die
ganze Partie schlechthin, ja im Endspiel eher weniger, da in ihm der
König aufgrund der eingeschränkten Möglichkeiten, matt
gesetzt zu werden, eher an Kraft gewinnt. Auch der Ausdruck
Bauernopfer ist nicht für das Endspiel spezifisch,
beruhen doch alle Gambits auf Bauernopfern in der
Eröffnung. Ebenso ist der Ausdruck Doppelbauer nur
indirekt mit dem Endspiel verbunden: Bei Doppelbauern handelt es sich um
zwei Bauern, die auf der gleichen Linie stehen. Dies hat den
offensichtlichen Nachteil, daß sie einander nicht decken können
und daher beide der Unterstützung durch andere Figuren bedürfen.
Oft erweist sich ein in der Eröffnung oder dem Mittelspiel
entstandener Doppelbauer im Endspiel dann als die entscheidende
Schwäche, dennoch ist die Einreihung des Wortes unter das Endspiel
eher willkürlich. Das erstickte Matt ist ein besonderes taktisches
Motiv, das auf der Eigenschaft des Springers beruht, seine Wirkung auch
über andere Figuren hinweg ausüben zu können.
Der aus dem Lehrbuch von Dufresne und Mieses zitierte Satz findet
sich dort in dem Abschnitt über die reinen Bauernendspiele, der
Bauern gegen Bauern überschrieben ist (11. Aufl., 1926, S.
614). Die Ressentiments Schmidts gegenüber der Landbevölkerung
gehören aber in einen anderen Kommentar.
-
4.) (?) –: Nu seh’n Se, jetz fängt’s
Ihn’n selber an uffzuphall’n: auch beim blind=Spieln
weiß mann, daß man in 3 Zügn matt sein werde. /
Turnier: von Lanzn brechn. / Oder eine
GroßMeisterin, die simultan gegn 25 antritt – (der
Traum jeder beginnenden Spielerin) – siegesgewiß von B(r)ett zu
B(r)ett hüpft; 22 Mann matt macht; (und selbst nur dreimal
håucht: Ch geb åuf! ...) [175]
-
Dies ist eigentlich nur der Vollständigkeit der Stelle halber zitiert;
s(ch)achlich läßt sich hier kaum etwas anmerken. Zum Begriff
simultan vgl. oben die Anmerkung zu Zettels Traum.
-
FRAU DIREKTOR (munter & irden): »Mir iss – (Ich
sag’s offm) – Musik immer etwas entwertit
erschien’n: durch die Mögl/Häufichkeit
von WunderKindern. Musik & Schachspiel: meiner Erfahrung als
Pädagogin nach, sind die grundsätzlich unzulänglich im
Menschlich’n – da hilft der netteste Bakel nichts. –:
?«; (Sie sieht sich rundlichum: ? –) [245]
-
Eine weitere Abwertung des Schachspiels, wieder im Zusammenhang mit der
Musik (vgl. oben die Stellen aus Schwarze
Spiegel, Die Geschichte vom Riesen
Jermak und Zettels Traum).
Was hier als vorgebliches Urteil einer Pädagogin präsentiert
wird, erweist sich bei näherer Überlegung als kaum mehr als ein
Vorurteil. Das Phänomen der Wunderkinder ist natürlich nicht nur
auf den Gebieten Schach und Musik existent: Auch in der Malerei und unter
den Schriftstellern gibt es Beispiele dafür, daß bereits sehr
früh das entsprechende Talent entdeckt wurde. Es könnte sein,
daß die öffentliche Aufmerksamkeit bei außerordentlichen
musikalischen oder schachlichen Begabungen größer ist, wodurch
das Phänomen der Wunderkinder hier massiert aufzutreten scheint.
Sollte die Bemerkung dahin zielen, daß die Wunderkinder gerade dieser
Disziplinen grundsätzlich unzulänglich im
Menschlichen bleiben, so kann ich mich der Beobachtung nicht
erwehren, daß überhaupt sehr viele Menschen unzulänglich im
Menschlichen bleiben und der Prozentsatz unter den Künstlern nicht
höher oder niedriger zu sein scheint als unter allen anderen Menschen
auch.
Die Schachwelt hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr an das
regelmäßige Auftauchen von sehr jungen Großmeistern
gewöhnt. Das jüngste Beispiel: Der Ukrainer Sergej Karjakin,
geboren am 12. Januar 1990, wurde im Alter von 12 Jahren und sieben Monaten
Schachgroßmeister. Offensichtlich trägt der Einsatz von
Computern für Spiel und Training dazu bei, die Talente immer
früher und effektiver zu fördern, so daß diese heute
deutlich schneller an Spielstärke gewinnen. Es ist zu erwarten,
daß in Zukunft noch häufiger von sehr jungen Großmeistern
zu hören sein wird.
Abend mit Goldrand
[1975; BA IV/3]
-
ANN’EV’: »[
] Spielt Einer von Euch, daheim,
etwa Schach? (Ja?): dann iss Uns geholfn. –« [23]
-
Diese kryptische Frage wird im weiteren Text, soweit ich sehe, nicht wieder
aufgenommen. Offensichtlich nimmt das Geistwesen AnnEv an,
daß ein Schachspieler eine offenere und verständigere
Einstellung zur Gruppe der Weltflüchtlinge, die sie anführt,
haben wird. Warum dies so sein sollte, wird nicht weiter erläutert.
Eine Spekulation sei gewagt: Abend mit Goldrand ist das Werk, in
dem Schmidt zu seinen eigenen Anfängen und zu seinem damals
unveröffentlichten Frühwerk zurückkehrt, es wieder aufnimmt
und erfolgreich in das Spätwerk einflicht. Mag sein, daß auch
diese Stelle ein Reflex ist, der auf die damalige Hochschätzung des
Schachs rekurriert und es wieder in seinen Status als künstliche
Gegenwelt einsetzt. Einen Beleg für diese Lesart vermag ich aber nicht
anzuführen.
-
mit sich selber Schach spielen? Sie [d.i. AnnEv]
zieht das kleine SteckSchach zu sich her; legt d gekrümmt’n
li ZeigeFinger ans Kinn – ? – langsam wird ihr re Arm lang, und
das FingerBündelchen schwebt überm Brett – ? – spitzt
sich zu? (zum Läufer auf f 1?) – und tut dann einen schwarzen Zug:
– (ihren König, den König, zu schützen) [59]
-
Günter Jürgensmeier hat an diese Stelle die Spekulation
geknüpft, daß Abend mit Goldrand die Unsterbliche von
Anderssen und Kieseritzky als ein strukturierendes Element unter anderen
zugrunde liege. Jürgensmeier selbst betont, daß sich diese
Vermutung auf schwache Indizien stütze. [Vgl. Günter
Jürgensmeier: Verlarvte Arten der Mathematik. In: Bargfelder
Bote, Lfg. 204–206 (März 1996). S. 21–45; bes. S.
40–42.] Der einzige konkrete Hinweis ist eben jener
Läufer auf f1, mit dem sich aber wenigstens in der
Unsterblichen kein schwarzer Zug
ausführen läßt, weshalb Jürgensmeier das
schwarz in unglücklich umdeuten
muß. Auch ist gar nicht sicher, ob sich das dann im
Text nicht schon auf den nächsten Zug bezieht. Das alles ist mehr als
undeutlich und unsicher.
Mit sich selber Schach zu spielen ist
allerdings eine Kunst, die nur ganz wenige wirklich beherrschen. Vgl. dazu
oben die Anmerkung zu Die zehn Kammern des
Blaubart.
Ihren König, den König, zu schützen ist
natürlich nur indirekt eine Schachstelle. Direkt ist es eine
Anspielung auf Heinrich Heines Ballade Die Grenadiere, die dem
Protagonisten A&O wahrscheinlich deshalb in den Sinn kommt, weil es in
ihr eine Verszeile zuvor heißt dann steig ich gewaffnet hervor
aus dem Grab –, was sich sehr gut in die Lebens- und
Gedankenwelt dieser Figur einpaßt.
-
Was hab’ich sonst noch in L. profitiert? – Ahja:
SchachSpieln hab ich mir gelernt; wir hattn im Hause ein’n
jungn Töpfer & Ofensetzer wohn’n, Kurt Leubner
– (der 1. einer (kurzn) Reihe Intelligenter Handwerker, die
ich achtn gelernt habe; (dh as far as it goes)) – Wir habm
zusamm’m den ganzen MIESES=DUFRESNE durchgearbeitet.
–
-
Die Erinnerungen, die Schmidt hier seiner Figur Olmers zuschreibt,
dürften weitgehend autobiographisch fundiert sein, wobei sich der
genaue Anteil von Fiktion und Erinnerung derzeit nicht bestimmen
läßt. Man könnte sich die Freiheit nehmen anzusetzen,
daß auch Schmidt das Schachspiel in seiner Laubaner Zeit – das
L. im Text steht für die schlesische Stadt Lauban,
heute Luban –, also nach 1928 gelernt hat, wenn auch Olmers laut
seiner Erinnerung schon 1919, aber in ungefähr demselben Alter wie
Schmidt nach Lauban gekommen ist. Das Lehrbuch des Schachspiels
von Dufresne und Miese als eine der Hauptquellen für Schmidts
Schachwissen wurde ja inzwischen ausreichend oft erwähnt.
Julia, oder die Gemälde
[Fragment; Niederschrift 1979; BA IV/4]
-
Moritz RETZSCH, Schachspieler (geistvoll!) [31]
-
Das gemeinte Bild existiert in zahlreichen Varianten, die alle auf
seitenverkehrte Stiche nach einer Bleistiftzeichnung von Retzsch
zurückgehen. Das Motiv gehört in das weitere Umfeld der Retzschen
Illustrationen zum Faust, die ihn über Deutschland hinaus
bekannt machten. [Vgl. Barbara u. Hans Holländer: Schadows
Schachclub. Ein Spiel der Vernunft in Berlin 1803–1850. Katalog
zur Ausstellung, Berlin 5. Oktober bis 16. November 2003. Berlin:
Staatliche Museen zu Berlin Stiftung Preußischer Kulturbesitz, 2003.
S. 72.] Schmidt kannte das Bild von einer Reproduktion eines der Stiche im
Pfennig-Magazin, Bd.5
(1837), S. 357. Dort findet sich auch ein Text, der in etwa dem
Schmidtschen Epitheton geistvoll entspricht.
-
Gleich befiehlt ihm sein ÜberIch, die danebmstehende
Schachaufgabe zu lösen: !. – Er iss aber doch auch stark genug, das
Blättchen, da drüber steht Weiß zieht und gewinnt,
sofort wieder weg zu leg’n – wenn’s noch gelautet hätte
Matt in 2 Zügn; aber so – nee! [67]
-
Gewöhnlich unterscheidet man zwischen Schachaufgaben
und -studien: Während Schachaufgaben im engeren Sinne komplexe oder
scheinbar einfache Stellungen sind, in denen Weiß am Zug ist und in
einer geforderten Anzahl von Zügen matt setzt, präsentieren
Studien Endspiel-Stellungen, die mit einer allgemein formulierten, oft auf
den ersten Blick zum Charakter der Stellung scheinbar
widersprüchlichen Stellungseinschätzung verbunden sind wie z. B.
Weiß zieht und gewinnt. Warum der
Studienrat Ekkehard Rauch, dem diese Gedanken zugeschrieben sind,
Schachstudien nicht schätzt, verrät uns der Roman leider nicht.
Übergreifende Motive
Einige Leser Arno Schmidts werden doch vielleicht über die Menge des hier
aufgelisteten Materials überrascht sein. Das Schachspiel bleibt sicherlich
auch nach diesem Durchgang ein wenig relevantes Nebenmotiv, ist in der Textmasse
aber ähnlich präsent wie etwa Schmidts Geschimpfe über Bauern oder
Rechtsanwälte und dürfte in der Menge ungefähr den mathematischen
Motiven und Bemerkungen die Waage halten. Wie sich beim chronologischen Durchgang
durch die Einzelstellenkommentare zeigt, verändert sich Schmidts
Einschätzung des Schachspiels zwischen den Juvenilia und dem
Spätwerke deutlich: Während die Dichtergespräche im Elysium kommentarlos das
Schachspiel in den Rang anderer Künste, besonders aber der Literatur zu
erheben scheinen, sinkt es im Spätwerk zum wortlosen
Künstlein (s.o.) herab; nur in Abend mit Goldrand, das ja überhaupt auch ein Buch der
Rückwendung zu den eigenen Anfängen ist, könnte so sich so etwas
wie eine Ehrenrettung des Schachspiels andeuten.
Insgesamt schälen sich wohl drei immer wiederkehrende schachliche Motive
heraus, von denen zwei andeutend zu poetologischen Gedanken überleiten, ohne
daß diese poetologischen Fragmente weiter ausgeführt würden:
-
Dasjenige Motiv, das sich konsequent durch das gesamt Werk zieht,
eigentlich aber harmlos und wesentlich unvermittelt bleibt, ist das
eheliche Schachspiel. Das Motiv scheint bei Schmidt eng mit seinem Bild vom
Eheleben James Fenimore Coopers verbunden zu sein (vgl. Siebzehn sind zuviel!, Nachwort zu Coopers
»Conanchet« und Eines Hähers »:
Tué!). Wie wir aus dem Tagebuch Alice Schmidts wissen, spielten
auch Schmidts gegeneinander Schach, wobei Alice kein adäquater Gegner
ihres Mannes gewesen zu sein scheint. Inwieweit die Aufnahme
häuslicher Partien
in ein Tagebuch durch Coopers Berichte von Spielen gegen seine Frau
angeregt wurde, wird sich schwerlich klären lassen.
Erst spät, in Zettels Traum und
Die Schule der Atheisten, gibt Schmidt eine
explizite Begründung dafür, warum ihm das eheliche Schach so
wichtig erscheint: Es diene dem Aggressionsabbau zwischen den Ehepartnern.
Wie so viele thetischen Sätze bei Schmidt bleibt auch dies
unvermittelt, und es ist unklar, wie ernst man einen solchen Gedanken
nehmen und wieweit man sich mit ihm ernsthaft auseinandersetzen sollte. Da
eine solche Auseinandersetzung den hier gesetzten thematischen Rahmen
sprengen würde, bleibt er dem Interpreten und den Rezipienten zum
Glück erspart.
-
Das zweite wichtige Motiv, das in verschiedenen Brechungen aufscheint, ist
das Schachspiel als Gegen- oder Fluchtwelt. In Dichter
und ihre Gesellen werden die Spielregeln des
Schachspiels als Lebensregeln bezeichnet, was sich
natürlich vorerst einmal harmlos dahin deuten läßt,
daß die Schachregeln dem ernsthaften Schachspieler eben auch einen
Teil seiner Lebenszeit reglementieren. Beachtet man jedoch die
Beifügung geisterhaft hochgezüchtet, so
muß man Schmidt wohl doch einen tiefer reichenden Gedanken
zugestehen.
Gegen- oder Fluchtwelten sind bei Schmidt durch das ganze Werk hindurch
eines der zentralen Themen, ganz gleichgültig wie gewendet sie
erscheinen: Von der angedeuteten unterirdischen Vorwelt der Insel
und der Insel Felsenburg der Fremden über die IRAS der
Gelehrtenrepublik und die Unterwelt der Tina bis zur
Wolkeninsel in Abend mit Goldrand (die direkt aus den
Juvenilia in dieses Spätwerk hineinschwebt) – pars
pro toto – findet sich beinahe in jedem längeren Prosatext eine
positive oder negative Parallel- oder Gegenwelt. Als die Gegen- und
Fluchtwelt schlechthin aber erscheint die Literatur selbst, die ein Pendant
zur ungeliebten und ungelebten Realität bildet:
Wir?): Wir lebm hier einträchtich wie die
Zoophyt’n: lesn gute Bücher; (eine BuchGestalt ist ja fast schon
ein Beinah=Lebendes) [
]. Merks: Wir sind doch keine Naturalistn!):
»Nur die Phantasielosn flüchtn in die Realität; (und
zerschellen dann, wie billich, daran.)« [BA IV/3, 188] Auch
dem Schachspiel scheint wenigstens ein Teil dieser Zweitwelten stiftenden
Kraft zugestanden zu werden, wenn dieser andere Weg [vgl.
BA I/1, 54] später auch oft kleingeredet zu werden scheint (s.o.). Am deutlichsten ausgeführt findet sich dieser
Gedanke nun leider nicht in einem eigenen Text von Arno Schmidt, sondern in
einer seiner Übersetzungen. Jedoch hat Schmidt zum Glück eine
Selbstrezension dieser Übersetzung geliefert, und so wissen wir,
daß er diese Variation auf die Zweigsche Schachnovelle
wenigstens für ein herausragendes Stück der Sammlung hielt (vgl.
Die 10 Kammern des Blaubart).
An den nicht wirklich ausgeführten Gedanken vom Schachspiel als
Fluchtwelt knüpft sich wahrscheinlich auch noch der poetologische
Einfall, das Schachspiel könne dem Schriftsteller als handwerkliches
Hilfsmittel nützlich sein: das SchachSpielen; dem
viele Schriftsteller zugetan sind; (anschein’nd ohne es als Aufbau=,
als KonstruktionsÜbung zu erKennan – !) (Die Schule der Atheisten) Auch dies bleibt im Einfall
stecken, ohne weiter ausgeführt zu werden. Natürlich
läßt sich spekulieren, hier sei gemeint, daß der Autor
seine Romanfiguren ähnlich miteinander interagieren läßt
wie der Schachspieler seine Schachfiguren: Sie erscheinen gelenkt von einem
fremden Willen, der versucht, die verschiedenen Kräfte der Figuren zu
einem Gesamtbild zusammenwirken zu lassen, um einen bestimmten Endzustand
zu erreichen. Sowohl die charakterliche Identität als auch die
letztliche Abhängigkeit der Figuren von einem über sie waltenden
Geschick fänden in diesem Bild ihre schöne Entsprechung. Selbst
das Gegenspiel des schachlichen Opponenten könnte als
Widerständigkeit des Stoffes gegen seine Formung begriffen werden.
Doch muß all das Spekulation bleiben, da Schmidt auch diesen Einfall
unvermittelt stehen läßt.
-
Am auffälligsten und originellsten von allen schachlichen Motiven bei
Schmidt ist aber wahrscheinlich das Bild von der halbierten
Schachpartie, also einer Partie von der nur die weißen,
respektive die schwarzen Züge mitgeteilt werden und die Figuren so
gegen unsichtbare Kräfte und Zwänge anzukämpfen scheinen.
Das Motiv wird in den Dichtergesprächen im
Elysium als Rätsel-Aufgabe geboren, als ein fiktiver
Wettkampf zwischen Paul Morphy und Edgar Allan Poe; zu dieser konkretesten
Variante des Motivs ist im Einzelstellenkommentar das nötige gesagt
worden, das hier nicht wiederholt werden muß.
Als Gleichnis taucht das Motiv zum ersten Mal 1955 in den Berechnungen II auf. Schmidt beschreibt mit diesem
Bild das, was er ein halbiertes LG [= Längeres
Gedankenspiel; vgl. BA III/3, 277] nennt. Dem liegt der Gedanke zugrunde,
daß sich eine bestimmte Sorte von Literatur dadurch
aufschlüsseln lasse, daß man mit der Fiktion die zugehörige
Realitätsebene im Leben des Autors parallelisiere. Der fiktionale Text
wird auf diese Weise als eine Hälfte einer imaginierten Totalität
von Welt und Literatur, doch liefert er eben nur die eine Seite dieses
Spiels: Nur die weißen respektive schwarzen Züge. Interessant an
diesem Gedanken ist, daß er im Grunde ein mechanistisches Modell der
Literaturentstehung widerspiegelt: Wirklichkeit und Fiktion hängen
über ein strenges, sie vermittelndes Regelwerk miteinander zusammen,
wobei eine Seite immer nur soviele Freiheiten aufweist, wie die andere
Seite zugesteht. Das räumt aber auch zugleich die Möglichkeit
ein, daß die Fiktion auf die Wirklichkeit zurück wirkt, was ihr
– streng genommen – nur dann gelingen kann, wenn diese
Wirklichkeit selbst eine Fiktion ist. In seinem Roman Kaff auch Mare
Crisium wird dieses komplexe Modell von fiktiver Wirklichkeit und
überbauender Fiktion schließlich in die Schreibpraxis umgesetzt.
Nachdem Schmidt das Motiv 1957 gleich in zwei Texten und beides Mal im
Zusammehang mit Goethe verwendet (vgl. Goethe und einer
seiner Bewunderer und Literatur: Tradition
oder Experiment?), taucht es erst sechs Jahre später noch ein
letztes Mal auf, allerdings offenbar inzwischen zu einer Phrase
verschliffen: In Unsterblichkeit für
Amateure rät Schmidt jedem Menschen, als reine
Scharfsinnsübung zu versuchen, diese Aufgabe von einstmals ungeheuerlicher Schwierigkeit zu lösen.
Schließlich möchte ich keinem, der bis hierhin vorgedrungen ist,
einen Reflex vorenthalten, den dieses Motiv bei einem jüngeren
deutschen Autor ausgelöst hat. Im dem Roman Dehli von Marcus
Braun (Berlin: Berlin Verlag, 1999) findet sich neben vielen anderen
Anspielungen, die deutlich machen, daß Marcus Braun unter anderem ein
Kenner des Werks von Arno Schmidt ist, auch folgende Passage (S. 168 f.):
Der Fluginsektenforscher erzählte, er sei ein großer Liebhaber
des Schachspiels und außerdem – dies sei eine Folge seiner
Beschäftigung mit den Naturwissenschaften – erstelle er
Schachaufgaben. Allerdings nicht im herkömmlichen Sinne. Seine Methode
bestehe darin, nur die Züge des einen Spielers mitzuteilen, und das
bis zum Ende einer Partie; die mutmaßlichen Züge des anderen
seien sinnvoll zu ergänzen.
Eine noch schwierigere, von vielen aber auch für einfacher gehaltene
Aufgabe wäre so formuliert: Von einem Schachbrett denke man sich die
Hälfte weg; zum Beispiel die schwarzen oder die weißen Felder
oder die Reihe 1–4 oder a–d, egal; die unsichtbaren Stellungen
und Bewegungen seien zu ergänzen.
»Goester, was halten Sie für schwieriger?«
In Wirklichkeit existierten diese Aufgaben nicht, es handelte sich
bloß um Ideen des Fluginsektenforschers, von denen er gern sprach,
aber nichts verstand.
© Marius Fränzel, 2003/2004
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